#MeToo-Literatur avant la lettre

Mary Gaitskills Kultbuch „Bad Behavior“ als „Schlechter Umgang“ in deutscher Neuauflage

Von Sandra FolieRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Folie

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer der Charaktere in der Kurzgeschichte Andere Faktoren feststellt, dass „[d]ie Dinge nicht gut oder böse [sind], sie sind einfach“ und die Protagonistin sich daraufhin fragt, „wie man mit Sicherheit sagen konnte, welches die bösen Dinge sind“, kann das als beinahe wortwörtliche Aufschlüsselung des Titels – Bad Behavior – verstanden werden. Das Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, Täterschaft und Opferschaft, Aktion und Reaktion zieht sich wie ein roter Faden leitmotivisch durch die neun Kurzgeschichten. Der ins Deutsche übersetzte Titel, der dem englischen – man ist versucht zu sagen: glücklicherweise – neben- und damit nachgeordnet ist, versagt gerade in diesem wichtigen Punkt: Schlechter Umgang ist ein Klischee, eine platte Ausrede, mit der etwa Eltern ihren Nachwuchs entschuldigen, indem sie Freunde für dessen unerwünschte Entwicklung verantwortlich machen. Die direkte Übersetzung mit schlechtem Benehmen oder Verhalten verspricht hingegen – ebenso wie das erstmals 1988 publizierte Buch – keine einfachen Erklärungen, Schuldzuweisungen oder Freisprechungen.

Das Spiel mit den oft nur vordergründig sexuellen Erwartungshaltungen der Charaktere, Leser und Leserinnen entfaltet sich bereits in der ersten Kurzgeschichte Daisys Valentinsgruß, die mit dem Satz „Joey spürte, dass seine Romanze mit Daisy möglicherweise sein Leben ruinieren würde, aber das hielt ihn nicht zurück“, beginnt. Die in diesen Eröffnungsworten steckende Ankündigung einer unabwendbaren zwischenmenschlichen Tragödie erfüllt sich ebenso wenig, wie das oft langsam und mit großer Kunstfertigkeit aufgebaute erotische Potential. In Passagen, in denen auf explizite sexuelle Avancen ein lapidar-teilnahmsloses „Mal sehen“ folgt, wird jegliche Erotik bereits im Keim erstickt. Wer in den Kurzgeschichten von Mary Gaitskill Leidenschaft oder gar Pornographie sucht, wird diese zwar stellenweise finden, jedoch vielmehr als Flucht- denn als Höhepunkte. Als etwas, an das sich die Charaktere erinnern, das sie sich vorstellen und herbeisehnen, das aber nie eigentlich „ist“.

Die Schwierigkeit der Umsetzung erotischer Vorstellungen, selbst wenn ein gewisser Konsens zwischen den Akteur_innen besteht, wird in der Kurzgeschichte Ein romantisches Wochenende vorgeführt. Während der Reiz für den männlichen Protagonisten darin besteht, die Frau dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie nicht tun will, macht sie, die selbsternannte Masochistin, deutlich, dass sie nichts tun wird, was sie nicht tun will: „Du musst mich dazu bringen, es zu wollen.“ Er ist es gewohnt, Unterwerfung zu erzwingen bzw. sich diese von Prostituierten zu erkaufen, was ihr schrecklich „banal“ erscheint. Dass sie die freiwillige Unterwerfung zur „höchste[n] Form der Liebe“ stilisiert, erscheint ihm wiederum naiv und „zum Kotzen“. Erst nach einem Wochenende verfehlter Kommunikation und ebenso verfehlter sexueller Befriedigung dämmert den beiden, dass es nicht um das Überführen einer vermeintlich gemeinsamen Fantasie in die Realität gehen kann, sondern vielmehr darum, als Figuren in der Fantasie des jeweils anderen zu funktionieren.

Unterschiedliche Versionen von Geschichten und Erinnerungen werden nicht nur in Bezug auf sexuelle und Liebesbeziehungen durchgespielt, sondern nehmen auch in Frauenfreundschaften eine zentrale Rolle ein. Als Susan, die Protagonistin der Kurzgeschichte Verbindung, glaubt, in einer heruntergekommenen Tütenfrau eine ehemalige Freundin zu erkennen, stellt sie angewidert fest, dass sie nicht nur helfen, sondern vor allem auch „den Genuss an der Herablassung auskosten“ möchte: „Es schien, als sei ihre Freundschaft mit Leisha nie eigentlich das gewesen, was sie heute als echte Freundschaft bezeichnete, sondern vielmehr ein komplexes System von Bestätigung und Kultivierung selbstgefälliger Phantasien, die sie zwischen sich aufgebaut und unermüdlich hin- und hergespielt hatten.“ In Andere Faktoren trifft Connie nach vielen Jahren erstmals wieder auf Alice, die ihr in einer schwierigen Lebensphase die Freundschaft gekündigt hatte. Tat sie dies, weil für sie „die bloße Vorstellung, jemand könnte ein Opfer sein, absolut entsetzlich“ war? Oder hatte Connie mit ihrer Art, „den Leuten [ihre] Verletzlichkeit mitten ins Gesicht zu schaufeln“, den Bruch provoziert?

Die Frage nach Provokation oder vielmehr einem Gefühl von Mittäterinnenschaft stellt sich am wohl eindrücklichsten in der Kurzgeschichte Sekretärin, die auch als einzige nicht in der dritten, sondern in der ersten Person erzählt wird. Die High-School-Absolventin Debby tritt darin ihren ersten Job in einer Anwaltskanzlei an und wird nach einigen Wochen für ihre wiederholten Tippfehler in Geschäftsbriefen gerügt. Zur Strafe hat sie sich über den Schreibtisch ihres Chefs zu beugen, der ihr den Hintern versohlt. Anstatt danach „in eine Art von Stumpfheit zu versinken“, scheint alles wie immer, außer dass Debby abends im Bett eine nie dagewesene Erregung empfindet. Eines Tages befiehlt der Anwalt ihr, sich hinten rum frei zu machen. „Sie haben hoffentlich keine Angst, dass ich Sie vergewaltigen könnte“, sagte er. „Keine Sorge. So etwas interessiert mich nicht, ganz und gar nicht.“ Wenig später ejakuliert er auf sie. Debby rechnet damit, ohnmächtig zu werden oder sich erbrechen zu müssen, masturbiert jedoch unmittelbar danach auf der Bürotoilette. Mit derselben Selbstverständlichkeit, wie der Anwalt sich bereits im Vorhinein von einem Sexualdelikt freisprach, erkauft er nach Debbies Fernbleiben von der Arbeit ihr Schweigen, das jedoch nicht gleichzusetzen ist mit ihrer Opferschaft: „Ich fühlte mich nicht wie eine Hure oder so was. Ich hatte das Gefühl, das Richtige zu tun.“

Die Leser und Leserinnen werden mit so unterschiedlichen und dynamischen Auffassungen vom „Richtigen“ und „Falschen“, „Guten“ und „Schlechten“ konfrontiert, dass die Konzepte verschwimmen und ohne ihren je spezifischen Kontext – ihre Situiertheit – beinahe zynisch anmuten. Die Kurzgeschichten in Bad Behavior erweisen sich als fordernde Lektüre. Weniger sprachlich oder narratologisch als vielmehr ethisch. Dennoch ist auch die Sprache eine sehr bewusst gewählte, die sich in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Hansen (bis auf die nicht übertragenen, zahlreichen und sehr irritierenden „Yeahs“) flüssig liest. Fast zu flüssig, sodass einem der Einsatz sprachlicher Klischees und ihre Entlarvung bei der ersten Lektüre fast entgehen könnte. Wenn der 59-jährige Freier auf die Frage einer Prostituierten, warum er ins Bordell gehe, antwortet, es wäre eben ein „Abenteuer“ für ihn. „Was Nettes“, das er sich und seiner „sehr erfolgreichen Ehe“ etwa ein Mal im Monat gönne, steckt in dieser Wortwahl bereits ein ganz bestimmtes Welt- und vor allem auch Geschlechterbild. Dem Wörtchen „nett“ ist bei Gaitskill mindestens ebenso skeptisch zu begegnen wie allem Erfolgreichen, Normalen oder auch Ruinösen. Superlative und Euphemismen kündigen mit großer Regelmäßigkeit nicht nur sprachliche Verblendungen an.

Mit dem Nachwort hätte keine geeignetere Autorin betraut werden können als Kristen Roupenian. Ihre 2017 im New Yorker erschienene Erzählung Cat Person, die von einem toxischen Date handelt und im Zuge der MeToo-Debatte viral ging, wurde wiederholt mit Mary Gaitskills Werk verglichen. Ein Vergleich, den Roupenian ebenso wertschätzt wie auch relativiert und historisiert, indem sie darauf verweist, dass „nicht ausschließlich in Debütsammlungen junger Schriftstellerinnen nach Spuren ihres [Gaitskills] Stils“ gesucht werden sollte „und auch nicht nur in Büchern, die sich explizit mit ausgefallenem Sex beschäftigen“. In die von ihr angedeutete Abstammungslinie (Jean Rhys, Fanny Howe, Danzy Senna, Natasha Stagg, Myriam Gurba) würden sich auch Bestseller wie Rona Jaffes The Best of Everything (1958; dt. Das Beste von Allem, 2018) oder Mary McCarthys The Group (1963; dt. Die Clique, 2015) einfügen, die – entgegen ihrer derzeitigen Vermarktung als chick lit – bei ihrer Erstveröffentlichung ebenso polarisierten wie Gaitskills Kurzgeschichten in den Achtzigern oder Roupenians Cat Person (dt. 2019) heute.

Die Beständigkeit und Ambivalenz, mit der soziale und ökonomische Machtdynamiken und Sexualität in der Literatur von Frauen miteinander verknüpft werden, deutet auf eine Komplexität hin, die sich mit einem Hashtag wie #MeToo und 280 Unicode-Zeichen auf Twitter nur schwer fassen lässt. Mary Gaitskill trägt dieser Komplexität in jeder einzelnen Geschichte in Bad Behavior – wie auch in ihrer neuesten Novelle This is Pleasure (2019 im New Yorker) – Rechnung.

Titelbild

Mary Gaitskill: Bad Behavior. Schlechter Umgang. Storys.
Mit einem Nachwort von Kristen Roupenian.
Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen.
Blumenbar Verlag, Berlin 2020.
270 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351050795

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