Die Flucht aus dem Setzkasten

Simone Lapperts vielversprechender Roman „Der Sprung“ zeigt die Risse im Alltag von Kleinstadtbewohnern

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die junge Gärtnerin Manu auf dem Dach eines Mietshauses randaliert, sieht alles nach einem Suizidversuch aus, woraufhin eine große Gruppe Schaulustiger das Geschehen über zwei Tage hinweg beobachtet ­– wie die junge Frau flucht, Gegenstände hinunterwirft und sich weigert, herunterzukommen. Doch um Manu geht es in Der Sprung von Simone Lappert nur am Rande. Es geht um ihren fürsorglichen Freund Finn, um den Polizisten Felix, der sie von ihren Suizidplänen abhalten möchte, um das Ehepaar Theres und Werner, dem ein kleiner Lebensmittelladen in Reichweite des Schauplatzes gehört. Im Ganzen erzählt die Autorin von zehn Menschen, die in ganz unterschiedlichen Lebens- und Gefühlssituationen stecken und auf die sich Manus Entscheidung an jenem Dienstagmorgen direkt oder indirekt auswirkt.

Der Sprung ist Simone Lapperts zweiter Roman und erfährt ein lautes Presse-Echo – ob im Feuilleton überregionaler Zeitungen, in Literatur-Podcasts oder auf Buchblogs: Die Rezensent*innen äußern sich begeistert zu der geschickt erzählten Geschichte und bezeichnen die Autorin unter anderem als „Aufsteigerin der Literatursaison“. Das liegt auch an der Empathie für ihre Figuren, die auf jeder Seite zu spüren ist, ohne ins Kitschige abzudriften.

Zunächst erweckt es den Anschein, als sei Lapperts Roman eine Ansammlung von Kurzgeschichten, die einzelne Einwohner der fiktiven Kleinstadt Thalbach vorstellt. Sie leben ihren tristen Alltag nebeneinander her, grübeln über falsche Entscheidungen und geplatzte Lebensträume.

Als abgründigen Setzkasten sah er Thalbach vor sich, ein Sammelsurium an Wut und angestauten Ressentiments, lauter hilflose Erwachsene, in deren Gerippe sich das verletzte Kind verwachsen hatte, das sie einmal gewesen waren und das sich Bahn brach, wann immer Müdigkeit oder Überforderung es möglich machte. Ein paar Minuten lang versilberte der Mond die Dächer und verniedlichte die Aussicht, machte es fast unvorstellbar, dass irgendwo gerade jemand zu einem Schlag oder einem Schimpfwort ausholte. Hinter immer mehr Fenstern gingen die Lichter aus.

Doch dies sind nur Vorbereitungen auf Manus Sprung, der alle beschriebenen Personen betreffen wird und woraufhin sie sich Fragen stellen, deren Antworten sie in Staunen und Zweifel versetzen. Genau dieses Staunen hält während des Lesens an und nach und nach fügt die Autorin ein Puzzlestück an das nächste – bis ein Bild entsteht, das alle Verflechtungen, Beziehungen und Lebensgeschichten dieser Thalbacher in sich vereint.

Neben der geschickten Verzahnung der einzelnen Kleinbürger-Schicksale spricht die Autorin auch einige gesellschaftskritische Punkte an. Der Roman hält einen Spiegel vor – uns, die an vielen Schicksalen nichtsahnend vorbeigehen oder ihnen voreingenommen gegenüberstehen. Der Roman handelt von Passivität und Aktivität und all den Entscheidungen, die dazwischen liegen. Dass die Autorin die Leser*innen fast gänzlich über die Schlüsselfigur Manu im Dunkeln lässt und ihre Geschichte erst auf den letzten Seiten preisgibt, ist ein weiterer gelungener Kniff. Der Sprung ist ein verblüffender und bemerkenswerter Roman einer jungen Autorin, von der wir in den nächsten Jahren hoffentlich noch mehr lesen dürfen.

Titelbild

Simone Lappert: Der Sprung. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
334 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070743

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