Der permanent ausgestreckte Mittelfinger

Till Lindemann dichtet bis Hundert

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturbetrieb steht momentan fast still. Aber nur fast, denn Skandale produzieren kann er noch. Zum Beispiel um den Band 100 Gedichte von Rammstein-Sänger Till Lindemann. Der Vorwurf: Lindemanns Texte verherrlichen Gewalt, speziell die sexuelle. Die Kritik entzündet sich vor allem am Gedicht Wenn du schläfst: „Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst / Wenn du dich überhaupt nicht regst“, und weiter: „Und genau so soll das sein (so soll das sein so macht das Spaß) / etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen“. Der Vorwurf: Hier werde ein date rape ästhetisiert, die Vergewaltigung einer Frau, die mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht wird. Trifft das zu? Absolut. Und hier befinden wir uns nicht nur in der Mitte des Buches, sondern auch mitten in den Themenkomplexen, die der Band verhandelt: eben Sexualität und Gewalt. Da werden Kindern die Arme abgehackt (Armer Bär), sie werden verlassen (Autobahn), Hunde geschlachtet und zugleich betrauert (Abschied vom geliebten Tier), ein Gedicht versetzt sich in den Amokläufer Robert Steinhäuser (Erfurt). Außerdem gilt es, möglichst oft Worte zwischen ‚F*cken‘ und ‚F*sten‘ unterzubringen. Lindemann schreibt mit permanent ausgestrecktem Mittelfinger. Das muss sehr anstrengend sein. Es führt auf Dauer zum Krampf.

Ästhetisierung von Gewalt ist kein unbeabsichtigter Nebeneffekt, sondern der Kern dieser Lyrik. Natürlich ist das Gewalt „in Klammern“, gar „nicht so gemeint“, wie es etwa vorkommt im Metal, einem Genre, in dem Rammstein neben anderen verwurzelt ist. Hier wird etwas anderes betrieben als sprachliche Innovation oder ein sensibles Beobachten der Umwelt, Dingen, die der Literaturbetrieb sonst an Lyrik prämiert. Das heißt andererseits nicht, dass diese Ästhetisierung der Literatur grundsätzlich fremd wäre. Im Gegenteil, Lindemann bewegt sich auf ausgetretenen Pfaden; hier liest man nicht viel Schlimmeres als in Gottfried Benns Morgue-Gedichten, in Georg Heyms Lobgesängen auf die Irren, in Brechts Hauspostille. Gerade dessen Gedicht auf Jakob Apfelböck, den Mörder seiner Eltern, hätte gut in diesen Band gepasst. Ja, aber darf man das in Zeiten von „Me Too“? Genau darum geht es Lindemann doch. Das will nichts anderes als die Vorbilder: die schreckhaften Bürger schockieren und sich damit Distinktion verschaffen. Überraschend ist eher die Kritik daran, weil sie reichlich spät kommt. Wo haben denn Lindemanns Kritiker bitte das letzte Vierteljahrhundert verbracht? Nie ein Rammstein-Album gehört? Das soll genau so sein und darum werden Leute, die Rammstein gut finden, den Band auch kaufen (der Rezensent? gehört eher nicht dazu).

Till Lindemann hat Erwartungen zu erfüllen: Rammstein ist ein deutsches Qualitätsprodukt. Wie VW, Persil und Spreewaldgurken. Sorgfältig ausgeklügelt und im Laufe eines Vierteljahrhunderts perfektioniert. Nicht ganz auf eigenem Mist gebaut: von Kraftwerk haben sie das Teutonische geklaut und ihm die Leichtigkeit ausgetrieben, von den Slowenen Laibach das Spiel mit extremen Symbolen, ohne direkt justiziabel zu werden. Das macht den Kitzel aus für ein Publikum, das wenigstens mal symbolisch die Sau rauslassen will. Wer als Kunde ein solches Qualitätsprodukt kauft, erwartet dafür gleichbleibende Qualität. Der Burger muss immer gleich schmecken, der Chai Latte das identische Schaumkrönchen tragen. Anders gesagt: Rammstein ist dazu verurteilt, immer wieder dieselbe Platte zu produzieren. Sex, Gewalt und rollendes R; rollendes R, Gewalt und Sex. Wummert es nicht riefenstählern genug, meckert der Kunde. Lindemanns 100 Gedichte entsprechen diesen Erwartungen; in den Formen manchmal freier, transportieren sie verlässlich die Attitüde. Das ist halt Rammstein ohne Ton.

Das Marketing des Qualitätsproduktes ist dabei schlau genug, dass es eine bestimmte Rezeption nicht nur mitdenkt, sondern einplant: Empörte Reaktionen betroffener ‚Spießer‘ sind fest gebucht, wie im letzten Jahre bei der Werbung für das Video zum Song ‚Deutschland‘, in dem die Band sich unter anderem als KZ-Häftlinge kostümierte. Hinterher kann man immer zurückrudern und publikumswirksam über ‚bewusste Missverständnisse‘ jammern; vielleicht haben das gewisse Politiker ja letzthin bei diesem Qualitätsprodukt abgekupfert (obwohl: eine schwarze Germania in diesem bedeutungsschwangeren Kuddelmuddel zu platzieren, das war ein gelungenes Spiel mit den Erwartungen). Insgesamt gilt aber: Je mehr sich Kritiker ereifern, desto besser für den Absatz beim Kernpublikum. Der zufriedene Kunde kommt sich rebellisch vor. Er stellt Lindemanns Gedichtband neben die Rammstein-CD ins Regal und denkt: Yeah! Wieder dem linksliberalen ‚Mainstream‘ eins ausgewischt, wieder gegen das protestiert, was Uwe Tellkamp so publikumswirksam ‚Meinungskorridore‘ nennt. Dabei stehen im Regal nur eine Rammstein-CD und ein, naja, nicht mal mittelguter Gedichtband.

Was also, wenn man sich diesem Spiel entziehen will? Man kann Lindemanns Kunst klauen und umdeuten. So wie die Sängerin Balbina, die aus dem Rumpeldipumpel von Rammsteins Sonne eine Hymne von geradezu strahlender, androgyner Schönheit gemacht hat (und die Taschen der Songschreiber füllt). Man kann das Buch Leuten schenken, die man nicht mag (und riskieren, dass sie es gut finden, noch mehr Exemplare kaufen und sie dann verschenken). Oder die 100 Gedichte einfach ignorieren? – Mist, zu spät. Jedenfalls für diese Rezension.

Titelbild

Till Lindemann: 100 Gedichte.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
160 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783462053326

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