Vom Meer, der Liebe und der Pflicht

Bram Stokers Erzählung „Der Zorn des Meeres“ ist vor allem kitschig

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann zwischen Liebe und Pflicht: Willy Barrow, genannt Sailor Willy, ist „oberster Bootsführer im Dienst der Küstenwache“. Als solcher hat er einem Leutnant das Leben gerettet und wurde befördert „für seine geschickte Verhaftung von Schmugglern, bei der er nicht nur großen Mut, sondern auch Tatkraft und Improvisationstalent bewiesen hatte“. Verlobt ist er mit der jungen und hübschen Maggie McWhirter, deren Vater sich hoch verschuldet hat, weil die Fischerei nicht mehr viel einbringt. Eines Nachts gesteht sie ihm, dass ihr Vater sich zur Schmuggelei bereit erklärt hat, um seine Schulden loszuwerden. Und Willy? Hält er zu seiner Liebsten oder zu seiner Behörde?

Bram Stoker ist weltberühmt und zwar als Autor des einflussreichsten Buches der Horrorliteratur, Dracula. Alle weiteren Texte sind mehr oder weniger vergessen: seine Kriminal- und Abenteuergeschichten, Märchen und Gedichte, das Buch über die größten Betrüger der Weltgeschichte oder die Biografie über den Schauspieler Henry Irving, für den Stoker als Manager gearbeitet hat. Nur sein Handbuch über die Pflichten irischer Gerichtsbeamter (Stoker war Beamter bei der Dienstaufsichtsbehörde der Justizverwaltung in Dublin Castle) – bis 1960 Standardwerk – war zumindest in bestimmten Kreisen bekannt. Dass außer Dracula beinahe alles vergessen ist und fast keines seiner Werke jemals ins Deutsche übersetzt wurde, hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie einfach nicht besonders gut sind – seine Erzählung Der Zorn des Meeres jedenfalls ist es nicht. Sie ist Kitsch.

Man kann das dünne Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen, um Belege dafür zu finden: „Willy ließ abermals sein selbstsicheres, männliches Lachen vernehmen, das Maggie, trotz ihrer Sorgen, mehr denn je an ihm liebte.“ Oder: „Dann kam der Moment, da der Sturm mit einem letzten Aufgebot all seiner Kräfte den Kelch seines Zorns bis zur Neige leerte, wobei das dahinsausende Boot in einer Nebelschwade verschwand“, während „Nebelfetzen im ersten Licht des Morgens weiß schimmerten wie die Flügel eines Boten des künftigen Friedens.“

Willy „sprach so streng zu ihr, dass jedes Wort sie wie ein Peitschenhieb zu treffen schien, bis sie sich geduckt und zitternd von ihm abwandte.“ Und vorher: Maggie „wandte […] sich mit einem langen, unbändigen, flehenden Blick gen Himmel, als wollte sie um etwas bitten, das sie nicht einmal in Gedanken zu äußern wagte, und schließlich noch einmal an ihren Geliebten“. Dann aber wird ihr „schlagartig bewusst, zu was sie ihrem Liebsten, in den sie sich vor allem deshalb verliebt hatte, weil er stark, tapfer und treu war, überreden wollte“. Hinzu kommen auch noch antisemitische Züge, denn der Mann, dem der alte McWhirter so viel Geld schuldet, heißt Solomon (!) Mendoza und hat eine „stark gekrümmte Nase und ein böses Lächeln“ – die Karikatur eines jüdischen Wucherers.

Die Geschichte ist dabei eigentlich recht einfach: Willy muss Schmuggler jagen und festnehmen. Der alte McWhirter lässt sich überreden, für Mendoza Tabak und Alkohol zu schmuggeln, sonst pfändet er ihm sein Schiff. Maggie will ihren Verlobten überreden, für ihren Vater ein Auge zuzudrücken, was der aber aus Pflichtbewusstsein weder will noch kann. Daraufhin fährt sie in einem kleinen Boot mitten im Sturm dem Schiff ihres Vaters entgegen, überredet ihn, die Schmuggelware über Bord zu werfen und lieber arm zu leben als im Gefängnis zu landen. Bei der Rückfahrt stirbt sie, und als Willy ihren Leichnam findet, stirbt auch er.

Was den Mare-Verlag dazu bewogen hat, ausgerechnet diese Kolportage zu veröffentlichen, sind wohl die wuchtigen, sinnlichen und oft geradezu überwältigenden Beschreibungen des stürmischen Meeres, der zerklüfteten Felsen und Klippen der schottischen Küste. Da mildert sich Stokers Kitsch ein wenig ab und wird stattdessen schwärmerisch, wenn auch immer ein wenig umständlich: Am Steilufer „öffnet sich die Kluft erneut zwischen hoch aufragenden Felsen, wie ein amerikanischer Canyon, und läuft zwischen zweihundert Fuß hohen Klippen über ein Bett aus großen Felsblöcken, die bei Ebbe am nördlichen Ende herausragen, nach Süden zum Meer. Die linke oder östliche Klippe weist zwei große Spalten auf, durch die bei Sturm die Gischt und das Sprühwasser der vom Ostwind aufgetürmten Wellen in die Castle Bay gefegt werden. […] Genau an der Mündung öffnet die Kluft sich nach Westen, wo die Klippe zurückweicht und seewärts große Mengen schwarzer, bedrohlicher Felsen aufragen, die meisten verraten ihre Anwesenheit, bei Flut nur durch schäumende Gischtflecken, und Letztere markieren sie sogar bei Windstille.“

 

Titelbild

Bram Stoker: Der Zorn des Meeres.
Aus dem Englischen von Alexander Pechmann.
Mare Verlag, Hamburg 2020.
128 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783866486133

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