Die ästhetische Vermessung des Schmerzes

Hélène Cixous entspinnt in „Meine Homère ist tot …“ einen düsteren und unendlich sprachmächtigen lyrischen Reigen unvergesslicher Todes- und Lebensreflexionen

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich bleibt keine andere Möglichkeit, als den Spuren dieses derart singulären Textes so zu folgen, wie er tiefenstrukturell angelegt ist: Beginn und Anfang werden einer labyrinthischen Wiederkehr durchlebter Motive ähnlich mit einer Art mythischer Verklammerung durch die Ahnung des Todes zusammengehalten. Medial vielschichtig aufgefangen durch die formale Freiheit eines Tagebuchs begleitet die französische Schriftstellerin Hélène Cixous die letzten Lebensjahre ihrer Mutter, teilt und dupliziert zugleich das Leiden letzterer als ihr eigenes und lässt diesen Kampf zur lyrischen Litanei gerinnen.

Tastend, korrigierend, immer wieder neu entwerfend ist diese sprachliche Ich- (und zugleich Nicht-)Werdung ein räumliches Phänomen: Es folgt einer 1910 geborenen Mutter, die das dreifache Verschwinden von Vater, Ehemann und (algerischer) Nation zu verkraften hat und ihr Leben infolgedessen als fortwährendes Provisorium begreifen muss. Das Ur-romantische Reisemotiv gilt so fortan als Movens der Aufzeichnungen (auch bezogen auf die Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch) – oder wie Cixous in unnachahmlicher Weise umschreibt: „Die miteinander vermengten reisenden Frauen gehen taumelnd weiter in magischer Blindheit.“ Parallel dazu treibt das Hebammen-Motiv (als Beruf der alternden Protagonistin) ein vielgestaltiges Spiel mit Leser und Leserin – erleben diese doch die Geburtsstunde eines Textes im Zusammenhang mit dem konträr dazu liegenden langsamen Tod der handelnden Figur.

„Man kann nur unter dem Banner der Ambivalenz aufbrechen.“

Keine Frage, Cixous‘ Annäherungen tragen bildungsbürgerliche Indices und entwickeln einen komplexen Dialog zwischen zwei Individuen, die sich intellektuell zu transzendieren wissen, die derart traumwandlerisch durch Bildungslandschaften schreiten, dass das alltägliche Ringen um die nächste Mahlzeit, das Gespenstische der Trauer und die Möglichkeiten der eigenen Erinnerung fast mythisch-zeitenthoben erscheinen: Im Gefolge ihrer Ilias-Lektüre wird die sorgsam gesponnene Zweisamkeit der Figuren in der Krise zum aufgeladenen Kriegsgebiet, Schlachtfeld und waste land – hier wird im „Geleit aus Ängsten“ „Wache gestanden“ in einer „verwüsteten Welt“, hier werden Mutter und Tochter zu Hektor und Priamos.

Man kann das überdimensioniert finden – wenn es jedoch derart stilsicher mit der eigenen Stimme verwoben wird wie in diesem Fall, dann erscheint vor den Augen des Rezensenten ein großes Werk, das philosophische Existenzialreflexionen zum Tod in den Niederungen des Alltags kommentierend begleitet und dennoch nie lapidar wirkt. Dazu spielt Cixous die ganze Breite der poetischen Klaviatur, durchdringt die poetische Form durch Klangexperimente, Großschreibungsformen, graphische Symbole und Fotografien handgeschriebener Texte und flechtet zudem konkrete Untersuchungen am Material der verwendeten Sprache ein.

Mutter und Tochter werden auf diese Weise zu symbiotischen Figuren der Abhängigkeit (das Versprechen der Tochter „ich bin da“ korrespondiert mit dem mütterlichen seitenfüllenden Hilfeschrei „hilfmiaa“) und des gleichzeitigen Dementis (durch die Trennung des Todes). Gerne würde man diesem existenziellen Dialog weiter folgen, doch enden die Arbeiten der Lebensmetamorphose und der Mutation, der fortwährenden Veränderung mit dem Nullpunkt des Todes – wenngleich das Wiedererkennen in der Mutter die zyklische Qualität der Natur untermauert.

Titelbild

Hélène Cixous: Meine Homère ist tot ….
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Simma.
Passagen Verlag, Wien 2019.
203 Seiten, 25,60 EUR.
ISBN-13: 9783709203248

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