Atemlos durch Heilbronx

Im Debütroman „Hawaii“ von Cihan Acar geht es hoch her

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Würde man im Hinblick auf die Zugehörigkeitsfrage von Einwanderern und ihrer Nachkommenschaft der allgemeinen Öffentlichkeit (und wohl auch einem Teil der Literaturkritik) Glauben schenken, müssten wir von einem Leben zwischen zwei Welten, Sprachen und Kulturen, von Verlustgefühlen und Identifikationsstörungen ausgehen. Eine transkulturelle Selbstpositionierung, die der existentiellen Erfahrungen eines Großteils der Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft in einer globalisierten Welt entspricht, wird immer wieder als zu verkopft, zu wissenschaftlich oder als fiktional diffamiert, statt einen tieferen Einblick in das Zusammenspiel der gesellschaftlichen Umstände und der individuellen Entscheidungen und Aktivitäten des Einzelnen im Prozess der Subjektbildung zu gewähren und zu diskutieren.

Umso erfreulicher sind für die Leserschaft Romane, die das gesellschaftliche Zusammenleben differenzierter thematisieren: Probleme nicht kulturalisieren, stattdessen individuelle und gruppenspezifische Besonderheiten beschreiben und – wenn und wo nötig – auch die vielfältigen Animositäten zwischen Individuen und Gemeinschaft(en) problematisieren. So geschieht es auch im Roman von Cihan Acar, dessen junge Hauptfigur Heilbronn seine Heimat nennt, wo er in einem mit Imageproblem kämpfenden Stadtteil – von seinen Bewohnern liebevoll wie ironisch Hawaii genannt – großgeworden ist.

Von Donnerstagabend bis Sonntagmorgen erlebt und reflektiert Kemal Arslan eines der nicht nur meteorologisch heißesten Wochenenden der schwäbisch-fränkischen Stadt am Neckar. Bereits mit 21 Jahren ist die verheißungsvolle Karriere des türkisch-deutschen Profifußballers beendet und er kehrt mit leeren Händen vom türkischen Erstligisten Gaziantepspor zurück nach Heilbronn, von wo er einst ausgezogen war, die (türkische) Fußballwelt zu erobern. Auf der Suche nach seinem Platz im Leben stolpert er rasant durch Vergangenheit und Gegenwart, trifft Familie, Freunde und auf das Weltgeschehen. Er fühlt sich unter den Deutschtürken unwohl, aber die schwäbischen Rassisten in einer abgewrackten Kneipe nerven ihn genauso. Nach seinem ausschweifenden Profifußballerleben ist er nun zurück in der „Minderheit“ angekommen, wo er – wie (fast) alle – ums Überleben kämpft. Allein sein kaputter Jaguar im Parkhaus erinnert an goldene Zeiten. Bei aller Kiezromantik ist von allem im Hawaii der Lack ab: Kemal besucht einen deprimierenden Erotikschuppen, atmet die Suppenluft von Knorr, regt sich über die HWA-Nazis („Heilbronn, wach auf!“) auf, die Schweinefleischpflicht für Kitas fordern, bewirbt sich bei einem türkischen Gebäudereinigungsunternehmen und sieht sonst überall nur Audianer, Weinberge und TürkSat-Empfangsschüsseln an den Hochhäusern.

Das Klischee der patriarchalischen Machogesellschaft und ihrer Statussymbole ist in diesem Coming-of-Age-Roman ebenfalls allgegenwärtig. Türken verkaufen immer Döner, Gemüse, Handys oder Autos, wer den öffentlichen Nahverkehr benutzt, ist ein Versager und auf Hochzeiten muss jeder tanzen. Tayfun, der potentielle neue Chef von Kemal, schenkt ihm zum Einstand eine 10.000-Euro-Rolex, die sich später als Fake entpuppt. Es geht um Heldengeschichten, türkischen Stolz, das Leben in Wettbüros, den Clubs und Bars des Viertels oder Pokerrunden mit den schwäbelnden Kumpels Emre, Hakan, Mehmet, Serdar und Osman.

Auf der anderen Seite trifft er Rainer, Paul, Robert, Thomas und seine reiche Ex-Freundin, Sina, die zum 18. Geburtstag einen Bungalow auf dem Anwesen der Eltern geschenkt bekommen hat. Gerne würde er nahtlos an die gemeinsamen Erlebnisse anknüpfen und Sina, die er in seiner bombastischen Zeit als Fußballer abserviert hat, wieder zurückgewinnen. Doch zu dieser Clique hat er auch nie richtig dazugehört und ist dort jetzt umso mehr der Loser.

Kemal ist auf der Suche nach einem Platz zum Leben sowie nach sich selbst und sieht als einer, der für kurze Zeit aus der Geborgenheit des Nests gefallen ist, plötzlich alles klarer. Der emotionale Abstand lässt ihn erkennen, dass hinter der Fassade einiger erfolgreicher, netter und allseits beliebter Persönlichkeiten in Sinas Umfeld böswillige, kleinkarierte und verunsicherte Menschen stecken. Er lernt auch seine Zeit in Gaziantep im Nachhinein als das einzuordnen, was es wirklich war: Die Mannschaft, in der es Einheimische, Almancı (d.h. Deutschtürken) und Ausländer gab, steht für ihn für eine (kulturelle) Mehrklassengesellschaft, mit der er in dieser Form – egal ob er von den Tonangebenden dazugezählt wird oder nicht – nichts mehr anfangen kann. Folgerichtig heißt es zu einem möglichen Leben in der Türkei: „Wir sind hier (Anm.: in Heilbronn) aufgewachsen, wir denken und leben ganz anders als die Leute dort …“.

Die Konflikte zwischen arm und reich, den ausländischen Kankas („Blutsbrüder“) und den nationalistischen HWA-Leuten werden im Verlaufe des heißen Sommerwochenendes immer hitziger. Zwar galt Kemal, der sich immer schon abzugrenzen wusste, für die reichen Schnösel um seine Ex als „Aggro-Türke“ und für die Blutsbrüder als einer von ihnen, weil er schon mal zu geheimen Treffen (wortwörtlich) mitgelaufen ist, aber als zwischen den Kankas und ihren rassistischen Gegnern, die teilweise auch aus anderen Regionen Deutschlands angereist waren, beim Tod eines 16-jährigen Türken die Situation eskaliert, hält er sich aus den Straßenkämpfen raus.

Cihan Acar gelingt in seinem Roman eine ausgewogene Mischung aus Fakten und Fiktionen. Neben schnellen Ortswechseln, aufschlussreichen Einblicken in Milieus sowie der in vielen Fällen vortrefflichen Charakterzeichnung, webt er in seinen Text Fachwissen über den deutsch-türkischen Spitzenfußball und das NSU-Attentat auf eine Polizistin ein, und inszeniert so ein sehr realistisch wirkendes Abenteuer. Gewalt spielt sich lediglich in den Handlungen ab, der Abstand zum Beobachteten wird durch subtilen Humor und leichte Ironie hergestellt, sein simpler Stil speist sich aus mehr oder weniger jugendromantypischen coolen Sprüchen und Kalenderweisheiten und reicht an die Sprachgewalt etwa eines Kanak Sprak (1995) von Feridun Zaimoğlu nicht heran. Trotzdem kann man als Rezensent davon ausgehen, dass einem dieser junge Autor – um mit dem Titel der bisher von ihm veröffentlichten Sachbücher zu sprechen – 111 Gründe liefern wird, seinen zweiten Roman zu lesen und zu lieben. 

Titelbild

Cihan Acar: Hawaii.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265868

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch