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Zum 150. Geburtstag der Schriftstellerin legt S. Fischer eine Auswahl ihrer „Briefe an Schriftstellerinnen und Schriftsteller“ vor, herausgegeben von der Urgroßenkelin Cornelia Michél und Albert M. Debrunner

Von Veronika SchuchterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Schuchter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwar kann man nicht behaupten, dass Annette Kolb es in den deutschsprachigen Kanon geschafft hat, doch die deutsch-französische Schriftstellerin gehört mit Sicherheit zu jenen Autorinnen, bei denen Bemühungen, sie der Vergessenheit zu entreißen und ihnen einen angemessenen Platz im kulturellen Gedächtnis zu verschaffen, durchaus fruchten und dabei erfreuliche literaturhistorische und editorische Früchte tragen. Im Fall von Kolb ist die 2017 bei Wallstein erschienene, 4-bändige Werkausgabe ein Gradmesser für die wachsende Aufmerksamkeit, die ihr zugebilligt wird.

Das ist alles andere als selbstverständlich, führt man sich vor Augen, wie schwer Autorinnen es haben, diesen editorischen Ritterschlag empfangen zu dürfen, der sogar so renommierten Schriftstellerinnen wie Marlen Haushofer, die 2020 mit ihrem 100. Geburtstag und 50. Todestag gleich ein doppeltes Jubiläumsjahr begeht, verwehrt bleibt. Typisch für (wieder)entdeckte Autorinnen ist auch, dass das Interesse häufig stark biografisch motiviert ist und die Texte im Hintergrund bleiben. Man kennt Gina Kaus, aber Roman- oder Dramentitel fällt einem keiner ein, man kennt Veza Canetti, aber wer hat schon Die gelbe Straße gelesen. Ganz ist davor auch die wiedererstarkte Rezeption von Annette Kolb, die gerne als schillernde Persönlichkeit beschrieben wird, nicht gefeit, wozu natürlich ihr außergewöhnlicher, für viele Intellektuelle und Künstler der Zeit gleichzeitig typischer Lebensweg und ihre gute Vernetzung mit den größten literarischen Persönlichkeiten von Hugo von Hofmannsthal bis Thomas Mann auch einlädt.

Rechtzeitig vor ihrem 150. Geburtstag am 3. Februar erschien der von Kolbs Urgroßenkelin Cornelia Michél und Albert M. Debrunner herausgegebene Briefband Ich hätte dir noch so viel zu erzählen bei S. Fischer. Darin versammelt ist eine Auswahl von Briefen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller über einen Zeitraum von sechs Jahrzehnten: Der älteste Brief wurde am 19. November 1906 an Julius Zeitler adressiert, das letzte Korrespondenzstück ist eine Postkarte an Elazar Benyoëtz vom 15. Juli 1967, geschrieben wenige Monate vor ihrem Tod im 98. Lebensjahr. Die Auswahl der Korrespondenzpartnerinnen und -partner belegt Kolbs Jahrzehnte andauernde, ungemein gute Vernetzung: Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Erich Kästner, Hermann Kesten, Thomas, Erika und Klaus Mann, Rainer Maria Rilke, Luise Rinser, Romain Rolland, Dorothy Thompson, Kurt Tucholsky und damit ist die Liste noch nicht beendet.

Kolbs Briefe zeigen sie als hellsichtige, scharfsinnige Persönlichkeit. Schon früh erkennt Kolb den Ernst der Lage. Im September 1931 schreibt sie an Max Rychner: „Manchmal läuft doch der ganze heutige Zustand auf ein nicht gerne sterben hinaus. Aber gern leben? Aus heller Verzweiflung möchte ich noch einen komischen Roman schreiben.“ Im März 1932 schreibt sie an „Tucho“ Kurt Tucholsky: „Was soll man da sagen? Man kann sich nur selber wiederholen: Die Farbe der Abgeklärtheit, mit welcher heute so viele ihr Gewissen bestreichen, ist in Wahrheit die der Verschmiertheit. Bleibt nur die Trauer in einer solchen Zeit zu leben, denn zu wirken gibt es nichts.“

Die Briefe aus dem Exil, die mit der Korrespondenz der Vorkriegsjahre den größten Teil des Bandes einnehmen, vermitteln eine Vorstellung von den Bedingungen, mit denen die deutschen Exilanten zu kämpfen hatten. Als Kolb 1941 nach New York flüchtete, war sie schon über 70, allein und von der Hilfe anderer abhängig. Maßgeblich verantwortlich für die Möglichkeit der Emigration in die USA war Hermann Kesten, dem sie 1941, kurz vor ihrer Überfahrt verzweifelt schreibt: „Meine Nerven haben lange gehalten. Aber jetzt wollen sie nicht mehr mittun.“ Kolbs Briefe aus dieser Zeit sind auch ein Zeugnis der Hilfsbereitschaft, der Freundschaft und des sozialen Engagements unter schwierigsten Bedingungen.

Neben dieser (literatur)historischen Komponente, die viele biografische und autobiografische Dokumente von Autoren und Autorinnen mitbringen, sind Kolbs Briefe zudem stilistisch pointiert und ausgesprochen unterhaltsam. Ihr Selbstbewusstsein, ihre bissige Art und ihr Witz machen die Ausgabe zu einem Lesevergnügen, selbst wenn durch den knappen Apparat zum Teil Verständnislücken entstehen. So schreibt Kolb an Alfred Walter Heymel 1909/1910 (Datum nicht genau ermittelt) über Hofmillers Versuch zur Heiligen Katharina von Siena:

Da wäre es füglicher mich zu erwähnen, denn was ich über diese Frau sagte ist wahrlich nicht von Pappe, und zwar Gedanken, die ich da bringe sind origineller und schwerwiegender als das seine; ’s tut mer leid, aber ’s isch e so. Fragen’s nur den Hildebrand, wie der meine Einleitung fand. Aber jetzt bin ich schon wieder giftig, ruhe o mein Herz! Aber halte mir meine manchmalige Giftigkeit zu Gute, lieber Alfred. Es ist nicht der Grund meines Wesens. Aber mein Leben… doch genug, genug! Du siehst, ich sollte gar keine Briefe schreiben.

An dieser Stelle wäre die Information, dass Kolb wohl auf die Einleitung zu den 1906 erschienenen und von ihr übersetzten „Briefe[n] der heiligen Catarina von Siena“ referiert, hilfreich. Auf diese Ausgabe verweist zwar die Anmerkung 6, doch Briefausgaben werden nicht zwangsläufig linear gelesen, weshalb gerade bei einer Edition mit überschaubaren Anmerkungsapparat Zwischenverweise wünschenswert und auch machbar wären. Immer wieder kommt es beim Lesen vor, dass man eine Stelle gerne genauer kommentiert hätte, oder sich gar keine Informationen finden.

Für die Wertung von Briefausgaben sind zwei Dinge ausschlaggebend, zum einen die Bedeutung der Briefe im Sinne einer literarischen, historischen und ästhetischen Relevanz für die Öffentlichkeit, zum anderen die editorische Konzeption, Sorgfalt und handwerkliche Umsetzung. Ersteres erfüllen die Briefe Kolbs und damit auch die Ausgabe ohne jeden Zweifel. Letzteres ist nur mit einigen Abstrichen gegeben. Konzeptionell ist der Band natürlich mehr Leseausgabe als wissenschaftliche Edition und als solche funktioniert er auch hervorragend. Die Briefe sind in fünf Zeitabschnitte gegliedert, denen kurze biografische und historisch einordnende Einleitungen vorangestellt sind. So leistet der Band tatsächlich das von den HerausgeberInnen verfolgte Ziel, „Annette Kolb als Persönlichkeit und Autorin zu vermitteln“. Im Anhang finden sich neben einem Briefverzeichnis und einem Register Kurzbiografien aller Briefadressaten.

Ein etwas konkreterer und besser kontextualisierender Kommentar wäre dennoch wünschenswert, auch für eine Leseausgabe. Gerade (potentielle) Gegenbriefe werden recht stiefmütterlich behandelt. Zudem fehlen Informationen zur Gesamtkorrespondenz. So wäre es für den Leser interessant, wieviel schon erschlossen ist, welche Auswahlkriterien getroffen wurden, welche Editionen es schon gibt. Im Vorwort heißt es dazu nur knapp, dass bisher „nur ein kleiner Teil von Annette Kolbs Korrespondenz veröffentlich worden“ ist. Damit ist wohl der 1987 erschienene, von Hans Bender herausgegebene Briefwechsel zwischen Annette Kolb und ihrem engen Freund René Schickele gemeint. Hier wäre auch ein Hinweis, weshalb gerade Briefe an Schriftsteller und Schriftstellerinnen ausgewählt wurden, nötig gewesen, darüber geben weder Vor- noch Nachwort Auskunft. Bis auf die Tatsache, dass Kolb als Literatin hauptsächlich mit Persönlichkeiten dieser Profession zu tun hatte, erschließt sich das auch aus der Korrespondenz nicht ganz, vor allem, wenn man keine Informationen zur Korrespondenzlage insgesamt hat. Mit wenig Aufwand hätte der Band erheblichen Mehrwert, sowohl für den interessierten Leser als auch für die Wissenschaft haben können. Nichtsdestoweniger ist es sehr erfreulich, dass Annette Kolbs Briefe endlich einer breiten Leserschaft zugänglich gemacht wurden und das, bis auf die angeführten kleinen Kritikpunkte, auf sehr umsichtige Art und Weise.

Titelbild

Annette Kolb: »Ich hätte dir noch so viel zu erzählen«. Briefe an Schriftstellerinnen und Schriftsteller.
Herausgegeben von Cornelia Michél und Albert M. Debrunner.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
318 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974225

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