Dichter am Rande des Sagbaren

Zum 50. Todestag Paul Celans sind eine neue Briefedition und zwei Bücher über Leben und Werk des Dichters erschienen

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den deutschsprachigen Dichtern seit 1945 ist er der wohl meistinterpretierte und Schöpfer eines gewaltigen Opus von zwanzig Briefbänden. „Eigentlich tät ich nichts lieber als Briefe schreiben“, heißt es 1968 in einem von ihnen. Geboren wurde er 1920 als Paul Antschel (später zu Ancel rumänisiert, woraus das Anagramm Celan entstand) im rumänischen Czernowitz in der Bukowina (Buchenland). Nach der Befreiung seiner Heimat von deutscher Besatzung kehrte er 1944 aus dem Arbeitslager nach Czernowitz zurück, arbeitete zunächst als Krankenpfleger in der psychiatrischen Klinik der Stadt und studierte Anglistik an der örtlichen Universität. 1945 ging er nach Bukarest, 1947 dann nach Wien und 1948 schließlich nach Paris. Vor 50 Jahren, vermutlich in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1970, starb er dort; er wählte den Freitod, ging in die Seine.

Drei neue Bücher werfen jetzt interessante neue Perspektiven auf Celans Leben und Werk. Mit der neuen kommentierten Briefedition, herausgegeben von der Celan-Forscherin Barbara Wiedemann, werden die Briefe erstmals als eigenständiges Werk sichtbar: 691 Briefe, davon 330 bislang unveröffentlicht, an 252 Adressaten. Das Grundprinzip der Auswahl besteht darin, das Leben des Dichters umfassend abzubilden, die große Vielfalt seiner persönlichen Kontakte sowie seiner sprachlichen und stilistischen Ausdrucksformen und die ihn bewegenden Themen erfahrbar zu machen. Wer sind die Adressaten der Briefe? Mitglieder der Familie, geliebte Frauen, wie Gisèle Celan-Lestrange, Ilana Shmueli, Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs; französische Philosophen und deutsche Germanisten, Übersetzerkollegen, Autoren und Mitarbeiter vieler Verlage. So entsteht in chronologischer Folge über fast vier Dezennien eine Lebensbeschreibung in Briefen, die zudem auch Neues über den Dichter selbst verrät. Für diese vorzügliche Publikationsleistung gebührt der Herausgeberin großer Dank.

Neue Informationen über die Zeit, in der Celan vom Tod seiner Eltern erfährt, vermitteln zwei unterschiedliche und zeitlich weit auseinanderliegende Briefe von Anfang 1944 und zum Frühjahr 1970. So erinnert sich Celan in einem Brief an Nina Cassian, dass ihre Mitteilung vom Tode ihrer Mutter und das, was „Dir dieser Tod auferlegt hat, […] in mir die Erinnerung [weckt] an die Augenblicke, in denen ich erfuhr, daß meine Mutter tot war. An die Augenblicke, denn ich habe das bröckchenweise erfahren, mit natürlich, eines Tages dem großen Brocken. Es war an einem Nachmittag es war hell.“ Es liegt an den Lager- und (wenn es dazu kommt) Fluchtbiographien auch der Empfänger, dass es nicht viele erhaltene Briefe Celans aus der Czernowitzer und Bukarester Zeit vor 1945 gibt, und es grenzt an ein Wunder, dass sich noch ein Brief des jungen Medizinstudenten Paul Celan aus Tours an seine Mutter in seinem Nachlass fand.

Der unterschiedliche Charakter der beiden Arbeitslager, in denen durch die Rassegesetze ausgegrenzte Juden während des Krieges in Rumänien Zwangsarbeit leisten mussten, wie auch die Dauer der Internierungen Celans, der im Rahmen des „Jüdischen Arbeitsdienstes“ im Straßenbau eingesetzt wurde, lassen sich nun genauer durch Karten und Briefe aus der Lagerzeit eingrenzen. Die Lebensbedingungen im Lager Tăbărăști beschreibt Celan noch 20 Jahre später in einem um Genauigkeit bemühten Dokument aus dem Wiedergutmachungsverfahren für einen Mithäftling.

Eine unmögliche Begegnung

Die Geschichte mutet etwas konstruiert an. Am 25. Juli 1967 kam es zu einem der merkwürdigsten Treffen oder „Landpartien“ der deutschen Geistesgeschichte. Paul Celan, der kurz zuvor aus einer psychiatrischen Klinik in Paris entlassen wurde, und Martin Heidegger fuhren, chauffiert von einem jungen Germanisten namens Gerhard Neumann, zusammen zur berühmten Hütte des Philosophen in der Nähe des Ortes Todtnauberg.

Im Juni 1942 waren die Eltern von Celan ins Lager Michailowka deportiert worden, der Vater starb an Typhus, die Mutter wurde ermordet. Fast ein Vierteljahrhundert später diese seltsame Konstellation: Paul Celan und Martin Heidegger wandern bei regnerischem Wetter durch ein Moor des Schwarzwalds. Einerseits ein Philosoph, der sich dem NS-Regime bereits im Mai 1933 mit seiner berühmt-berüchtigten Rektoratsrede angedient hatte, auf der anderen Seite der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie, dem es nicht mehr gelingen sollte, noch irgendwo „Heimat“ zu finden. Celan hat dieses erste Treffen in seinem Gedicht Todtnauberg festgehalten.

Hans-Peter Kunisch beschreibt in seinem wunderbaren Buch die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung. Dabei beschäftigt ihn vor allem die Frage, wie es dazu kam, dass ausgerechnet diese beiden Menschen die Nähe und Bekanntschaft des anderen suchten, und warum es doch während ihrer insgesamt drei Treffen nie zu einem wirklichen Austausch kommen sollte, geschweige denn zu einer „Begegnung“ in Heideggers Sinne. Trotz Friedrich Hölderlin, den beide verehrten, aber unterschiedlich deuteten. „Gespräch, Begegnung, waren für Celan keine schlichten Vokabeln, weder im Leben noch in der Dichtungstheorie“, so Kunisch. Und Celan habe auf eine solche „Begegnung“ gehofft. Für ihn sei sie „Öffnung für den Anderen, ein wichtiger Teil seiner literarischen wie privaten Existenz“. In Celans Gedicht Todtnauberg ist sie als Hoffnung formuliert:

Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,

in der
Hütte,

die in das Buch
– wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? – ,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,

Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln, 

Krudes, später, im Fahren,
deutlich,

der uns fährt, der Mensch,
der’s mit anhört,

die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,

Feuchtes,
viel.

Doch es wurde nichts daraus. Das sich erklärende, entschuldigende Wort Heideggers kommt nicht, es sollte nie kommen.

In Adornos berühmtem Essay Der Jargon der Eigentlichkeit deutet er die Worte „Begegnung“ oder „Öffnung“ als Aufruf zum gefühligen „Schwatzen“, als Teil des „abgeschabten Gemeinschaftsethos der Jugendbewegung“. Celans Kritik an Heideggers andienendem Verhalten während der Nazi-Zeit und dessen Schweigen danach findet sich auch bei Adorno und Herbert Marcuse wieder. In einem luziden Kapitel des Buchs stellt Kunisch jene „Fragen an Martin Heidegger“ Marcuses und Paul Celans „Nachdenken über die Revolution“ vor.

Biographie eines Jahrhundertgedichts – Die Ignoranz der Gruppe 47

Vor allem mit seiner Todesfuge wurde der Dichter weltberühmt, sie gilt als Jahrhundertgedicht. Er schrieb es vermutlich Ende 1944 in Czernowitz. Die Todesfuge ist entstanden unter dem Eindruck der Ermordung von Celans Eltern durch die Nationalsozialisten und ist eines der frühesten literarischen Zeugnisse der Shoah. Sie begleitete Celan über ein Vierteljahrhundert seines Lebens. Thomas Sparr hat nun eine beeindruckende „Biographie“ dieses Gedichts vorgelegt, eine wichtige Neuerscheinung im Celan-Jahr.

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland  
 
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

Die kontroverse Rezeption und Aufnahme der Todesfuge im Nachkriegsdeutschland ist ein Teil deutscher Erinnerungskultur. Davon zeugt die Einladung Celans zu einem Treffen der Gruppe 47 in Niendorf 1952, einem verschlafenen Fischerdorf an der Ostsee, das zum zentralen Ort für die Aufnahme des Gedichts in Deutschland wurde. Walter Jens erinnerte sich 1976: „Als Celan zum ersten Mal auftrat, da sagte man: Das kann doch kaum jemand hören. Wir haben darüber gelacht. Der liest ja wie Goebbels, sagte einer. Er wurde ausgelacht. Die Todesfuge wurde ein Reinfall.“

Die Verletzung saß tief bei Celan. Wenn auch die Kollegen der Gruppe 47 kein Verständnis aufzubringen vermochten, die Verlagswelt hatte aufgehorcht und nur wenige Wochen später las der Dichter in Stuttgart aus seinem Gedichtband Mohn und Gedächtnis, wie Hermann Lenz sich später erinnerte. Auch Adorno hat sein berühmt-berüchtigtes Diktum „nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch“ in seiner „Negativen Dialektik“ 1966 revidiert: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben.“

Im Jahr 1960 wurde Paul Celan der „Georg-Büchner-Preis“ zuerkannt. Monate vorher wurde gegen den Preisträger aus Paris der Vorwurf des Plagiats erhoben. Nicht zum ersten Mal, doch nun sehr laut und deutlich von der Witwe des Dichters Ivan Goll. Es war der Gipfelpunkt ihrer Kampagne gegen den dreißig Jahre jüngeren Dichter, und es gab einige, deren Beistand sich Claire Goll sicherte. In einem offenen Brief schilderte sie ihre Vorwürfe „Die Infamie sprach aus jeder Zeile“, heißt es bei Thomas Sparr. Auch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung trat in einem 30 Seiten langen Bericht den völlig unberechtigten und aus ganz anderen Motiven gespeisten Vorwürfen entgegen. Es war ein Freispruch erster Güte.

Sparr fragt sich: „Doch in welchem Lebensaugenblick und in welcher historischen Situation insgesamt wurde der Angriff auf Celan lanciert? Und ihm im gleichen Augenblick der höchste Literaturpreis in Deutschland zuerkannt?“ Die internationale Presse berichtete 1960 über einen stark anbrandenden Antisemitismus in Deutschland, die Bundesregierung tat es als Dummejungenstreiche ab. Paul Celan las die Zeitungsberichte aufmerksam; es sei kein Zufall, dass der Angriff von Caire Goll jetzt geschehen könne, schrieb er an Rudolf Hirsch, den langjährigen Leiter des S. Fischer Verlags.

Ein präsentisches Leben und Denken

Hans Mayer hat in seinen Erinnerungen über das Leben und Denken Celans gesagt:

Die Wahrheit ist, daß er unfähig war zum Vergessen. Alles war stets gegenwärtig. Kein Lebensmoment, der nicht bedroht gewesen wäre von unheilvollen Augenblicken. […] Die Vernichtungslager ebenso wie eine belanglose Unbill aus späteren Jahren: alles war in jedem Augenblick virulent.

Seine lebenserfahrene und lebenslange Freundin und enge Vertraute Ilana Shmueli hat Paul Celan unübertroffen mit den Worten beschrieben:

Schon bei unserer Wiederbegegnung in Jerusalem weigerte ich mich, seine „Krankheit“ … wir nannten sie Krankheit in Anführungszeichen –, von der er immer wieder sprach, als solche anzuerkennen – ich fand jede Psychodiagnostik bei ihm unangebracht. Seine Genauigkeit, seine strenge Aufmerksamkeit, seine geistige Souveränität, sein Dichten ließen das nicht zu. Ich begriff es als das Kranken an der Wirklichkeit. Es war ein kompromißloses Suchen nach Wahrheit, ein luzides Neinsagen, ein Aufbegehren gegen all das, was ihm widerfahren war.

In Paris, so erfahren wir von Thomas Sparr, hinterließ Paul Celan einen zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Fünfzeiler:

Die nachzustotternde Welt,
bei der ich zu Gast
gewesen sein werde, ein Name,
herabgeschwitzt von der Mauer,
an der eine Wunde hochleckt.

Titelbild

Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung.
dtv Verlag, München 2020.
352 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282291

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas Sparr: Todesfuge. Biographie eines Gedichts.
Mit zahlreichen Abbildungen und Faksimiles.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020.
336 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783421047878

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Paul Celan: »etwas ganz und gar Persönliches«. Die Briefe 1934–1970.
Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
1286 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428887

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