Angst, Ekel, Glück und Zorn

Emotionen in der Feldforschung

Von Tobias WeilandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Weilandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit galten Emotionen in den empirischen Wissenschaften als störend, da sie Beobachtungen und Ergebnisse verzerrten und so schlimmstenfalls die Resultate unbrauchbar machten. Diese Überzeugung geht auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis zurück, nach dem allein die „reinen” und damit „objektiven” Erfahrungsdaten für wissenschaftliche Schlussfolgerungen herhalten sollten. Erst langsam richtet sich der Blick in der Wissenschaftspraxis auch auf die Emotionen. Einen Beitrag dazu soll Emotionen auf Expeditionen. Ein Taschenhandbuch für die ethnographische Praxis des Literaturwissenschaftlers Oliver Lubrich und des Sozial- und Kulturanthropologen Thomas Stodulka liefern. Der vorliegende Band ist das Resultat der Erkenntnisse der Forscher*innengruppe des interdisziplinären Projektes Die Affekte der Forscher, in dessen Rahmen neue Methoden zur Erhebung und Analyse von Emotionen in der Feldforschung erarbeitet und auf ihre Praxistauglichkeit hin geprüft wurden.

Gerade im Falle der Feldforschung, so ist in der Einleitung zu lesen, blieben regelmäßige emotionale Reaktionen nicht aus, bringe diese Praxis doch „existentielle Herausforderungen” mit sich. Das Spektrum der dabei auftretenden Gefühle ist enorm: Angst, Ekel, Freude, Glück, Scham und Zorn sind nur einige der hier zu nennenden mentalen Zustände, die Ethnolog*innen und Verhaltensforscher*innen häufig zusetzen, sie aber in ihrer Arbeit auch bestärken und motivieren können.

Bereits ein Blick in ethnologische und ethologische Klassiker zeigt, dass es so ganz ohne Beschreibungen von emotionalen Reaktionen auch im Rahmen eines positivistischen Wissenschaftsverständnis dann doch nicht geht:

Wie groß ist die beschriebene Freude Jane Goodalls als sie im Gombe Nationalpark den Nachwuchs der Schimpansin Olly beobachtet. Diese Freude, beschrieben in Wilde Schimpansen, schlägt einige Tage später in Grauen um, als sie erkennen muss, dass das Schimpansenjunge an Polio erkrankt ist und, vernachlässigt von der Mutter, kurz darauf stirbt. Ein „Gefühl des Hasses auf die Schimpansen” erfährt sie wiederum, als der ebenfalls an Kinderlähmung leidende Menschenaffe McGregor von Artgenossen wüst zugerichtet wird.

Sehr verhalten äußert der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in Traurige Tropen seinen Ekel beim Anblick der weißen, dicken koro-Maden, die das Volk der Kaingang im brasilianischen Mato Grosso gern verspeist und die er nun aus Forschungsgründen selbst probieren muss: „Unter dem gleichmütigen Blick des Indianers beiße ich meiner Beute den Kopf ab; aus dem Körper quillt ein weißliches Fett, dass ich nicht ohne Zögern koste: es hat die Konsistenz und Feinheit von Butter und den Geschmack von Kokosmilch.”

Von einer Melange aus Gefühlen ist der Völkerkundler Edward E. Evans-Pritchard überwältigt, sodass er kurz seine selbstbeherrschte Rationalität einbüßt, als er im Sudan zu nächtlicher Stunde einem schwebenden „Hexenlicht” folgt. Ein solches Licht stellt in der Auffassung des Volkes der Azande, die Evans-Pritchard erforschte, die Emanation des Körpers eines Hexers dar. Erst am Morgen verrichtet die wissenschaftliche Vernunft wieder ihre Arbeit und der Ethnologe findet mögliche rationale Erklärungen. Nachzulesen ist dieses Geschehen in seiner Untersuchung Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande.

Eine große Bandbreite an Emotionen behandelt Johannes Fabian in der Monographie Im Tropenfieber, wo er den vorwissenschaftlichen Anfängen der Ethnographie und Anthropologie emotional auf den Zahn fühlt, und anhand zahlreicher Anekdoten den Umgang mit (Todes-)Angst, Wut, Lust, Mut und Verachtung schildert, um so den Begriff des Ekstatischen zu formulieren.

Fehlen darf hier sicherlich auch nicht das skandalöse Forschungstagebuch A diary in the strict sense of the term Bronislaw Malinowskis, das durchzogen ist von Schamgefühlen, Wut, sexuellem Begehren, Verzweiflung und rassistischen Ressentiments und die Ethnographie nicht nur in eine, sondern gleich mehrere, methodische Krisen stürzte.

Feldforscher*innen, ganz gleich welcher Couleur, sind oftmals starken Emotionen ausgesetzt. Zu ihrem sozio-kognitiven Handwerkszeug gehört ein ordentliches Quantum Empathie und eine elaborierte Alltagspsychologie (theory of mind), um sich in die mentalen Schuhe eines Anderen oder gar in eine fremde Spezies hineinzuversetzen und so dem beobachteten Handeln oder Verhalten einen Sinn abzugewinnen.

Problematisch an Gefühlen in wissenschaftlichen Kontexten ist, dass sie nur schwerlich zu beschreiben sind. Häufig werden Metaphern benötigt, um bspw. Geschmäcker und Schmerztypen zu beschreiben: Der Wein ist kantig und hat ein zerklüftetes Bouquet, ein Schmerz kann hingegen pochend oder ziehend sein. Diese Bildersprache ist geradezu das Gegenteil einer positivistisch geprägten und um Objektivität bemühten Wissenschaftssprache. Hingegen finden sich zahlreiche literarische Versuche, die gelungen das Innenleben einer Protagonistin oder eines Protagonisten sprachlich wiedergeben. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass die Autoren des vorliegenden Handbuchs dazu raten, literaturwissenschaftliche Methoden zur Anwendung zu bringen, um Emotionen im Feld zu analysieren.

Doch nicht nur die Emotionalität während des Zeitraumes der praktischen Datenerhebungen, sondern auch deren Auswertungen und Interpretationen während des Schreibprozesses nehmen Lubrich und Stodulka ins Visier. Ziel des Ganzen ist es, ein „besseres Verständnis von Emotionen im interdisziplinären, interkulturellen und inter-species-Vergleich” zu erlangen. Mithin gilt für die Autoren: „Werden sie [die Gefühle, T.W.] als Bedingung und Faktoren des Erkenntnisgewinns anerkannt, können Emotionen den Forschungsprozess befördern, anstatt ihn zu behindern oder zu vernebeln.” Es geht also auch um die Anerkennung der Valenz von Emotionen in der Feldforschungspraxis.

Wird das bisher schwer Fassbare erfasst, lässt sich sein Einfluss auf die Entdeckungs- und Begründungszusammenhänge ethnographischer und ethologischer Forschungsinhalte analysieren und so schlussendlich von den reinen Beobachtungsdaten abstrahieren, ohne sie damit zu entwerten. Es soll ein Fundament geschaffen werden, um die Einflüsse von Gefühlen und Affekten auf Datenerhebungen und deren anschließende Auswertungen zu bewerten.

Die grundlegenden Fragen von Emotionen auf Expeditionen lauten dementsprechend: „Welche Rolle spielen Emotionen in der Wissenschaft? Wie beeinflussen sie insbesondere die Feldforschung, d.h. die Auseinandersetzung mit zunächst fremden Kulturen oder anderen Arten? Und wie können sie nicht nur passiv erlebt, sondern aktiv erfasst und epistemisch genutzt werden?”

Das Buch selbst gibt nur die Methoden vor, wie Emotionen erfasst werden können. Der Einfluss von Emotionen auf wissenschaftliche Beobachtungen und Datenerhebungen sowie deren Erfassung als mentale und körperliche Widerfahrnisse in der Forschungspraxis wiederum, sind Gegenstand der Kognitionswissenschaften und der Philosophie. Genau hier nehmen sich Lubrich und Stodulka zu viel vor, denn die gestellten Fragen können in dem vorliegenden Band nicht beantwortet werden. Es handelt sich eben nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung zum Thema Emotionen in der empirischen Feldforschung, sondern um ein Taschenhandbuch für die ethnologische Praxis. Mithin ist die Probandengruppe, die die vorgeschlagenen Methoden zur Anwendung bringen mit 30 Personen nicht signifikant.

Die Autoren wählen eine zweiteilige Betrachtungsweise: Der typologische Ansatz untersucht, welche Emotionen in der Feldforschung anzutreffen sind und wie diese zu diagnostizieren sind? Ein sequenzieller Zugang soll hingegen häufige Dynamiken von aufeinanderfolgenden Gefühlen in den Fokus nehmen. Interessant ist dabei auch die Frage, inwiefern bestimmte Emotionen eher am Anfang der Forschungspraxis stehen und welche gegebenenfalls typischerweise während der Verschriftlichung der Ergebnisse auftreten. Anhand der daraus resultierenden Diagnostiken sollen Modelle erstellt werden, die „statistisch belegt und graphisch dargestellt werden.” So soll es möglich sein, der „affektiven Typikalität von Forschungssituationen und -verläufen” auf die Spur zu kommen.

Dabei wird scheinbar bereits theorielastig verfahren, denn die weiteren Ausführungen im Buch werden untergliedert in die Kapitel „Emotionen im Feld” und „Emotionen im Text”. Zwar muss hier zunächst eruiert werden, ob sich die Emotionen im Feld von denen am Schreibtisch unterscheiden, die Einteilung ist allerdings keine Vorwegnahme der Ergebnisse, sondern der Anwendung unterschiedlicher Analysemethodiken geschuldet.

Im ersten Teil werden das Auftreten und der Umgang mit Emotionen im Rahmen von Experten-Gesprächen untersucht, wodurch eine erste Orientierung auf dem weiten Feld der Gefühle erlangt werden soll. So wurden u.a. Jane Goodall, Volker Sommer und Birgitt Röttger-Rösler zu ihren Erfahrungen befragt, von denen sie retrospektiv Kunde gaben. Es folgt der Einsatz von Fragebögen zu Persönlichkeitsmerkmalen, zur Empathiefähigkeit und zu Affektdispositionen, die die Emotionen von Feldforscher*innen in situ erfassen und transparent machen sollen.

Dieses Vorhaben erweist sich m.E. schon dahingehend als schwierig, als das Gefühle flüchtige und assoziierte mentale Zustände sind und deshalb kaum deskriptiv und phänomenologisch zu bannen sind. So tritt eine Basisemotion wie Ekel unvorbereitet, plötzlich und deutlich spürbar in einem Spektrum zwischen Nase rümpfen und heftigem Erbrechen auf. Solcherlei Basisemotionen gelten geradezu als das Gegenteil der Vernunft und so lässt sich fragen, wie es gelingen soll, in einem Zustand der gefühlsmäßigen Überwältigung, den klaren Entschluss zu fassen, dies in situ ausgiebig zu notieren? Die schriftliche Fixierung kann demnach in den meisten Fällen nur retrospektiv erfolgen.

Ein Methodenmix soll Auskunft über die Quantität und die Qualität der Emotionen im Feld geben. So werden den Probanden Fragebögen zu Persönlichkeit und Empathie ausgehändigt; ein Self-Evaluation-Check soll der „regelmäßigen Selbstbeobachtung” dienen, der wiederum durch eine Liste von Emotionswörtern und einer Intensitätsskala erweitert wird. Am Ende wird ein Emotionstagebuch empfohlen, in dem die Empfindungen retrospektiv reflektiert und in einen Kontext gesetzt werden sollen. Letzteres bot den Ethnolog*innen ein freies Format, sich über ihre Affekte und Emotionen klar zu werden und darüber zu berichten. Wie ein Beispiel im vorliegenden Band zeigt, wurde auch hier stark auf Bildsprache zurückgegriffen und das Medienspektrum um Zeichnungen erweitert. So skizziert eine Ethnologin ihre Arbeit in unterschiedlichen Facetten: Ein Eichhörnchen, das fleißig Daten sammelt, ein Schwamm, der alles aufsaugt und ein Chamäleon, welches sich stetig neuen Situationen anpassen muss.

Abschließend erhielt jede/r der Forscher*innen die Gelegenheit, sich in einem kurzen Interview, „spontaner und direkter auszudrücken” und gemeinsam in einem Feedback-Workshop über das Erlebte zu diskutieren, der den Grundzügen einer kollaborativen Ethnographie verpflichtet war. Insgesamt gelingt so eine „Empirische Affektmontage”, in deren Rahmen die Emotions-Berichte der Proband*innen ins Verhältnis mit ihren anderen Berichten und Dokumentationen gesetzt werden.

Die so gesammelten Felddokumente werden dann einer literaturwissenschaftlichen-philologischen Analyse unterzogen. Exemplarisch vorgeführt werden die Anwendung und die daraus zu erwartenden Ergebnisse anhand von Klassikern der Belletristik und der Reiseberichterstattung, nicht aber anhand der gesammelten Felddokumentationen. Warum so verfahren wird, erklären Lubrich und Stodulka nicht konkret, es ist aber zu mutmaßen, dass solcherlei Dokumente zu intim und persönlich sind, als dass sie hier umfangreich analysiert werden. Stattdessen werden Texte von Virginia Woolf, Heinrich von Kleist, Alexander von Humboldt und Ernst Jünger interpretiert. Die daraus resultierenden Ergebnisse sind durchaus vielversprechend, geben sie doch potenziell Auskunft darüber, wie Emotionen reflektiert und deskribiert werden können. Nicht weniger als 22 verschiedene Zugangs- und Analyseweisen werden skizziert, um den schriftlichen Dokumenten von Forschungsreisen adäquat beizukommen.

Emotionen auf Expeditionen nimmt sich viel vor, kann aber nicht alle Vorhaben einlösen. Das ist auch gar nicht weiter schlimm, ist es doch scheinbar als zweiter Schritt, nämlich als Ergebnisbericht des Forschungsprojektes von Die Affekte der Forscher konzipiert, auf dem Weg hin zu einer Evaluierung von Emotionen in der Feldforschung. Das macht auch Sinn und war längst überfällig, ist die Feldforschungspraxis doch durchzogen von (emotionalen) Ausnahmesituationen, beginnend mit der „Angst des Forschers vor dem Feld”, wie es einst der Ethnologe Rolf Lindner beschrieb, bis hin zur empathischen Austarierung von Forschungsinteresse und Pietät vor Menschen und ihrem Recht-auf-Nicht-Erforscht-Werden. Lubrich und Stodulka bieten ein Methodenkonglomerat an, dass es in sich hat, auch, wenn nicht jede Methodik als vielversprechend und fruchtbar aus der Diskussion hervorgeht.

Sicher wird das Handbuch den gewünschten „frischen Wind in das methodische Repertoire” der Sozial- und Kulturanthropologie und der Fieldwork Studies bringen. Ziel dieses Taschenhandbuches soll es darüber hinaus sein, Nachwuchsfeldforscher*innen besser auf das Ungewisse und kulturell „Fremde” vorzubereiten. Tipps für die Forschungspraxis, wie mit emotional aufgeladenen Situationen umgegangen werden kann, geben Lubrich und Stodulka nicht, weshalb der Untertitel Ein Taschenhandbuch für die ethnographische Praxis missverstanden werden kann. Ihre beeindruckende Leistung ist die Übertragung von Vorgehensweisen aus verschiedenen Wissenschaften, vor allem aber der Literaturwissenschaft, auf fachfremde Dokumente und deren Evaluation für die Feldforschungspraxis.

Titelbild

Oliver Lubrich / Thomas Stodulka: Emotionen auf Expeditionen. Ein Taschenhandbuch für die ethnographische Praxis.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
188 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783837647761

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