Karibischer Mythos aus feministischer Perspektive

Die martinikanische Autorin Mérine Céco erzählt von einem traumatischen Familiengeheimnis

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Céline scheint ein glückliches Leben in der Pariser Peripherie zu führen: Sie ist beruflich erfolgreich, mit einem verständnisvollen Arzt verheiratet und pflegt ein komplizenhaftes Verhältnis zu ihren zwei Kindern Karl und Anita. Doch als sich ihre Tochter dazu entschließt, in das karibische – und in Célines Augen „gefährliche“ – Heimatland der Mutter aufzubrechen, um dort für eine NGO zu arbeiten, wird Céline von ihrer Vergangenheit eingeholt, die sie ihren Kindern bisher hartnäckig verschwiegen hat: „Das Problem ist, dass ich aus Ekel und aus Angst meine Kehrseite von mir geworfen hatte. Ich wollte vergessen, dass ich Migrantin war, hatte alles darangesetzt, eine einzige Vorderseite zu werden und meine Kinder in der Vorstellung zu erziehen, dass Vorder- und Kehrseite einander entsprechen wie bei Nichtmigranten.“ Schließlich trifft sie die Entscheidung, sich ihrer Heimat und Vergangenheit zu stellen, das Familiengeheimnis zu lüften und schreibt ihrer Tochter einen Brief, auf den diese von der karibischen Insel antwortet. In Anitas Antwortbrief wird allerdings deutlich, dass die Tochter bereits auf eigene Faust Ahnenforschung betrieben hat und mehr weiß, als ihre Mutter erwartet hätte.  

In Die Leben unter deinem erzählt die martinikanische Autorin Mérine Céco eine Familiengeschichte aus feministischer Perspektive. Im Mittelpunkt stehen Céline und Anita, aber auch Célines Großmutter, Mam Georgina, ihre Urgroßmutter, Mam Gertrude, und Ururgroßmutter, Mam Nanette, die mit ihrem Halbbruder Kinder bekam und damit die Leben ihrer Nachfahrinnen ruinierte. Männer rücken in den Hintergrund, sie werden zu Nebenfiguren, aber auch zu Übeltätern. Es scheint, als ob ein Fluch auf den Frauen dieser Familie läge – so erklärt man sich wenigstens die Schicksalsschläge und die Gewalt in der Karibik. Mam Georgina wird Opfer eines sogenannten Dorlis, eine Art Dämon, der sie als 16-Jährige schwängert. Dieser Dorlis entpuppt sich aber als Lebensgefährte der Mutter, der sie in betrunkenem Zustand vergewaltigte. Dieses Schicksal lastet auch auf der traumatisierten Céline, die sich als Nachfahrin eines Dorlis sieht.  

Der Mythos erspart damit nicht nur die Suche nach dem Schuldigen, er protegiert männliche Dominanz und Gewalt. Cécos feministische Perspektive entlarvt die karibische Denkweise als clevere Verschleierungsstrategie: „Durch welchen Kunstgriff wurde eine von einem Mann aus Fleisch und Blut begangene Vergewaltigung zur Missetat eines Dorlis?“ Gleichzeitig dient der Mythos allerdings auch dazu, Männer regelrecht aus der Abstammungslinie zu löschen: Als Dorlis oder Zombies gehen ihre Namen nicht in den Familienstammbaum ein, sondern hinterlassen nur schwarze Flecken.

Cécos Roman liest sich allerdings auch als Plädoyer, die eigene Herkunft geografisch wie familiär nicht zu verleugnen, sondern sich jenen Wurzeln bewusst zu werden und sie zu akzeptieren. „Wir können nicht ignorieren, dass unser Nabel von einer Schnur stammt, die bei der Geburt durchschnitten wurde, um uns von einem anderen Körper teilweise zu befreien“, schreibt Céline an ihre Tochter und verweist auf die Tradition einiger Kulturen, die Nabelschnur unter heiligen Bäumen zu vergraben. Symbolisch vermittelt diese kulturelle Praxis, dass eine Abnabelung von einem genealogischen Ort kaum möglich ist. In diesem Zusammenhang wird auch der – im Deutschen zugegebenermaßen etwas merkwürdig klingende – Titel des Romans (im Original D’autres vies sous la tienne) verständlich, wenn Céline ihrer Tochter erklärt, dass unser Leben ohne andere Leben unter unserem nicht denkbar ist.    

Die schmerzhafte Erfahrung der „Abnabelung“ muss die Protagonistin am eigenen Leib erfahren: Als sie ihre Heimat verlässt, quälen sie tatsächlich Nabelschmerzen und immer wieder leidet sie unter körperlichen Beschwerden, die sie auf ihre Familiengeschichte zurückführt. Es ist nicht nur der Körper der Protagonistin, der auf bewegende Ereignisse reagiert und rebelliert, Körper und Körperlichkeit spielen in Die Leben unter deinem ganz verschiedene Rollen. So berichtet Anita ihrer Mutter von den Blicken Anderer, die ihr zu verstehen geben, dass sie Migrantin sei und aufgrund ihrer schwarzen Hautfarbe nicht hierher gehöre. Céline wiederum spricht von einer „eingefleischten Angst“, auch dreihundert Jahre nach dem Sklavenhandel wieder zum vollständigen Eigentum „jener anderen“ zu werden und beschreibt das Gefühl, sich im eigenen (schwarzen) Körper illegitim zu fühlen.    

Es wird dauern, bis sich Mutter und Tochter endlich wiedersehen und offene Fragen beantworten können. Wenn die ganze Familie dann allerdings in „jenem Land“ nach einem Erdbeben neu zusammenfindet und heimisch wird, ist das fast ein Happy End.    

Mérine Céco (eigentlich Corinne Mencé-Caster) ist ein fesselnder Roman gelungen, der nicht nur karibische Mythen aus feministischer Perspektive neu beleuchtet und hinterfragt, sondern ein ebenso komplexes wie emotionsgeladenes Mutter-Tochter-Verhältnis beschreibt und die komplizierte Frage nach weiblicher Identität zwischen Europa und der Karibik für verschiedene Generationen verhandelt. Leider handelt es sich um den bisher einzigen ins Deutsche übersetzten Roman der martinikanischen Autorin, so dass auf weitere Übersetzungen zu hoffen ist. 

Titelbild

Mérine Céco: Die Leben unter deinem.
Litradukt, Trier 2020.
216 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940435347

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