‚Etwas anders sagen‘ bedeutet ‚etwas anderes sagen‘
Mareike Gronich sondiert das politische Erzählen bei Wolfgang Koeppen und Uwe Johnson
Von Karl-Josef Müller
Die vorliegende Untersuchung hat mit der Analyse und Interpretation von Wolfgang Koeppens Treibhaus und Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim einen Vorschlag gemacht, den Fokus der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verhältnis von Politik und Literatur stärker auf die politische Dimension der Form – insbesondere der narrativen Rhetorik und der sprachlichen Gestaltung – von Literatur zu richten.
Mareike Gronich distanziert sich von Konzepten einer politischen Literatur und Kunst im Sinne direkter Parteinahme, wie sie Jean Paul Sartre und Bertolt Brecht propagieren. Abgewiesen wird von Gronich auch Adornos „Plädoyer für den ‚Ausschluß jeder konkreten Beziehung zwischen Literatur und politischer Praxis‘ (…).“ Allerdings rückt sie ihre Überlegungen dann doch in die Nähe der beiden erstgenannten Autoren und distanziert sich gleichzeitig von Adorno: „Während sich die Studie also von Adornos Kritik des literarischen Engagements eher abgrenzt, ist ihre theoretisch-systematische Anlage von einigen Elementen der von Sartre und Brecht entwickelten Konzeptionen engagierter bzw. politischer Literatur grundiert.“
In drei Thesen umreißt die Autorin, worum es ihr geht. Die erste These lautet, die „politische Qualität“ der von ihr in den Blick genommenen Romane liege „wesentlich in deren Form und im Zusammenspiel zwischen dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘ des Erzählens begründet.“
Die zweite These besagt, dass literarischen Texten wie den von Gronich untersuchten Romanen eine Bedeutung „für die Reflexion und Konstituierung des Politischen“ zukomme und dass diese Bedeutung eher in der besonderen ästhetischen Form der Romane gründe als in deren bloßem Inhalt.
Die dritte These behauptet, die „politische Dimension“ der Romane entfalte sich durch deren „spezifische Verknüpfung von Form und Inhalt“, durch „Deutungsoffenheit, Mehrstimmigkeit, narrative Vielschichtigkeit und Pluralität der Perspektiven“, dies allerdings verstanden nicht als ästhetisches Spiel, sondern als notwendige Voraussetzung für eine „kritisch-reflexive und zugleich konstruktive Bezugnahme auf das Politische“. Die avancierte Form der Romane von Koeppen (1953) und Johnson (1961) stellt somit keine ästhetische Spielerei dar, sie ist vielmehr zwingend notwendig, soll sie doch beim Leser dazu führen, „die eigenen Entscheidungen zu revidieren und die sie bedingenden Normen, Konventionen und Wahrnehmungsschemata zu hinterfragen.“ Letztlich bestehe die „Funktion narrativer Strukturen“ darin, festgefahrene „Wahrnehmungsschemata“ des Politischen zu überwinden und zu überschreiten. Der Roman von Johnson diene nicht dazu, „eine konkrete Weltanschauung als falsch auszustellen und diese durch eine andere, vermeintlich legitimiere zu ersetzen“, er rege den Leser vielmehr dazu an, „sich Ideologien zu entziehen und sich ein von ideologischen Prägungen möglichst unabhängiges Bild der Welt zu machen.“
Bevor Gronich sich den Romanen zuwendet, skizziert sie auf über 60 Seiten den theoretischen Hintergrund, mit dessen Hilfe die literarischen Texte seziert werden sollen. 296 zum Teil sehr umfangreiche Anmerkungen belegen den hohen Anspruch dieses Theorie-Kapitels, sie erschweren allerdings auch die Lektüre.
Die Frage nach der Form der Romane und nach deren Bedeutung für ihren Inhalt liegt auf der Hand. Warum schreibt besonders Johnson derart kompliziert, warum baut er seinen Lesern immer wieder Barrieren auf, anstatt in einfachen Worten zu schildern, worum es ihm geht? Auf diese Fragen verspricht die Arbeit von Gronich Antworten. Dabei stellt sich der Eindruck ein, diese Antworten seien nur für ein ausgesuchtes Fachpublikum gedacht und nicht für neugierige Leserinnen und Leser.
In ihrer Danksagung erwähnt die Autorin den Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart, der sie daran erinnert habe, „dass ‚etwas anders sagen‘ auch ‚etwas anderes sagen‘ heißt“. Diese Beobachtung benennt die Frage nach den stilistischen Besonderheiten der beiden Romane von Johnson und Koeppen. Denn nur, wenn deren literarischer Stil etwas zum Ausdruck bringt, was ohne diese ästhetischen Mittel nicht zur Erscheinung gekommen wäre, verbinden sich Form und Inhalt zu einem gelungenen Ganzen.
Die Unterscheidung von Braungart lässt sich allerdings auch auf die Frage beziehen, mit welchen sprachlichen Mitteln ein wissenschaftlicher Text seinen Gegenstand zu beschreiben und zu ergründen sucht. Gronich geht davon aus, dass ein theoretisches Rüstzeug unerlässlich ist, um literarische Texte zu erschließen. Anstatt eigene Aussagen über ihren Gegenstand zu treffen, bezieht sich Gronich auf die Autorität der von ihr rezipierten Theorien: „Ausgehend von den klassifikatorischen Überlegungen von Martínez und Scheffel zur Stimme lässt sich die Erzählinstanz im Treibhaus als eine extradiegetisch-heterodiegetische, unpersönliche und insgesamt nur schwach markierte Erzählstimme beschreiben.“ Das Ziel der Autorin scheint es zu sein, zu zeigen, wann sich eine Beobachtung an den Texten von Johnson und Koeppen mit den von ihr zitierten theoretischen Begrifflichkeiten etikettieren lässt.
Dies führt zu einer abstrakten Betrachtungsweise. Wer mit den von Gronich herangezogenen theoretischen Grundlagen nicht vertraut ist, wird ihren Gedankengängen kaum folgen können. Dies wäre zu verschmerzen, führte der theoretische Aufwand dazu, die literarischen Texte in ihren ästhetischen und inhaltlichen Besonderheiten sichtbar zu machen. Dies ist aber nicht der Fall.
Gronich rückt Keetenheuve, die zentrale Figur in Koeppens Roman, in die Nähe antidemokratischer Tendenzen der Weimarer Republik, wie sie unter dem Begriff der Konservativen Revolution bekannt sind: „Folgt man dieser narrativen Gegenbewegung, wird deutlich, dass Keetenheuves Kritik von einem seit dem Kaiserreich verbreiteten, von Carl Schmitt prominent vertretenen pejorativen Politikverständnis geprägt ist, das Politik als ‚schmutziges Geschäft‘ und als ‚Quasselbude‘ diffamiert.“ Keetenheuves politisches Bewusstsein sei „von anachronistischen und politisch höchst problematischen Wahrnehmungs-, Denk- und Klassifikationsschemata bestimmt“.
Als Keetenheuve sich in eine Besuchergruppe des Plenarsaales mischt, bezeichnet ein Besucher das Parlament als Quasselbude. „‘Na, meinen Sie etwa nicht?‘, sagte der Mann und blickte Keetenheuve herausfordernd an. Keetenheuve hätte erwidern können: Ich weiß nichts Besseres, selbst dieses Parlament ist das kleinere Übel. Er sagte aber: ‚Halten Sie ihr verfluchtes Maul!‘“ Begeisterung für das Parlament ist Keetenheuve fremd, sein Bekenntnis zur Demokratie dennoch eindeutig.
Gronich spricht von den „Defizite[n] der (Welt-)Wahrnehmung des Protagonisten“ Keetenheuve und erläutert diese anhand eines längeren Zitates. In dieser Textpassage wird das Parlament gegen Bürger, die gegen die Wiederbewaffnung demonstrieren, „mit Waffen, Wasserwerfern und Spanischen Reitern“ abgeriegelt. Keetenheuve, so Gronich, diskreditiere diese Demonstranten, indem er ihr Aufbegehren als „eigentlich dürftige Demonstration“ bezeichne, „weil sie etwas von der dumpfen Schicksalsergebenheit des wirklichen Volkes zeigte (…).“ Gronich folgert: „Die Möglichkeit, dass die Protestierenden aus eigenem politischen Antrieb handeln, dass sie also demonstrieren, weil sie mit der Politik ihres Landes nicht zufrieden sind, zieht Keetenheuve gar nicht in Betracht.“ Und weiter: „Für Keetenheuve ist und bleibt das Volk eine dumpfe und desinteressierte Masse, mit der kein Staat zu machen ist.“
Weiterhin bemerkt die Autorin, es habe sehr wohl eine breite Diskussion um die Wiederbewaffnung gegeben, doch diese habe Keetenheuve weder „erfreut“ noch „hinsichtlich der Zukunft des Landes zuversichtlich“ gestimmt.
Keine zehn Jahre nach dem Ende eines Krieges und der systematischen Ermordung von Millionen Menschen, die ohne diesen Krieg nicht möglich gewesen wäre, soll Deutschland, als Deutsches Reich verantwortlich für all diese Toten, wiederbewaffnet werden. Mit diesem Tatbestand kann und will Keetenheuve sich nicht abfinden – und muss doch gleichzeitig erkennen, dass sein Widerstand sinnlos ist. Wer die daraus resultierende Verzweiflung als Mangel an Optimismus angesichts des doch vorhandenen Widerstandes gegen die Wiederbewaffnung deutet, hat Koeppens Text sehr gründlich missverstanden.
In Uwe Johnsons Roman soll Karsch, ein westdeutscher Journalist, im Auftrag der DDR eine Biographie des Radrennfahrers und Vorzeigesportlers Achim schreiben. Der Auftrag scheitert, weil Karsch nicht bereit ist, sich den ideologischen Vorgaben seiner Auftraggeber zu beugen. Dennoch gelingt es dem Roman nach Ansicht von Mareike Gronich, die Lebenswirklichkeit in der DDR erstmals ohne ideologische Vorbehalte, wie sie im Westen nach ihrem Dafürhalten kennzeichnend waren, in den Blick zu nehmen. Denn es könne sich „lohnen“ und wäre „prinzipiell auch möglich […], den anderen, nicht-ideologischen Blick auf die DDR – und vice versa vom Osten auf den Westen – zumindest einmal zu versuchen.“ In einer Anmerkung hierzu heißt es: „Das allerdings mit der sehr wesentlichen Einschränkung, dass Johnsons Bücher in der DDR nicht erschienen sind und deswegen nur wenigen Leser*innen zugänglich waren.“
Zuzustimmen ist der Autorin darin, dass Johnson es vermeidet, in seinem Roman das politische System der DDR frontal und offen anzugreifen und die damals gängigen Denkmuster erneut zu bedienen. Typisch für sein Verfahren sind beinahe winzige Andeutungen, etwa wenn Achim euphemistisch die Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee bei Kriegsende anspricht: „‘Es ist doch wichtiger, ja? von heute aus gesehen! daß die Rote Armee uns vom Faschismus befreit hat […] und nicht daß sie ab und zu mal sich hingelegt haben mit einer Frau […].‘“
Gronich erweckt den Eindruck, der Roman stelle das Gesellschaftssystem der DDR nahezu gleichwertig neben das der BRD. Der Radsport gerät dabei kaum in den Blick. Achim ist ein begeisterter Radfahrer, der ohne geeignetes Material bei seinem ersten Rennen auf sich aufmerksam macht. Er ist ehrgeizig, er möchte sich als Rennfahrer verbessern und gerät so unter den Einfluss des Staates. Der Staat baut ihn zum Vorzeigesportler auf – mit allen Privilegien, die mit diesem Status verbunden sind. Und natürlich wird er Mitglied der Volkskammer, wie Täve Schur, sein Pendant in der Wirklichkeit: „Schur gehörte neben 22 weiteren Personen zu den Kandidaten für eine Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports. Schurs Nominierung stieß beim Verein für Doping-Opfer-Hilfe auf Widerstand. So kritisierten Ines Geipel, Andreas Krieger und andere DDR-Dopingopfer in einem öffentlichen Brief, dass Schur eine „zentrale Propagandafigur des kriminellen DDR-Sports gewesen sei, der mehr als 30 Jahre Abgeordneter in der Volkskammer der DDR war“.
Der westdeutsche Journalist Karsch scheitert an dem Anspruch seiner Auftraggeber, ein klinisch reines Bild eines sozialistischen Spitzensportlers zu entwerfen. Freilich bedient sich Uwe Johnson dabei einer subtilen Erzählweise; der ideologische Holzhammer ist ihm fremd.
Vielleicht führt der Blick auf eine Nebenfigur des Romans in dessen Zentrum. Nachdem der Rahmen von Achims Tourenrad gebrochen ist, muss Ersatz her. Keiner kann helfen, „bis er zu einem kam, bei dem er überhaupt noch nicht gewesen war, den er mit keinem Recht um Hilfe bitten durfte.“ Dieser Eine wird im Roman durchgängig als „der Meister“ tituliert, ein mürrischer Alter, der sein Handwerk versteht und deshalb später von Achim als Mechaniker für seinen Rennstall angeheuert wird: „Als dem Meister nicht mehr Lehrlinge erlaubt wurden für die Werkstatt, war Achim schon obenauf und holte ihn dahin als Mannschaftsmechaniker […].“ Achim und den Meister verbindet die Leidenschaft für die Mechanik der Fahrräder; der Rennfahrer erkennt in diesem Relikt der ‚kapitalistischen‘ Gesellschaftsordnung eine Hingabe an seine Arbeit, die es im neuen System so nicht mehr zu geben scheint: „Wo wärt ihr ohne seine Arbeit, die ist gut, aber er kann doch nicht mehr lernen wie wir denken.“ Die DDR bekämpfte fast jede Form der Eigeninitiative. Ein selbständiger Handwerker war den Gefolgsleuten Stalins ebenso suspekt wie eine eigene Meinung, wie sie Karin, die Freundin von Achim und frühere Lebensgefährtin von Karsch, mit ihrem Protest gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft vertritt: „Karin versucht in einer auf Konformität angelegten Gesellschaft sie selbst zu bleiben, indem sie ihrem Protest Ausdruck verleiht.“
Liest man das ganze Romankapitel „Was hatte sie denn für Sorgen?“, aus dem Kristin Felsner zitiert, kann man ihrer Einschätzung nur zustimmen und diese auf den Autor und politischen Menschen Uwe Johnson übertragen. Bereits als Neunzehnjähriger hat Johnson mit seinem posthum veröffentlichten Roman Ingrid Babendererde seinem Widerstand gegen die Verlogenheit des DDR-Regimes Ausdruck verliehen.
Von all dem ist in Gronichs Dissertation so gut wie nicht die Rede. Die Autorin ist an dem Anspruch gescheitert, zu zeigen, was in den beiden Romanen in politischer Hinsicht anderes gesagt wird, indem sie es anders, nämlich literarisch, sagen.
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