Zu Fuß auf Entdeckungsreise

Mit Christian Sauer „Draußen gehen“

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Sauer, der als selbständiger Coach und Dozent gewohnt sein mag, Vorgaben zu machen und Menschen lehrend zu begegnen, hat sich an ein Buch gewagt, das schlicht animieren möchte „zu gehen“. Es geht nicht um ein „Wohin“-gehen oder „Wie lange“ oder „Wofür“. Sein „Draußen gehen“ ist eine Ermunterung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ohne Regeln. Unter den über Kies, Stein und Waldboden laufenden Füßen verschwindet der theoretische Fokus. Die individuelle Erfahrung steht im Mittelpunkt.

Das Laufenlernen nimmt in jeder Biografie einen wichtigen Stellenwert ein. Die ersten Schritte eines Kindes bleiben bei allen, die sie bezeugen, in bleibender Erinnerung. Mit Spannung erwartet, mit Staunen beobachtet, von liebevoll schützenden Händen begleitet, um einen bösen Sturz zu vermeiden. Als Erwachsene hingegen erscheint uns der Marsch zu Fuß zu langsam, um von A nach B zu kommen. Es muss schnell gehen. Wir fahren. Und mit dem Fahren kommt das Sitzen, bestenfalls auf dem Rad, oft jedoch in Auto, Bus oder Bahn. So kommt das Gehen als müßigere Art sich fortzubewegen altbekannt und doch irgendwie exotisch daher. Gehen? Freiwillig? Einfach „nur so“? Ja, genau dafür will der Autor seine Leser gewinnen. Ein bisschen soll es wieder werden wie damals als wir anfingen, laufend die Welt zu entdecken, als wir einfach nur neugierig waren auf unsere Umgebung.

Um dem nahe zu kommen, bietet der Autor zwei Arten von Texten an. Erfahrungsbeschreibungen, die nicht selten poetischen Charakter haben, und gedankliche Nacharbeiten, die erkunden wollen, warum das Gehen diese oder jene Auswirkung hatte. Das in drei Teile gegliederte und mit insgesamt 166 Bruchstücken versehene Buch ist kurzweilig zu lesen. Es folgt keinem notwendigerweise einzuhaltenden, streng chronologischen Plan, sondern animiert zum Stöbern. Das ist eine Einladung zum „Spiel“, bei dem bewiesenermaßen die Kreativität in Schwung kommt. Auch Layout, Satz- und Farbgestaltung sind spielerisch. Die Erfahrungskapitel sind in leicht veränderter Farbgebung, in minimal hellerem Grün und etwas nach rechts herausgestellt abgedruckt. Abstrakte, flächige Illustrationen von Franca Neuburg bestechen künstlerisch in Farbe und Form. Ihre Schlichtheit lässt genügend Raum für eigene innere Bilder.

Den Auftakt zum Draußen gehen bildet Sauers Wanderung zu einer Flusslandschaft. Je weiter er den sanften Biegungen der Bille, einem Fluss in Norddeutschland, folgt, umso mehr „mischt“ sie sich „ein“, umso mehr fallen die Großstadt in der Nähe und die Gedanken von ihm ab. So wird der Aussichtspunkt auf einer Anhöhe gleichsam zum Ort, an dem angelangt er genug Raum in sich gesammelt hat, dass er frei entscheiden kann, denken oder lieber nicht. Und beim Auftauchen dieses freien Zwischenraums ahnt der Leser vielleicht schon etwas von dessen kreativem Potenzial.

Wie geht es weiter? Nun, zunächst mit einer „Warnung“: „Falls Sie die letzten Seiten langweilig fanden, […] viel spannender wird es nicht.“ Jeder Leser, der außerordentliche, packende oder theoretische Darstellungen zum Gehen erwartet hat, kann nun das Buch getrost aus der Hand legen. Alle anderen, die sich auf das Spiel, auf das Mitmachen und Dabeisein einlassen wollen, werden an dieser Stelle womöglich schmunzeln.

Sauer nimmt uns nicht nur mit auf das kleine Geh-Abenteuer vor der Haustür, sondern beschreibt auch größere Wanderungen, wie zum Beispiel seine Fußwanderung durch Rom und über die Alpen an den Comer See. Immer wieder hält er ein kleines Plädoyer für das rasche und kontinuierliche Gehen, das auf Stehenbleiben verzichtet. So kommt der Geist in einen natürlichen und kreativen Flow, jenseits des analytischen und nicht selten festgefahrenen Denkens. Wie weit dabei die Strecken sein sollten, dafür gibt es kein Maß. Das muss man ausprobieren. Man geht, bis „Gehen zur Mitte des Seins geworden [ist], Sinn und Zweck in sich selbst“. Und dabei macht der Autor seinen Lesern Mut, dass sie sich auch an Weitwanderungen über mehrere Tage oder gar Wochen heranwagen dürfen:

Da die körperlichen Hürden niedriger sind als viele vermuten, vertieft sich die geistig-seelische Erfahrung des Gehens. Weitwanderer berichten, dass sich die Wahrnehmung nach innen und außen noch einmal verdichtet – zu einem ,Prozess zunehmender ganzheitlicher Selbstwahrnehmung‘.

Christian Sauer kommt dem Geheimnis des Gehens auf die Spur, indem er das innen Erlebte an das draußen Erfahrene knüpft. Dabei macht er die Entdeckung, „bessere Entscheidungen“ treffen zu können, wenn er die Gedanken beim Gehen hinter sich lassen kann. Der Eintritt in eine Erfahrungswelt, die sich nicht nur im Kopf befindet, sondern zwischen den Zehen am Boden und den Wolken am Himmel, vermittelt Weisheit und Kreativität, die aus Achtsamkeit und Bewusstheit resultieren. Bei Sauer liest es sich so, dass das Gehen das „zwanghafte Nachdenken verhindert und uns mit zwei wunderbaren Regulierungssystemen in Kontakt bringt: dem eigenen Erfahrungsgedächtnis (sozusagen der inneren Weisheit) und einer Landschaft (einem herausfordernden äußeren Gegenüber)“. Was wir seiner Beschreibung nach erfahren sind Momente, die auch in Geh-Meditationen erlebt werden. Eine Übereinstimmung zwischen außen und innen. Das Mitten-in-der-Landschaft-sein ist zugleich das Mitten-in-sich-angekommen-sein. Die Freiheit, die dabei entsteht, löst sogar tiefe Freude und Glück aus.

Nur mit dem Weg, der Landschaft und den Menschen unterwegs muss ich mich jetzt auseinandersetzen. Und mit mir selbst und meinem Begleiter. Das fühlt sich leicht an.

Jedoch schildert Sauer auch, wie nah Schrecken und Schönheit ein und derselben Landschaft beieinander liegen können. Extreme Wetterstürze in den Bergen und die falsche Ausrüstung, zu wenig Proviant oder schlammige Wege können es trotz aller Voraussicht erfordern, rasch und nachhaltig die Strategie zu ändern. Solche Erfahrungen vergleicht der Autor mit dem Umgang unvorhersehbarer Schwierigkeiten innerhalb kreativer Schaffensprozesse. Selten laufen alle Projekte störungsfrei ab und es hilft, sich dessen bewusst zu sein.

Wir müssen auf den Wert unserer Ideen vertrauen, uns gleichzeitig aber der Realität stellen.

Die Krise vor dem berühmt berüchtigten leeren Blatt gilt es mit Werkzeugen anzugehen, die einem vielleicht schon in der Vergangenheit geholfen haben. Das Gehen gehört für Sauer selbstverständlich dazu. Auch Gespräche und Informationen können dienlich sein. Bei allem geht es darum, im Fluss zu bleiben oder wieder hinein zu kommen; sich trotz der Schwierigkeiten auch genügend Leichtigkeit und Raum zu bewahren, um Alternativen gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. „Wir müssen umsichtig kommunizieren und immer in Bewegung bleiben, sonst fahren wir uns fest. Gelingt uns das, dann steuern wir mit Ehrgeiz und Augenmaß am Ende ins Ziel.“ Damit verlangen sowohl das Gehen in der Natur als auch die Planung und Umsetzung kreativer Projekte gleichermaßen Mut und Demut. Die adäquate Einschätzung der eigenen (Schaffens-)Kraft ist dabei wichtig.

Für Sauer ist das „Draußen gehen“ eine „Lebensweise“, kein Sport. „Draußen gehen relativiert Probleme, eröffnet Perspektiven. Es führt uns raus aus jener Problem-Trance, in die uns Arbeit, Projekte, Beziehungen, Kinder und Eltern immer wieder versetzen. Zwei Wörter reichen, um das zu beschreiben: Gehen öffnet.“ Wer wandert, muss sich zwangsläufig einstellen lernen: auf das Wetter, auf Vergessenes oder Verlorengegangenes, schlammige und unpassierbare Wege, Schmerzen usf. Dies erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit und größtmögliche Offenheit und Flexibilität im Umgang mit sich selbst und der jeweiligen Landschaft. All das wird da draußen geübt und ermöglicht ein besseres Krisenmanagement; selbstverständlich auch in schwierigen Kreativ- und Lebensfragen.

Obendrein erfährt der Leser auf natur- und wandersoziologischem Gebiet einiges Erstaunliches. So zum Beispiel, dass wir noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein täglich zwischen 8 und 25 Kilometer zu Fuß gegangen sind. Etwas, das wir uns heute außerhalb geplanter Touren vielleicht kaum mehr vorstellen können. Alles in allem bietet dieses Buch gute Gründe und praktische Anregungen, wieder (mehr) nach draußen zu gehen. Es macht Lust Routen zu entdecken, die auch unwegsam sein dürfen, um sich von ihnen herausfordern zu lassen. Denn statt eines Plädoyers für genussvolles Wandern auf breiten und ausgeschilderten Wegen enthält dieses Buch zahlreiche Motivationen, eigene Pfade zwischen Wind und Wetter zu gehen, auf denen man sich selbst kennen und einschätzen lernt. Gesundheit, Genuss und Glücksgefühle inklusive. Und das Wichtigste: Das Ankommen bei sich selbst.

 

Titelbild

Christian Sauer: Draußen gehen. Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur.
Mit 20 farbigen Illustrationen von Franca Neuburg.
Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2019.
176 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783874399289

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