Der Ferne Klang

Frederik Schneeweiss begibt sich in „Medialität und Musikopoetik“ auf eine sprach-musikalische Spurensuche im Werk des Schriftstellers Gert Jonke

Von Ulrich SchönherrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Schönherr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als ich vor 25 Jahren die erste Monographie zu Gert Jonke vorlegte, der zu diesem Zeitpunkt schon fast in Vergessenheit zu geraten drohte, erschien mir meine Arbeit nicht viel mehr als eine Flaschenpost an eine zukünftige Leserschaft, in welcher sich die vage Hoffnung verbarg, dass eine genuine Rezeption eines der wichtigsten Musikschriftsteller der zeitgenössischen Literatur erst noch bevorstand. Ein Vierteljahrhundert später scheint diese Flaschenpost in Frederik Schneeweiss ihren Adressaten gefunden zu haben, der in seinem Buch Medialität und Musikopoetik. Grenzfälle der Sprache im Werk von Gert Jonke dem Autor eine umfassende Untersuchung gewidmet hat. Während meine Monographie noch die Konstruktionen von Wirklichkeit, literarischer Subjektivität, intertextueller Sinnkonstitution und der Musik separat behandelte, habe ich in den daran anschließenden essayistischen Arbeiten zum Ort der Musik bei Jonke diese Themenbereiche unter „musikopoetischen“ Gesichtspunkten zusammengeführt, um die Dominanz der Musik für das Gesamtwerk zu illustrieren. Jenes heuristische Modell bildet auch den Ausgangspunkt für Schneeweiss’ sehr lesenswertes, 400-seitiges Buch, der auf kreative und wissenschaftlich fundierte Weise (nicht nur) meine Vorarbeiten einer kritischen Reflexion unterzieht (wie die über 135 Zitatverweise demonstrieren) und dabei zu überzeugenden Neuinterpretationen von Jonkes Texten gelangt.

Bereits die Synopsis zu „Gert Jonke und die Musik“ im 1. Kapitel demonstriert, dass sich der Autor der Fallstricke musikliterarischer Forschung sehr bewusst ist, die in der Vergangenheit allzu oft zu theoretisch unhaltbaren Deutungsfantasien führten. Dieses Problembewusstsein wird im anschließenden Kapitel noch vertieft und anhand der Geschichte des Forschungsfeldes zur Relation von Literatur und Musik seit Steven Paul Schers wegweisendem Handbuch von 1984 systematisch bis in die Gegenwart rekonstruiert. Besonders wichtig dabei ist die Fokussierung des Autors auf die im Umkreis der Word and Music Studies Association (WMA) entstandenen Arbeiten zur Semiotik von Sprache und Musik, wobei die von Werner Wolf auf Scher aufbauenden, neu konzipierten Intermedialitätsmodelle eine unverzichtbare Grundlage für jede musikliterarische Forschung bilden. So verfällt auch Schneeweiss in keiner seiner Analysen der Versuchung, Musik und Literatur zu entdifferenzieren, sondern begreift vielmehr beide Medien als distinkte und weitgehend inkompatible Zeichensysteme mit divergenten Zeichenfunktionen. Musik hat allein als beschriebene und versprachlichte ihren Ort in der monomedialen Schrift, verfehlt aber gerade dadurch in der alphabetischen Übersetzung die genuinen Eigenschaften ihres musikalischen Referenzmediums. Oder in Grillparzers Worten: „Beschriebene Musik ist (halt) wie erzähltes Mittagessen.“

Auf die Affinitäten von Jonkes Werk zur romantischen Philosophie, Ästhetik und Musikauffassung wurde in der Sekundärliteratur des Öfteren verwiesen, aber niemals zuvor in der Systematik und Ausführlichkeit wie bei Schneeweiss, der dieser Epoche ein ganzes Kapitel widmet. Die Evolution der romantischen Kunstauffassung von der aufklärerischen Repräsentationsästhetik zur Kunstautonomie bildet dabei den roten Faden, über den Schneeweiss die Exemplarität der (absoluten) Musik für die Literaturkonzeption der Romantiker rekonstruiert. In seinem sehr detaillierten und informativen Rückblick auf die romantische Sprach- und Musiktheorie fasst Schneeweiss die zentralen Ergebnisse der Romantik-Forschung zusammen, wobei hier besonders die grundlegenden Arbeiten von Dahlhaus, Naumann und Lubkoll zu nennen wären. An Beispielen aus E.T.A. Hoffmanns Werk, aber auch Jean Paul, Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ludwig Tieck sowie Friedrich Schlegel und Novalis illustriert der Autor die gesamte Semantik romantischer „Musikopoetik“, in der metaphysische, kunstreligiöse, kosmologische, soziologische und semiotische Theorieansätze genauso zur Darstellung kommen wie somatische, psycho-pathologische und performativ-theatralische, wobei selbst so obskure Theorien wie die Geschichte der „Äolsharfe“ nicht unerwähnt bleiben, die möglicherweise Jonkes Konzept einer Natur- und Sphärenmusik inspiriert haben. Man mag darüber streiten, ob der umfassende Rekurs auf die Romantik in dieser Ausführlichkeit für die Deutung von Jonkes Werk zwingend notwendig war, informativ und lehrreich ist er allemal.

Nach diesen ausführlichen Präliminarien widmet sich Schneeweiss in den Kapiteln IV bis VIII der eigentlichen Textanalyse von Jonkes erzählerischem und dramatischem Werk. Er beginnt seine Interpretationsarbeit mit der langen Erzählung Gegenwart der Erinnerung aus der Schule der Geläufigkeit, der er zu Recht eine wegweisende Stellung für Jonkes gesamte musikliterarische Poetik zuweist:

Dies betrifft in erster Linie die vielfältigen Musikvorstellungen romantischer Provenienz wie etwa die Konzeption des immateriellen Kunstwerks, welches in der ungegenständlichen Musik seine adäquateste Erscheinungsweise erhält; sodann entgrenzende Evokationen selbsttönender Naturlandschaften; aporetische Reflexionen über den Zeichencharakter der Tonkunst, die die Funktionen der Körpergeste und anderer theatraler Elemente miteinbeziehen und nicht selten in avantgardistische Visionen einer lautlosen Musik oder musikalischen Stille münden; schließlich die enge Korrelation von Musik- und Liebesthematik sowie die Sehnsucht von Jonkes Künstlerfiguren nach ihrer Auflösung im eigenen Kunstwerk.

Überzeugend fand ich u.a. Schneeweiss’ Rekurs auf zeitgenössische Performance-Theorien für die Neuinterpretation zahlreicher Textpassagen, insbesondere der Konzertbeschreibungen, ebenso die bislang nur gestreifte Bedeutung von Busonis avantgardistischer Musikphilosophie sowie die Präzisierung der romantischen Fundierung der „Naturmusik“ bei Jonke. Auch die zahlreichen Verweise auf die Gattungstheorien der Komödie erweisen sich als fruchtbarer Ansatz, die zu oft unterbelichtete Funktion des Komischen bei Jonke zu erhellen.

In einem Buch, das im Titel den Begriff „Medialität“ trägt, hätte ich mir allerdings gewünscht, dass Schneeweiss die intermediale Konfiguration des Textes noch schärfer konturiert hätte. Zwar beschäftigt sich der Autor mit dem visuellen Medium der Malerei und der (reproduzierenden) Photographie, dem alphabetischen der Schrift sowie der begriffs- und gegenstandslosen Musik – nicht zu vergessen wäre noch das Übertragungsmedium der Radiophonie –, aber er versäumt es meines Erachtens, die spezifischen Einzelmedien in ihrer Korrespondenz bzw. semiotischen Differenz noch in einem umfassenden Intermedialitätsmodell zu präsentieren, was seine Analyse sicherlich noch hätte bereichern können.

Auch wenn im Kapitel zu Jonkes Der Ferne Klang und Erwachen zum großen Schlafkrieg viele Deutungsansätze in Schneeweiss’ Studie für den Initiierten nicht ganz unbekannt sein dürften, bietet seine klare und konzise Zusammenfassung der Forschung nichtsdestoweniger eine sehr hilfreiche Orientierung für den interessierten Novizen. Darüber hinaus erweitert und vertieft Schneeweiss die nur fragmentarisch ausgeführten Interpretationen früherer Arbeiten durch detaillierte Verweise auf John Cages mehrdimensionales Konzept der Stille, Fritz Mauthners einflussreiche Sprachphilosophie, dessen Allianz von Sprachkritik und (gottloser) Mystik auch für Jonke charakteristisch sein dürfte, sowie durch seine Diskussion von Roland Barthes’ „Körper-Ästhetik der Lust“ und Kristevas sprachtheoretischem Modell des „Semiotischen“ und „Symbolischen“, das allerdings in der konkreten Textanalyse kaum zur Anwendung kommt.

In den drei Schlusskapiteln analysiert Schneeweiss den kurzen Prosatext Der Kopf des Georg Friedrich Händel sowie die Theaterstücke Sanftmut oder der Ohrenmaschinist und Chorphantasie. Zu Recht sieht Schneeweiss in der Erzählung eine narrative Teleologie am Werk, die sich grundlegend von der leeren Zirkularität der Romantrilogie unterscheidet. Statt der üblichen Variationen des Scheiterns steht hier am Ende die künstlerische Vollendung in Gestalt des Oratoriums „Messiah“ als „(neo)romantische Mythologisierung des Schaffensaktes“. In der Engführung von Textanalyse, detaillierter musikgeschichtlicher Kontextualisierung sowie mit Referenzen zum narrativen Kontrastmodell von Stefan Zweigs Portrait Georg Friedrich Händels Auferstehung gelingt es dem Autor, die Singularität dieses Prosastückes innerhalb von Jonkes Werk zu illustrieren.

Weniger „traditionell“ sind die beiden Dramen konstruiert, die den Prozess der Entmaterialisierung der Musik zur reinen Idee bzw. imaginären Vorstellungswelt auch auf der Bühne zu inszenieren verstehen. Auch der Topos vom Verschwinden des Malers im Bild erfährt hier im Verschwinden des Komponisten Beethovens in seiner Musik ihr akustisches Pendant, der am Ende in der Hammerklaviersonate sich im Instrument aufzulösen scheint. Allerdings wird dieser absolute Kunstanspruch immer wieder durch die komische Figur des Adlatus Schindler gebrochen, indem „die immaterielle Musik Beethovens nur im Reden über sie […] existiert“ und so „den Illusionscharakter des Theatralen“ demaskiert.  In radikalisierter Form setzt auch die Chorphantasie jene Erzählstrategie fort, die allerdings nicht einmal mehr des „Computerflügels“ bedarf, um die immaterielle Musik zum Ausdruck zu bringen.

So umfassend auch Schneeweiss’ Interpretationen zu Jonkes „musikopoetischen“ Werk sind, so bedauerlich ist es, dass der Autor versäumt, die stilistisch wie inhaltlich einzigartige lange Novelle Geblendeter Augenblick. Anton Weberns Tod in sein Buch aufzunehmen, welche bislang von der Literaturwissenschaft weitgehend ignoriert wurde. Trotz dieser Desiderata hat Schneeweiss mit seiner Studie einen eminent wichtigen Beitrag zur Jonke-Forschung geleistet, der nicht nur eine zahlreiche (akademische) Leserschaft zu wünschen ist, sondern hoffentlich auch zu produktiver Weiterbeschäftigung mit Jonkes Werk anregt.

Titelbild

Frederik Schneeweiss: Medialität und Musikopoetik. Grenzfälle der Sprache im Werk von Gert Jonke.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
428 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825368333

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