Die Kunst der Desillusion

René Crevels Debütroman „Umwege“ von 1924 in deutscher Übersetzung

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Autor ist bei uns kein Unbekannter, aber wohl doch eher ein Fall für das literarische Spezialitätensortiment. Während einige seiner Werke schon früh im Zuge einer breiteren Surrealismus-Rezeption durch Übersetzungen hierzulande bekannt wurden, zu erinnern wäre an Babylon und Der schwierige Tod, gelingt dies seinem literarischen Debüt mit dem Titel Détours von 1924 erst jetzt mit fast hundertjähriger Verspätung. Es macht neugierig, was von dem avantgardistischen Furor eines umstürzenden Geistes, unter dem dieses Buch zweifelsohne entstand, noch spürbar ist. Die Wiederbegegnung mit Crevel weckte bei der Rezensentin überdies Jugenderinnerungen; ich gestehe in diesem Punkt eine gewisse ästhetische Anfälligkeit. Von dem subjektiven Aspekt einmal abgesehen, stellen sich heute natürlich grundsätzliche Fragen, zumal die Surrealismus-„Mode“ der Spätsechziger mit der berühmt gewordenen Parole „Die Phantasie an die Macht“ ja längst selbst historisch geworden ist, wie auch jene künstlerische Bewegung der Wilden Zwanziger, die ihrerseits eine Art Klassiker-Status erlangte.

Wer war René Crevel, und wovon handelt jene Autofiktion, als die wir das Werk verstehen dürfen? Auf welche Umwege nimmt uns der Autor mit, warum überhaupt Umwege und wo führen sie hin? Wie verträgt sich Surrealismus, der einst mit einer Kampfansage an den traditionellen Roman angetreten war, mit Literatur? Was haben Crevels Umwege also literarisch zu bieten?

René Crevel war, um es überspitzt auszudrücken, der Exot unter den Exoten. Er hat sich in dieser Rolle gern selbst inszeniert. Er war Dandy und Kommunist, schwul und drogenabhängig, litt an Lungentuberkulose, war Surrealist, galt als literarisches Genie und Enfant terrible, mit einer Vorliebe für das Nachtleben, und wurde schließlich zum Selbstmörder, als ihm die Krankheit keine andere Wahl mehr ließ. Die Anleitung zum Suizid hatte er ein gutes Jahrzehnt zuvor bereits in Détours geliefert, indem er dort jemanden den Gashahn am Küchenherd aufdrehen lässt.

In den Erinnerungen seiner Freunde blüht ein Enthusiasmus für jenen poète maudit. Klaus Mann schrieb emphatisch: „Ich nenne ihn meinen Bruder.“ Ihm blieb der tiefsitzende Zwiespalt in der Seele des Bruders nicht verborgen, nämlich wütender Feind des Bestehenden zu sein, mit allem Hass gegen die bürgerliche Hölle und dennoch Liebe geben zu können und nach Freundschaft zu verlangen. Philippe Soupault, der surrealistische Mitstreiter meinte, „er war als Empörer geboren, wie andere mit blauen Augen zur Welt kommen“. Selbst wenn er lachte, klang das nach Revolte. Außerdem gehörte er zu den Menschen, die sich am liebsten „Desillusionen“ machen, was gewiss nicht die schlechteste Art ist, mit der Welt umzugehen. Ob man so allerdings seinen Frieden mit ihr findet, bleibt zu bezweifeln. Crevel jedenfalls lernte eher den Ekel vor ihr.

Der Maler Max Ernst schuf 1922 das Gemälde „Das Rendezvous der Freunde“, ein Gruppenbild mit Dame. Es sind die ehrenwert erscheinenden Herren Surrealisten, die sich zu einem Gipfeltreffen in eisiger Gebirgslandschaft verabredet haben. Zwei Jahre später formierte sich die Herrenrunde zur rebellischen Künstlergruppe mit dem „Ersten Manifest des Surrealismus“, verfasst vom Großmeister André Breton, dem „springenden Narziss“, wie ihn seine Biografin Elisabeth Lenk treffend nannte. Mit von der Partie ist auch René Crevel. Auf dem Bild sitzt er an einem imaginären Klavier und liefert die unhörbare Begleitmusik. Der Maler selbst, hat auf dem rechten Knie des als surrealistischen Ahnherrn vereinnahmten Dostojewski Platz genommen. Unklar indes, was Dostojewskis Fingerzeig auf Crevel zu bedeuten hat. Vielleicht der Fingerzeig auf ein kommendes literarisches Genie?

Wie wohl bei jeder autofiktionalen Literatur steht am Anfang die im Grunde tragische Frage „Wer bin ich?“ In Crevels Umwege ist das nicht anders. Der Ich-Sucher heißt Daniel, dessen dominante Mutter ihn „zu einem ordentlichen Mann machen“ wollte, „aufgeräumt wie ein Spiegelschrank“. Wir ahnen, wie gründlich dieses Vorhaben scheitern wird. Überhaupt scheitert diese Familie, die einen Hang zum Selbstmörderischen an den Tag legt. Was jedoch gelingen wird, das ist der Versuch einer Selbstbeschreibung. Sie gelingt, weil der Autor wie alle Schöpfer mit der Welt zu spielen beginnt.

Da ich […] durch seelische Irrungen und Wirrungen das erklären wollte, was lediglich die sich ankündigende Pubertät war, beschloss ich, andere Wesen so lange zusammenzuwürfeln, bis sich meine eigene Silhouette im Kontrast zu ihrer Masse herauskristallisierte, diese Silhouette, die ich nicht eigenhändig nachzeichnen konnte, schwarz auf weißem Grund, schwarz auf leerem Grund.

Gewiss, wir brauchen immer die anderen als Spiegel oder als eine Art Kontrastmittel, wie dies Crevel vorschlägt. Daniel wusste nun zumindest, „kein fest umrissenes Wesen“ zu sein. Die Selbstfindung gibt er nicht auf, sie wird zur Willensfrage. Crevels Tonfall ist vorzugsweise lakonisch und begleitet von einer stetig mitschwingenden Überheblichkeit. In Wahrheit ist es die jugendliche Unsicherheit und Verlegenheit, die sich hinter der großen Geste nur schlecht verbergen kann. Denn Abgeklärtheit ist hier ein Spiel, eine Maske. Oder will man Daniel glauben, wenn er bekennt, plötzlich alt geworden zu sein, ohne je jung gewesen zu sein? Eine Freundin jedenfalls nimmt nur einen Halbirren in ihm wahr, der sich auf seine Wunderlichkeit nichts einbilden sollte. Und wird er Poet genannt, klingt das, als hätte man Idiot gesagt.

In die lakonische Weltbetrachtung mischen sich immer wieder verblüffende Bilder, umrankt von poetischen Arabesken. Wenn er etwa durch das offene Fenster eine Frau auf der Straße vorbeigehen hört, die mit dem Klackern ihrer Absätze „eindeutig ihre spießige Selbstsicherheit“ unterstreicht. Oder wenn er auf die Hitze des Augusts neidisch wird, die „schmerzhafter gegen meine Jalousien als das Herz gegen meine Rippen“ schlägt. Daniel sucht die Liebe, findet aber nur Gier, Verruchtheit, Langeweile, Weltschmerz und Chaos. Die Welt sei weder logisch noch vernünftig, ständig würden sich unter unseren Füßen Löcher auftun, beklagt sich jener nie jung Gewesene. Kein Zweifel, wir haben es mit einem Gefühlsmenschen zu tun, mag er noch so sehr die Welt in der Draufsicht des Überlegenen zu beherrschen versuchen. Das klingt so gar nicht avantgardistisch und ist es doch durch seinen sprachlichen Duktus zwischen subtiler Nähe, poetischen Details und einem nüchternen, eher handlungsarmen Erzählfluss von gleichwohl großer Dichte. Typisch darin das szenisch Sprunghafte. Die Umwege, die dieser Daniel geht, sind vor allem von zwei Frauen begleitet, aber wirkliche Liebe findet er weder bei der exaltierten Léila noch bei der bürgerlich-biederen Professorentochter. Sie bewegen sich vielmehr wie Schachfiguren auf einem Spielbrett, in schematischen, kalkulierten Bewegungen.

Daniel führt den Leser in das Pariser Nachtleben. Auch dies ein Umweg als Sackgasse. In den Bars beobachtet er ein queeres Publikum, wie man das heute nennen würde. „Wie Kröten, die sich unzüchtig aneinanderschmiegten, führten Stricher den neuesten Tanzschritt auf.“ Um schließlich zur Erkenntnis zu gelangen, „dass diese Orte des ausgepreisten Lasters nicht interessanter sind als die ‚Stilmöbel’-Abteilungen in einem der großen Kaufhäuser.“ Dazu passt die Bemerkung, „in den Bars stammt jeder geborene David aus Asnières, jeder heilige Sebastian aus der Provinz. Der Personenstand hat bei mir schon für viele Überraschungen gesorgt, jedes Mal, wenn es sich um eine Mercedes, eine Carmen, eine Jenny handelte“.

Wie offen konnte Crevel seine Homosexualität leben? Schwer zu sagen. Der Chef der Surrealisten, Breton, war jedenfalls homophob. Als die Gruppe einmal über die Sexualität diskutierte und dabei auch auf Homosexualität zu sprechen kam, wurden sehr unterschiedliche Meinungen laut. Man Ray sah keinen großen physischen Unterschied zwischen hetero- und homosexuell, und Raymond Queneau fand Gefühlsbeziehungen zwischen Männern akzeptabel, worauf ihn Breton brüsk fragte, ob er denn homosexuell sei, was Queneau verneinte. Louis Aragon sah in ihr nur eine sexuelle Gewohnheit, die genau wie alle anderen sei. Und so ging es diskutierend hin und her, bis schließlich Breton der Kragen platzte. Er mache bei einer „Homosexuellenreklame“ nicht mit, sagte er und drohte damit, die Diskussion zu verlassen.

Crevel war übrigens nicht anwesend in jener Runde, und in seinem Roman bleibt die eigene Sexualität nur ein Zitat. Schon das mochte wohl den einen oder anderen skandalisieren, da half auch kein avantgardistischer Anspruch eines absoluten Non-Konformismus. Aber auch dort, wo es um ureigene surrealistische Kunstinteressen geht, passen Anspruch und Wirklichkeit eher selten zusammen. Mit dem Manifest von 1924 war eine klare Absage an den Roman verbunden, gleich ob er sich realistisch, psychologisch oder logisch gab, weil er so oder so nur eine Ansammlung von Katalogbildern liefert. Die Manie, das Unbekannte aufs Klassifizierbare zurückzuführen, schläfere doch nur das Gehirn ein, polemisierte Breton. Crevel mochte da in seiner literarischen Produktion immer ein wenig skeptisch betrachtet worden sein, aber am Ende sind alle Surrealisten beim Roman gelandet und haben das geforderte Denk-Diktat, unkontrolliert von Vernunft und Ästhetik, mal eben zugunsten einer ästhetischen Komposition außer Kraft gesetzt. Crevel immerhin gab sich am Ende seines Debütromans so gewitzt, mit seiner Figur des Daniel aus der Geschichte zu verschwinden, indem er auf einem einsamen Berg aus dem Zug steigt. Dort oben, fernab der Welt, als wäre er just in dem Bild von Max Ernst gelandet, begrüßt Daniel seine „schöne neue Freiheit“ – endlich allein, „ein unerklärliches Glück“. Ist der Ausstieg also die Lösung?

Titelbild

René Crevel: Umwege.
Aus dem Französichen von Maximilian Gilleßen und Philippe Roepstorff-Robiano.
zero sharp, Berlin 2019.
175 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783945421086

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