Unarten

Ein Sammelband untersucht „das Gesetz der Gattung“ im Werk Kleists

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich von Kleist erregte mit seinen Texten „‚gender‘ wie ‚genre trouble‘“ gleichermaßen, schreibt Günter Blamberger, langjähriger Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in seiner großen Kleist-Biografie, die 2011 pünktlich zum 200. Todestag des unzeitgemäßen, lebenslang unbehausten Bricoleurs, Experimentierers, Projektemachers und Grenzgängers erschienen ist. Kleist, der „Konflikttheoretiker“ und „Gefühlsextremist“ (Blamberger), war bekanntlich als Autor gleichermaßen ein Vormoderner wie auch ein Postmoderner. Der Offizierssohn aus preußischem Adelsgeschlecht, dem bekanntlich ‚auf Erden nicht zu helfen‘ war, war einer der Gattungs- und Zuordnungsgrenzen in seinem Œuvre überstieg.

Unter dem Titel Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung versammeln Andrea Allerkamp, Matthias Preuss und Sebastian Schönbeck als Herausgeber die Beiträge einer Frankfurter Tagung aus dem Jahr 2015, die sich dem Gattungsgrenzen übersteigenden, vermischenden aber auch ‚dergestalt‘ verbindenden und überbietenden Schreiben Kleists widmete. Werner Frick hat in anderem Kontext Kleists Texte als „Gestus einer kalkulierenden Ent-Disziplinierung und Ent-Spezialisierung“ gelesen. Dabei war sich Kleist, wie die Herausgeberin und die beiden Herausgeber in der Einleitung des vorliegenden Sammelbands schreiben, „wie kaum ein anderer der Medialität seines Schreibens bewusst“. Denn seine Texte tendieren – zu einer Zeit, als um 1800 „Gattungen zum Problem“ werden – „wenn sie sich überhaupt generisch festlegen, zu anderen Gattungen“, resümieren die Herausgeber in der Einleitung.

Um es gleich vorweg zu sagen: Herausgekommen ist ein elaborierter und theoretisch hochreflektiert argumentierender Sammelband, der, wie auch Adrian Robanus in seiner ausführlichen Besprechung im Kleist-Jahrbuch 2019 festgehalten hat, Gattungsdiskussionen produktiv macht. An manchen Stellen weist der Tagungsband jedoch jene Eiger-Nordwand-Qualitäten für Extremphilologen auf, von der jüngst Kurt Oesterle mit Blick auf Hölderlin süffisant gesprochen hat. Oder es zeigt sich – so Gerhard Bauer in seiner Rezension in Das Argument 332/2019, im Rückgriff auf eine Studie von Michael Niehaus ein „erschöpfendes Interpretieren“. Gleichsam mit einem Kleistschen „gleichviel“ sollte diese Tatsache vielleicht gerade in Corona-Zeiten, da der körperliche Bewegungsradius reduziert und nicht ausgeschöpft werden mag, für den geistigen Bewegungsdrang auch kein Hemmnis sein.

An mindestens fünf Stellen ist im Werk Kleists explizit von „Unart“ die Rede, wie ein Blick in die hervorragenden Kleist-Seiten von Günter Dunz unter www.kleist-digital.de zeigt. So ist etwa zu Beginn des Prinzen von Homburg von einer „bloße(n) Unart seines Geistes“ die Rede, wenn die Sprache auf den schlafenden und somnambulen Prinzen kommt. Zudem taucht das Wort in den Briefen an Wilhelmine von Zenge im September 1800 im Zuge jener sagenumwobenen Reise nach Würzburg auf, wenn Kleist „über die Bestimmung unseres ewigen Daseins nachzudenken“, räsoniert. Er moniert, dass er in der Vergangenheit die „Unart“ von Denkern wie Epikur, Leibniz oder Kant angenommen habe, die zu sehr in der Zukunft leben und „vergessen darüber was die Gegenwart von ihnen fordert.“

Ähnlich formuliert der Dichter im Februar 1801 an seine Lieblingsschwester Ulrike: „Aber ist es nicht eine Unart nie den Augenblick der Gegenwart ergreifen zu können, sondern immer in der Zukunft zu leben?“ Und wenige Monate später, Ende Juli 1801, heißt es in einem Brief an Adolphine von Werdeck: „Ach, es ist meine angebohrne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können, u. immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, u. in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist.“ Ende Oktober 1807 schreibt Kleist, erneut an die Werdeck: „Ach, es ist meine angebohrne Unart, nie den Augenblick ergreifen zu können, u. immer an einem Orte zu leben, an welchem ich nicht bin, u. in einer Zeit, die vorbei, oder noch nicht da ist.“ Ende Oktober 1807 schreibt Kleist, wiederum an Adolphine von Werdeck: „Ich bin, was das Gedächtniß meiner Freunde anbetrifft, mit einer ewigen Jugend begabt, und dies seltsame Bewußtsein ist allein Schuld an der Unart, nicht zu schreiben.“

Wenn von „Unart“ die Rede ist, ist natürlich der Begriff der „Art“ nicht weit; www.kleist-digital.de verzeichnet immerhin 183 Fundstellen. Entsprechend häufig wird daher auch im vorliegenden Band, dessen Untertitel sich auf Derridas Text „Das Gesetz der Gattung“ bezieht, Unart meist in Beziehung zu Text-Art und zu Text-Gattung gebraucht, jedoch auch am Ende auf Tierarten in Kleists Werken, insbesondere „Bären, Hunde, Pferde“, bezogen.

„Gattungsarbeit: System, Klassifikation, Form“ ist das erste Kapitel überschrieben, unterteilt in die Untereinheiten „Gattungsgeschichten“ sowie „Reproduktion und Repräsentation“, während das zweite Hauptkapitel unter dem Titel „Briefverkehr: Einstiege, Unfälle, Übersprünge“ ‚nur‘ aus dem Beitrag des Kleist-Preis-Trägers Marcel Beyer, überschrieben mit „The fast and the furious, Juni 1801“, besteht. Das dritte Hauptkapitel gilt „Spezifika: (Un-)Arten und kleine Formen, unterteilt in „Schreibarten: Anekdote, Novelle, Essay“ und eben „Tierarten: Bären, Hunde, Pferde“.

Neben der knappen Einordnung der 17 Aufsätze untersuchen Allerkamp, Preuss und Schönbeck einleitend „Kleists Gattungsarbeit an Brief und Tragödie“. Ausgehend vom ersten erhaltenen Brief Kleists vom 13. März 1793 an die „Gnädigste Tante“ Auguste Helene von Massow mit der Einstiegsfrage: „Was soll ich Ihnen zuerst beschreiben, zuerst erzählen?“ über die verschiedenen Texte, die Kleist als Briefe überschrieben hat – wie etwa „Brief eines jungen Dichters an einen jungen Mahler“ oder „Brief eines Dichters an einen anderen“ – bis zu jenen Briefen vor dem Freitod, wird klar: „Kleists Briefe vollziehen oft fließende Übergänge zwischen Dokument, Biografie, Schauspiel, Lehre, Exerzitium, Selbstgespräch, Essay oder Dialog. Sie enthalten eine eigene Gattungstypologie.“

„Unartigkeit“ erscheint in den Briefen zunächst „als Verstoß gegen Normpoetiken“. Dabei geht Kleist noch über Gellerts Briefpoetik hinaus, „indem er gleich mehrere Briefsorten miteinander kombiniert: Gellerts Gesprächsmodell, den philosophisch-aufklärerischen Brief, den Gelehrtenbrief, den auf Introspektion und Seelenkunde zielenden autoreflexiven Privatbrief, sowie den romantischen Brief.“

Anhand der Familie Schroffenstein machen die Herausgeber einleitend deutlich, dass „Kleists Gattungstheorie ihren Ort im Trauerspiel selbst“ hat, wobei diese zugleich reflexiv über den Text hinaus auf andere Texte weist und der Text selbst jeweils umgekehrt „zu anderen Gattungen“ tendiere: „So stößt sich etwa die Tragödie im Schauspiel (Spiel im Spiel) von sich selbst ab und strebt in andere Richtungen; sie nähert sich der Komödie oder der Groteske an oder tendiert – etwa indem sie sich weigert, bühnenreif zu werden – zur Anekdote.“

Wie Blamberger spricht Werner Michler, der 2015 die Monografie Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750-1950 vorgelegt hat, in seinem Aufsatz unter dem Kleist-Zitat „Alles, was eine Gestalt hat“, ebenfalls von „genre trouble“. Das führe etwa Kleists Verlobung vor, indem sie eben „nicht bloß mit „gender trouble oder race-class-gender trouble“ zu tun habe. Der Text wolle erzählerisch als Gattungsarbeit „die Funktion von Klassifikationen überhaupt testen“.

Stefan Färber widmet sich der „Logik des Genuinen und ihre(r) Genealogie aus der Logik“. Dabei untersucht er die Figur der Einzigartigkeit vor dem Hintergrund der aristotelischen Poetik. Während Sophie Witt sich unter dem Titel „Psychosomatik und Theater“ dem „prekäre(n) Gesetz der Gattung bei Schiller und Kleist“ widmet und Penthesilea als „theatrale Anthropologie“ liest, wobei am Ende ästhetische und anthropologische Grenzen zusammenfallen und Die Familie Schroffenstein als deren ‚Vorspiel auf dem Theater‘“ begreift, untersucht László F. Földényi das „absolut Böse“ bei Kleist mit Verweisen unter anderem auf Marquis de Sade und Gregory Lewis.

Andrea Allerkamp zeigt unter dem Titel „Urszenen der Zerreißung“ die „Überschreitung von Gattungsgrenzen in Penthesilea“. Sie macht deutlich, dass bereits mit der „Nennung einer Gattung“ – nämlich Pethesilea. Ein Trauerspiel – sich bei Kleist deren Vielfalt und ihr Zerfall ankündige. Komödie und Tragödiengrenzen werden ebenso überschritten wie die zwischen Mann und Frau und Mensch und Tier.

„Koboldartiges beieinander“ unter „queertheoretische(r) Perspektive“ sieht Katrin Pahl im „Unbehagen an den Geschlechtern“ unter anderem im Amphitryon verwirklicht. Kleist entwickle „Figuren, die mehr oder weniger unmerklich die zu seiner Zeit massiv durchgesetzte binäre Geschlechterordnung auflösen und die normativ eingeschränkten Möglichkeiten und Fähigkeiten, wahrzunehmen, zu verstehen, zu fühlen und zu handeln, erweitern und verändern.“

Das Mischwesen Kunigunde als „das negative Zentrum des Schauspiels“ Das Käthchen von Heilbronn rückt Matthias Preuss in seinem Beitrag in den Mittelpunkt, in dem er diese zusammengesetzte Figur als Gräuelwesen vor dem Hintergrund von Debatten der Zeit in „Naturgeschichte und Naturphilosophie“, „Poetik und Ästhetik“ befragt. Das Käthchen von Heilbronn erscheine so als eine „Studie der Konventionalisierung radikaler Gesten und der Radikalisierung von Konventionen“, ohne, dass sich Kleist weder auf die eine oder andere Seite schlage.

Eine gleichermaßen überzeugende wie listige „Überinterpretation“, die „gerade nicht aus dem Gravitationsfeld von Kleists Literatur herausführt, sondern den Trugbildern von Kontingenz und Signifikanz im Spiegelkabinett seiner Unarten verhaftet bleibt“, bietet Alexander Kling in seinem Beitrag „Schlachtung spielen. Zum Fall unartiger Kinder in den Berliner Abendblättern“. Kleists antiklassizistisches „Spielkonzept der Indifferenz bzw. der Entdifferenzierung“ führt immer einen „Sog an Mehrdeutigkeiten“ mit sich, indem Wahrheitsproben im Spiel „selbst als mehrdeutig und störanfällig“ vorgeführt werden.

Der berühmte Postkutschen(un)fall bei Butzbach infolge eines Eselsgeschreis ist für Marcel Bayer Ausgangspunkt der Kleistschen Autorschaft: „Ein Esel schreit – und Heinrich von Kleist reagiert darauf mit einer Briefpassage, die sich als klug komponierte, konzise Binnenerzählung erweist“. Der Zufall dieses Un- und Umfalls ist übrigens auch Ausgangspunkt der eingangs zitierten Kleist-Biografie von Günter Blamberger.

Während im ersten Teil des dritten Kapitels Rüdiger Campe „Kleists Journalismus und die Anekdoten“ als eine neue Form der Prosa der Zeit liest, eben als eine Nachricht in meiner, für meine und aus meiner Welt, behandelt Johannes F. Lehmann „(Un-)Arten des Faktischen. Tatsachen und Anekdoten“ in den Berliner Abendblättern. Dabei gehe es letztlich um die erzwungene „Reflexion einer Gegenwart, die sich selbst nicht gegenwärtig ist“. Pablo Valdivia Orozcos Blick gilt „Exemplum und Novelle“ als einer „Mängelgattung bei Cervantes und Kleist“.

„Verfahren zur Destabilisierung und Restabilisierung vermeintlich gefestigten Wissens“ analysiert Dan Gorenstein im Beitrag „Experimentelle Maieutik“ als verbindendes Glied zwischen Kleists Essay „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ und den naturwissenschaftlichen Verfahren seiner Zeit.

Tierisch geht es in der letzten Abteilung des dritten Kapitels zu: Dietmar Schmidt blickt vor der Folie der „Tierseelenkunde“ der Zeit Kleists auf dessen Marionettentheater und seine anthropozentrischen Grenzüberschreitungen. „Komplexe Stellvertretungen“ sieht Roland Borgards in Kleists Tierdrama Die Hermannsschlacht am Werk: „Die Bärin-Szenen stehen (…) stellvertretend ausgerechnet für das Ereignis, das der Titel des Dramas ankündigt“; aber: der Erwartungshorizont werde bewusst unterlaufen, es gebe keine Herrmannsschlacht, sondern eine „Hermannsbärin“ als „Bühnentier“ und „zentrales Element der politischen Propaganda“.

Der „Tollwutdiskurs“ zur Zeit Kleists und dessen Poetologie als stets implizite Gattungsreflexion (Sebastian Schönbeck) sowie der Themenkomplex „Dressieren, Führen, Erziehen“ vor dem Hintergrund des Gewalt- und Erziehungsdiskurses der Aufklärung (Jan Teupert) runden den umfangreichen, „unartigen“ Band ab, der mit seinen kritischen Blicken auf jene „genre troubles“ einmal mehr zeigt, dass wir, auch wenn wir nicht jede Volte der Lesenden und der Figuren bei Kleist mitmachen müssen, immer auch eine Geschichte des Lesens mitlesen. Denn sicher bei den vielen Unsicherheiten Kleists ist: „Reflexionen zur Verfertigung einer Gattung sind überhaupt charakteristisch für viele seiner Texte“, wie die Herausgeber einleitend betonen. Den Blick hierfür weiter geschärft zu haben, ist das nicht geringe Verdienst des vorliegenden Bandes.

Titelbild

Andrea Allerkamp / Matthias Preuss / Sebastian Schönbeck (Hg.): Unarten. Kleist und das Gesetz der Gattung.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
416 Seiten, 44,99 EUR.
ISBN-13: 9783837635003

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