Dichterin des Aufbruchs

Über Bettine von Arnim und ihr bisher unbekanntes Briefbuch „Letzte Liebe“

Von Bettina JohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Johl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigenartig will es uns ergehen mit Briefen, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht für Dritte bestimmt waren. Wir lesen sie mit einer seltsamen Mischung aus Scheu und Neugier, fühlen uns zuweilen wie Kinder beim heimlichen Blick durchs Schlüsselloch in fremde Stuben. Als eine Fremde will sie mir jedoch nicht gelten, in deren Privatsphäre ich hier eindringe, als sei solches selbstverständlich. Zur Vertrauten hatte ich sie mir früh erkoren, die Schriftstellerin, die bereits meine Mutter so sehr beeindruckte, dass sie fand, ihre Tochter solle einmal ihren Namen tragen. Nachdem das anfängliche Misstrauen der Pubertierenden, all das betreffend, was der eigenen Mutter gefällt, verflogen war, kam die Zeit, da ich sie „rauf und runter“ las: Bettine von Arnim, geboren am 4. April 1785 in Frankfurt als Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano, Tochter des Peter Anton Brentano, eines Großkaufmanns mit italienischen Wurzeln, und der von Goethe verehrten Maximiliane von La Roche, die der Legende nach Werthers Lotte ihre schwarzen Augen verlieh, Tochter der Schriftstellerin Sophie von La Roche.

Auch mich faszinierte sie, aus eigenen Gründen. Die junge Frau, die mir aus ihren Briefwechseln mit Goethe und mit Karoline von Günderrode geradezu entgegensprang, besaß all das, was mir in jenen Tagen fehlte. Mut. Lebendigkeit. Zutrauen in sich selbst. Ich hatte sie nötig. Und für lange Zeit sah ich in ihr das, was die meisten zu sehen schienen: Das Mädchen, die Kleine, den Kobold. Erst später wurde mir bewusst, dass sie eine Frau von fünfzig Jahren war, als sie ihr erstes Briefbuch veröffentlichte, dass alles darin Rückschau auf ihr jüngeres Selbst war. Und dass es sich bei diesem jüngeren Selbst ebenso wenig um ein Kind handelte, vielmehr um eine junge Frau, der kein selbstbestimmtes Leben zugestanden wurde. Ich realisierte auch mehr und mehr, dass die Rolle des unschuldig-verspielten, übermütigen Kindes mit der Hoffnung auf „Welpenschutz“ eine der ganz wenigen war, die einer schreibenden Frau in dieser Zeit blieben, um ihren Gedanken und Gefühlen freien Ausdruck zu verleihen, ohne von der skandalhungrigen Meute der „Philister“ – in der Zeit der Romantik der viel verwendete Begriff für „Spießer“ – zerrissen zu werden. In ihrem Fall schien es sich zu rechnen, zumal sie ihre Rolle mit Humor trug und sie aus innerer Überzeugung lebte. Denn kindliches Empfinden sah sie als Voraussetzung, um im Einklang mit der eigenen Natur zu leben, als Bedingung für Wahrhaftigkeit. Die Philistergesellschaft fand solches unerhört und umlauerte sie stets, aber der unsichtbare Kreis, den sie so um sich gezogen hatte, wurde letztlich respektiert.

Sie deutet diesen Umstand an, beim Beantworten ihrer „Fanpost“, wie wir es heute nennen würden. Der Adressat ist ein junger Mann, Anfang zwanzig. Von einem Freund hatte er ihr erstes Buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde empfohlen bekommen und es mit Hingabe und Begeisterung gelesen. Ich versuche mir beim Lesen seiner Briefe einen Zweiundzwanzigjährigen vorzustellen, versuche im Weiteren, mir heutige junge Männer mit solcher Art Lektüre vorzustellen. Es will nicht gelingen. Auch kaum, dass diese männliche Altersgruppe sich mit Literatur von Frauen beschäftigen könnte, geschweige denn, dass die Schule ihnen solche vermittelt hätte.

Wenn ich heute junge Menschen – gleich welchen Geschlechts – frage, ob sie sich aus der Schulzeit an Lektüren von Autorinnen oder Dichterinnen erinnern, nennen sie mit einiger Mühe Annette von Droste-Hülshoff und verfallen dann in betretenes Schweigen. Als sei seit Jahren die Zeit stehengeblieben. Bei der Auswahl der Schullektüre nimmt das Phänomen, dass große Literatur von Frauen – und weibliches Schreiben überhaupt – nach wie vor wenig wahrgenommen wird, seine Anfänge. Sexistische Ausgrenzung kennt viele Erscheinungsformen, kaum dass wir noch ihre Mechanismen durchschauen! Aber hier befinden wir uns im neunzehnten Jahrhundert und finden jede Menge junger Männer in Aufbruchstimmung, die begeistert das Buch einer Frau lesen, sehen ein Bild, das wie keines sonst für ein Symbol der Blütezeit der Romantik durchgehen könnte: Ein Jüngling in freier Natur auf einem Granitblock sitzend, aus dessen Ritzen blaue Glockenblumen hervorblühen, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde lesend. Dass ein solcher Ort keineswegs eine schlechte Wahl ist, weiß, wer schon mit diesem Buch in stillen Waldwinkeln gesessen und sich Bettines unvergleichliche Rheingau-Impressionen zu Gemüte geführt hat.

Bettines Briefpartner Julius Döring ist Jura-Student aus der Gegend von Magdeburg, der sich zu dieser Zeit für einige Semester in Berlin aufhält; er wird später zu einem von „den Studenten“, denen sie ihr nächstes Buch Die Günderode widmen wird. Der andere ist Philipp Nathusius, Sohn eines Fabrikanten aus Althaldensleben, der Bettine bereits drei Jahre zuvor aufgesucht hat und seither mit ihr in freundschaftlichem Briefwechsel steht. Und beide werden nicht die einzigen Vertreter der jungen Generation bleiben, die ihr zu Füßen liegen und über geraume Zeit bei ihr ein- und ausgehen. Julius Döring beklagt bereits im ersten Brief, dass sie „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ nicht „der deutschen Jugend“ zugeeignet habe. Die Widmung war stattdessen an Hermann Heinrich Fürst von Pückler-Muskau ergangen. Er hatte ursprünglich die Veröffentlichung der früheren Korrespondenz zwischen Goethe und der jungen Bettine angeregt. Sie hatte sie ihm zu lesen gegeben, während er mit ihr eine Art Liebesbeziehung unterhielt, die jedoch zum Zeitpunkt, da das Buch erschien, schon nicht mehr bestand. Der vornehme Herr hatte sich zwischenzeitlich sehr plötzlich entschieden, doch lieber seine bestehende Ehe retten zu wollen.

Nun war Zurückweisung von Menschen, denen ihre unbedingte Hingabe und ihr Sich-Verströmen irgendwann zu viel wurde, etwas, das Bettine von Arnim im Laufe ihres Lebens reichlich erfahren und ertragen gelernt hatte. Sie musste es in jungen Jahren mit Karoline von Günderrode durchleben, der fünf Jahre älteren Freundin, der sie alles anvertraute, die sich ihr jedoch selbst nie ganz öffnete. Die sich letztlich unter einem Vorwand zurückzog, weil sie für sich weder als Frau noch als Dichterin einen begehbaren Weg erkennen konnte und sechsundzwanzigjährig den Freitod wählte. Auch mit Goethe hatte sie es erfahren, dem verehrten Dichterfreund. Er sollte ihr nach ihrer Vorstellung alles sein, sozusagen im Sinne der Dreifaltigkeit: Gott-Vater, Sohn-Freund – das Bild, das sie aus ihren vertrauten Frankfurter Gesprächen mit Goethes Mutter, der „Frau Rat“ bezog – und schließlich Geist, der nach ihrem Wunschdenken ihr ganzes Sein durchdringen sollte. Goethe selbst schien lange Zeit hin- und hergerissen zwischen Faszination und Überforderung, bis er, nach einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Bettine und seiner Frau Christiane, einer Art Stress, dem er sich so gar nicht aussetzen mochte, schließlich den Kontakt abbrach. Verglichen hiermit erscheint der Schmerz über den Verlust des fürstlichen Verehrers Pückler-Muskau, mit dem sie auch weiterhin freundschaftlich in Briefen verkehren wird, eher kurz. Sie erklärt ihre Widmung an ihn schlicht zu einem Akt der Fairness.

Der verwegene Schreibstil ihres jungen Verehrers nun scheint ihr zu imponieren. Ist er mit demselben Sinn für Humor und versteckten Sarkasmus ausgestattet – oder kopiert er lediglich ihren Stil? Wohl beides, denn ohne eine gewisse Wesensverwandtschaft hätte ihr Buch kaum so vernehmlich eine Saite in ihm anzuschlagen vermocht. Sie antwortet zunächst in ironischem Ton und erwähnt in diesem Zuge interessanterweise, dass die Höflichkeit der vornehmen Gesellschaft, über die er sich abwertend geäußert hatte, da sie ihm verlogen schien, es schließlich ihr überlasse, „die Pfeife nach beliebigem Tackt (sic!) zu stimmen“. Im Übrigen bewege sie sich in keinen „Zirkeln“, wie er vermute, denn, schreibt sie in ihrer eigenwilligen Orthografie: „[…] ich habe keine Zirkel, ich hab Die Freie Welt. – Der Mensch, den Gott geboren werden ließ, „mitzufühlen Freud und Qual“ der leicht besser ist in seinen unbefangenen Anlagen als ich, und besser werden soll in seiner Entwicklung, vor dem hab ich Ehrfurcht […].“

Durch ihre Antworten ermutigt, lässt Döring Brief um Brief folgen, versucht darin, vermeintliche Missverständnisse richtigzustellen, sie wiederum gibt ihm zu verstehen, dass sie ihn längst durchschaut hat. Sie tauschen sich mehr und mehr aus, einander wahrnehmend als „verwandte Geister“, deren der Mensch bedürfe, finden rasch ihr gemeinsames Thema: Die Fesseln mit dem Geist sprengen, sich aufschwingen in die Freiheit, Vertrauen in den eigenen Geist setzen… – und wieder geht es, wie auch im bald darauf erscheinenden Briefwechsel mit der Günderrode, geradezu um eine neue Religion in einer eigenwilligen, alle Dogmen sprengenden Auslegung, geht es um „Urhandeln“ und „Leben in der Wahrheit“. Bettine äußert ihre Freude darüber, dass ihr „aus dem Antlitz der Jugend […] derselbe Geist entgegenlächelt“, sieht sich gerne in der Rolle der Mentorin der jungen Generation, von der sie sich den Aufbruch erhofft, der ihrer eigenen einst verwehrt blieb.

Äußerlich ist es die Zeit des Vormärz, des zunehmenden Aufbegehrens gegen die gesellschaftlichen Einengungen in den Jahren der Restauration nach dem Wiener Kongress, als die Herrschenden mit allen Mitteln versuchten, nach der Französischen Revolution und ihren Auswirkungen auf die Nachbarstaaten sowie den Kriegen Napoleons die alte europäische Ordnung wiederherzustellen. Im Jahr 1819 hatten die Karlsbader Beschlüsse die Unterdrückung der öffentlichen, schriftlichen Meinungsfreiheit besiegelt. Die Presse unterlag fortan der Zensur, Forschung und Lehre an den Universitäten wurden überwacht, Studentenverbindungen verboten, liberal gesinnte Professoren entlassen und mit Berufsverbot belegt. Die Juli-Revolution 1830 im benachbarten Frankreich beförderte bei vielen die Hoffnung auf einen Wandel. Auf dem Hambacher Fest zwei Jahre später wurde vornehmlich unter Studenten neben dem Ruf nach nationaler Einheit der nach Rede- und Pressefreiheit laut. Im Königreich Hannover gab es vorübergehend eine liberale Verfassung, die schon den nächsten Thronwechsel vier Jahre später nicht überlebte. Einige Professoren, bekannt als die „Göttinger Sieben“, darunter Jacob und Wilhelm Grimm, die öffentlich dagegen protestierten, wurden prompt entlassen, drei von ihnen gar des Landes verwiesen.

Die Brüder Grimm zählen zu dieser Zeit seit langem zum Freundeskreis Bettines, ihr Schicksal beschäftigt sie. Sie lässt nichts unversucht, ihnen durch ihre Beziehungen über ihren Schwager Friedrich Carl von Savigny zu Regierungskreisen und zum Kronprinzen zu einem Ruf an den preußischen Hof zu verhelfen, was erst 1841 gelingen wird. Für ihr politisches und soziales Engagement ist sie inzwischen bekannt. Bei der Choleraepidemie, die Berlin wenige Jahre zuvor heimsuchte und die reichere Bevölkerung vielfach zur panischen Flucht auf ihre Landgüter veranlasste, war sie es, die blieb und ohne Furcht vor Ansteckung in die Armenviertel ging, Hilfe und Zuspruch leistete, Geld sammelte und für Verpflegung sorgte. In den folgenden Jahren wird sie in ihren Korrespondenzen und Veröffentlichungen immer deutlicher auf soziale Missverhältnisse hinweisen, wie in Dieses Buch gehört dem König und zuletzt in ihrem Armenbuch, welches zu ihren Lebzeiten allerdings nicht mehr erscheinen kann; nach dem Weberaufstand 1844 wird sie in Verdacht geraten, mit zu dessen Aufwieglern zu gehören.

Dies ist nun die ältere Bettine. Ich stelle mit Erstaunen fest, dass ich ihr wiederbegegne, da ich mich im selben Alter befinde wie sie, da sie Julius Döring kennenlernt. „Ein 54jähriges Mütterchen“ wird der spätere Kunsthistoriker Jacob Burkhardt – auch er etwa in Dörings Alter – sie nennen, als er in einem Brief an seine Schwester von einem Besuch bei ihr erzählt. Er meint es nicht abwertend, spricht von „schöner Haltung“, interessanten Gesichtszügen, bemerkt „echte kastanienbraune Locken“ – offenbar also auch noch nicht die Spur von ergraut! – und schwärmt von „braunsten, wundersamsten Augen“.

Mutterschaft hat Bettine von Arnim in reichem Maß genossen wie erlitten. Während ihrer zwanzigjährigen Ehe mit dem 1831 verstorbenen Achim von Arnim hat sie sieben Kinder geboren, wie sortiert: vier Jungen und danach drei Mädchen. Diese scheinen ausnahmslos ihre unverwüstliche Gesundheit und Zähigkeit geerbt zu haben; alle werden das Erwachsenenalter erreichen – nichts Selbstverständliches in jenen Zeiten. Vier Jahre vor der Begegnung mit Döring jedoch hat sie ihren jüngsten Sohn Kühnemund verloren, der ihr sehr nahestand; er verunglückte achtzehnjährig beim Schwimmen in einem Fluss, vermutlich durch eine beim Sprung ins Wasser erlittene tödliche Wirbelsäulenverletzung; manche Quellen behaupten: in der Spree, andere: in der Havel. Wenn es jedoch in der Nähe des Landschlösschens Bärwalde geschah, das zum Anwesen der von Arnims gehörte, dürfte eher das Schweinitzer Fließ dafür in Frage kommen, ein von dort gesehen südlich verlaufender Nebenfluss der Schwarzen Elster. In einem ihrer späteren Briefe an Döring aus Bärwalde erwähnt sie dies, möglicherweise handelt es sich um das einzige, von ihr selbst überlieferte schriftliche Zeugnis ihrer Trauer. Ihre Töchter – im Alter von einundzwanzig, achtzehn und zwölf Jahren – leben in diesen Tagen noch bei ihr, scheinen zu ihrer jugendlich gesinnten Mutter in einem freundschaftlichen, eher schwesterlichen Verhältnis zu stehen und werden bei ausgewählten Briefen auch manchmal zu begeisterten Mitleserinnen.

Die hinter Bettine liegenden Ehejahre waren geprägt von großen Mühen, Geldknappheit und ständigen Umzügen zwischen dem Gut Wiepersdorf im brandenburgischen Fläming und Berlin, wo sie es die meiste Zeit vorzog, mit den Kindern zu leben, vorgeblich um deren Ausbildung willen, sicherlich aber auch, weil sie, mit kulturellen Bedürfnissen ausgestattet, wenig Lust verspürte, dauerhaft als Haus- und Landfrau im märkischen Sand zu versauern. Ihr Mann Achim von Arnim, den sie einst als Freund ihres Bruders Clemens Brentano kennengelernt hatte, akzeptierte dies, wenn auch schweren Herzens, wie auch sonst die Ehe der beiden geprägt war von Achtung, Respekt, gegenseitiger Wertschätzung und einer haltbaren Freundschaft, die schon lange vor der offiziellen Verbindung der beiden bestand. Das häufige Getrenntleben über längere Zeiträume wird dazu führen, dass der rege Briefverkehr zwischen den Eheleuten der Nachwelt reichlich Einblicke in das außergewöhnliche Leben zweier außergewöhnlicher Menschen gewährt. Bettines Trauer, als „Arnim“, wie sie ihn stets nannte, nach kurzer schwerer Krankheit stirbt, ist tief und echt. So sehr, dass sie noch acht Jahre später „frühere Gelübde“ anführt, die sie hindern, sich einer neuen Liebe hinzugeben. Da ist es allerdings längst um sie geschehen.

Die Briefe zwischen ihr und Julius Döring sind zunehmend vertrauter geworden, aus der Anrede „Gnädige Frau“ wird zuweilen „Gütige Freundin“. Der Wunsch, sich zu sehen, nimmt Kontur an. Sie spricht eine Einladung aus, Döring ziert sich zunächst, wirkt befangen. Als er es schließlich doch wagt, sie persönlich aufzusuchen, steht er bereits kurz vor Ende seines Berlin-Aufenthaltes. Es bleibt für uns im Verborgenen, wann genau das erste Treffen stattfand und wie es sich gestaltete, jedoch nicht lange danach offenbart er ihr seine Liebe in einem Gedicht. Seinen vorletzten Besuch, bei dem sie ihm einen Ring schenkt, beschreibt er auf anrührende Weise rückblickend in einem späteren Brief. Der letzte Abend gestaltet sich dagegen eher ausgelassen heiter; etwa aufkommende Melancholie wird im Wein ertränkt, Bettine sorgt im Vorfeld dafür, dass genügend davon im Haus ist, wie sie es in einem übermütigen Brief an Wilhelm Grimm mitteilt. Von einem Kuss zum Abschied ist noch die Rede, mehr erfahren wir nicht.

Während sie sich in Arbeit stürzt, den Nachlass Achim von Arnims ordnend, kehrt der Freund zurück ins heimatliche Wolmirstedt, ins „Philisterleben“, das ihn erwartet und das er fürchtet, ohne den Hauch einer Chance zu sehen, aus diesem ausbrechen zu können. Sein Studium ist beendet, der praktische Teil der Ausbildung steht noch bevor. Die juristische Laufbahn hat Familientradition, der Weg ist durch den Vater vorbestimmt, ein Abweichen nicht erwünscht. Dabei wird es bleiben, trotz verschiedener Überlegungen Bettines, wie er eine alternative Richtung einschlagen könnte, die mehr seinen inneren Anlagen gemäß wäre. Sie ermutigt ihn, „der eigenen Wahrnehmung zu trauen, der eigenen Mahnung zu folgen“ und vor allem aufzuräumen mit „Vorurtheilen“. Keine leichte Übung, denn: „in jedem einzelnen gebären sich alle wieder.“ Und sie tröstet: Eine juristische berufliche Grundlage könne in diesen Zeiten ebenso dazu dienen, seinen Platz in der Welt zu finden, „[…] man kann am rechten Ort auftreten Menschenrecht vertheidigen, es schützen und einhegen, man kann Der Wucht der Übermacht mit Mauerbrechern entgegenarbeiten“.

Vieles von dem, was sie ihm hier auseinandersetzt, wird ihn prägen. Zu gern würde er ihrem Appell an ihn folgen, der da lautet: „[…] sei Dichter; und lass von Deinen geweihten Lippen, nimmer den Rhythmus entströmen, als nur was Du im Augenblick fühlst und erlebst, denn nur im Lebendigen kann Unsterbliches sich gestalten.“ Sie liest die Gedichte, die er ihr sendet, nach ihren Worten „wieder und wieder“, liest sie mit den Augen der Liebe. Ob sie Zeugnisse einer tatsächlichen poetischen Begabung sind, soll hier nicht beurteilt werden. Sie sind vor allem eines: aufrichtig, wie sich auch seine Liebe aufrichtig zeigt, und das ist es, was Bettine fühlt und schätzt. Döring ist keiner von der Sorte Mann, der sie aus selbstgefälliger Eitelkeit umgarnt, um hernach im Kreis von Freunden oder Kommilitonen mit seiner Eroberung zu prahlen. Eher scheinen ihm gleichaltrige Freunde völlig zu fehlen, er wird auch von Philipp Nathusius beim späteren Kennenlernen als zurückhaltend und schüchtern beschrieben. Dieser Eindruck mag sich jedoch durch die gesellschaftliche Kluft, die zwischen den beiden Männern besteht, noch vertiefen. Nathusius gehört zur sozial privilegierten Schicht und Döring wird ihn, der bereits einige Veröffentlichungen aufzuweisen hat, als eine Art bessergestellten Konkurrenten wahrnehmen. Eine Dichterlaufbahn wird Julius Döring nicht einschlagen, auch wenn einige seiner Gedichte 1841 in einem Musenalmanach erscheinen, zum ersten und zugleich zum letzten Mal. Er wird sich jedoch zu einem engagierten, politisch denkenden Menschen entwickeln und hierbei den Einfluss Bettines erkennen lassen.

Die äußeren Umstände sind nicht dazu geschaffen, eine freie Entfaltung zu befördern. Noch weniger sind sie es für eine ungewöhnliche Liebe zweier ungewöhnlicher Menschen. Auch Bettine ist an gesellschaftliche Konventionen gebunden, wenngleich ihr der Status als verwitwete Baronin wie auch ihre neu gewonnene Position als angesehene Schriftstellerin gewisse „Narrenfreiheit“ lässt. Die neue Liebe belebt sie, sie kostet sie aus. Ihr Herz ist jung. Einen zeitweisen Ausbruch, eine einzige Auszeit wird sie sich noch gönnen. Sie plant eine Reise nach Kassel zu den Brüdern Grimm, auf der sie Döring nach ihren eigenen Worten „unterwegs einsammeln“ und mitnehmen wird. Die Route, für die sie die eigene Kutsche nimmt, was ihr Unabhängigkeit verschafft, führt über den Harz, wo die beiden Wanderungen unternehmen, die Stadt Goslar ausführlich erkunden und schließlich in romantisch-nächtlicher Fahrt durchs Okertal über Göttingen weiterreisen nach Kassel. Bei einem Abstecher nach Fritzlar wird Bettine ihrem jungen Begleiter Stätten zeigen, die ihre jungen Jahre prägten, da sie nach dem Tod ihrer Mutter für einige Jahre im dortigen Ursulinenkloster untergebracht war. Es sind wenige Wochen ungezwungener Vertrautheit, die das ungleiche Paar verlebt. Der Fluchtpunkt Kassel weckt Bezüge zu Friedrich Hölderlin und Susette Gontard – auch dies eine Liebe, die es so nicht geben durfte –, die einst in Kassel und Bad Driburg auf der Flucht vor der französischen Belagerung Frankfurts eine unbeschwerte gemeinsame Zeit verbrachten.

Hölderlin. Beide verehren ihn. Als junge Frau wollte Bettine ihn in Bad Homburg besuchen, er galt bereits als erkrankt; ihr pragmatischer ältester Bruder Franz Brentano als ihr Vormund erlaubte es nicht, wie es aus ihrem Briefwechsel mit der Günderrode hervorgeht: „Du bist nicht recht gescheut, was willst du bei einem Wahnsinnigen? willst du auch ein Narr werden?“ Durch Isaac von Sinclair, den engen Freund und Vertrauten Hölderlins war sie in Frankfurt mit seinen Gedichten in Berührung gekommen, sie sah ihn als „mit der Sprache verbündet“. Sie erzählt ihrem jungen Freund während der Reise davon. Schon in einem ihrer ersten Briefe schrieb sie: „Was sich gleicht, das findet sich…“ in Abwandlung an ein Zitat des Hyperion aus Hölderlins gleichnamigem Briefroman, an die Geliebte Diotima gerichtet: „was sich gleich ist, findet sich bald!“ Später wird sie ihm einen Gedichtband von Hölderlin zusenden, mit einem Hinweis auf ihr in Goslar geführtes Gespräch. Beide genießen die kostbaren Momente der Zweisamkeit, von denen sie später schreiben wird: „[…] ich weiß nicht zu sagen daß ich je in meinem Leben glücklicher gewesen wäre.“ Sie schaffen sich innere Bilder, die sie in späteren Briefen wieder und wieder heraufbeschwören werden, um die Erinnerung wach zu halten. Bei den Brüdern Grimm begegnet ihnen herzliche Offenheit und unvoreingenommene Freundschaft. Gegenteiliges ereignet sich bei der Rückkehr, als beide einer Einladung ins Haus Nathusius‘ in Althaldensleben folgen, wo die Gerüchteküche bereits brodelt. Der Abschied gestaltet sich kurz und unterkühlt, um das Gerede so gering wie möglich zu halten.

Bettine zieht sich nach ihrer Rückkehr in das Landschlösschen Bärwalde südlich von Wiepersdorf zurück – Wiepersdorf selbst ist dieser Tage verpachtet – und widmet sich neuen Projekten. Sie arbeitet an der Herausgabe ihres nächsten Briefbuchs Die Günderode, welches sie nun „den Studenten“ widmen wird. Auch denkt sie an eine spätere Veröffentlichung ihrer Korrespondenz mit ihren Freunden aus der jungen Generation. Sie wirbt bei Döring um dieses Vorhaben und bittet ihn um die Zusendung ihrer Briefe, um Abschriften davon erstellen zu können. Ob sie tatsächlich kurzzeitig den Titel „Meine letzten Liebschaften“ in Erwägung zieht, bleibt dahingestellt, dies meint sie wohl eher scherzhaft-ironisch. Er geht darauf ein und wird die Briefe – trotz ihres Versprechens – nicht zurückerhalten.

Zunächst verschiebt sich das Projekt, später kühlt ihre Beziehung allmählich ab. Zu verschieden gestaltet sich das weitere Leben beider. Gelegenheiten, sich durch persönlichen Umgang wieder einander anzunähern, bleiben aus. Der Austausch verlagert sich mehr und mehr auf politische Themen, bei aller Übereinstimmung kommt es immer wieder zu Missverständnissen und schließlich zu einem ernsteren Zerwürfnis durch eine in Eifersucht unbedacht hingeworfene, antisemitisch anmutende Äußerung Dörings, die sich gegen den mit Bettine befreundeten Philosophen Heinrich Bernhard Oppenheim richtet und bei ihr Verärgerung auslöst. Ab 1841 liegen nur noch Dörings Briefe vor, bedingt durch den Umstand, dass von Bettine nur jene Briefe erhalten sind, die er ihr vor dieser Zeit zurückschickte. Ab und zu lässt manches, das er schreibt, noch auf den Erhalt von Antworten schließen, später bleiben diese ganz aus.

1846 wird Bettine von Arnim den Briefwechsel mit Philipp Nathusius unter dem Titel Ilius Pamphilius und die Ambrosia verarbeiten und veröffentlichen. Die Korrespondenz mit Döring wird sie mit Rücksicht auf dessen zwischenzeitliche berufliche Position nicht mit aufnehmen. Auf seine Bitte um Rückgabe ihrer Briefe an ihn wird sie nicht mehr reagieren, aber die gesamte Korrespondenz sorgfältig geordnet verwahren. Döring wird eine politische Rolle bei der Revolution 1848 spielen und nach deren Scheitern wegen liberaler Umtriebe vorübergehend in Verbannung geschickt werden. Politisch engagiert bleibt er auch nach seiner Rückkehr, er wird bis in die 1870er-Jahre einen Sitz als liberal-konservativer Abgeordneter der preußischen Nationalversammlung innehaben. Später wird sich seine Spur etwas verlieren. Nach seinem Tod 1893 wird ihn eine Zeitungsmeldung als „Veteran von 1848“ würdigen.

Ob Julius Döring nun tatsächlich Bettines „letzte Liebe“ war, bleibt ein Geheimnis, da uns keine weitere brieflich überliefert vorliegt und wir es gewohnt sind, von ihrem Leben aus Briefen zu erfahren. Es will mir aus gewissen Gründen unpassend erscheinen, das Liebeserleben einer Frau ab einem Alter von Mitte fünfzig für abgeschlossen und beendet zu erklären. Bettine von Arnim wird noch etliche Jahre, angefüllt von politischer und literarischer Aktivität, vor sich haben und bis zu ihrem Tod am 20. Januar 1859 in Berlin ein Alter von fast 74 Jahren erreichen.

Wie auch sie einst das künstlerische und literarische Erbe von Seiten ihrer Großmutter Sophie von La Roche empfing, wird sie es an ihre Töchter und Enkelinnen weitergeben. Ihre älteste Tochter Maximiliane, spätere Gräfin von Oriola, wird ein Tagebuch hinterlassen, das zu einem wichtigen Zeitdokument wird. Gisela, die Jüngste, später verheiratet mit Herman Grimm, dem Sohn Wilhelm Grimms, wird eigene Märchen veröffentlichen. Die mittlere Tochter Armgart verfügt über großes zeichnerisches Talent. Aus deren späterer Ehe mit Albert Graf von Flemming werden als Enkelinnen Bettines die Reiseschriftstellerin Elisabeth Heyking, die in ihren Romanen die westliche Kolonialmentalität kritisch beleuchten wird, und die Dichterin, Erzählerin und Übersetzerin Irene Forbes-Mosse hervorgehen. In deren Händen wird bis zu ihrem Tod 1946 Bettines persönlicher Briefnachlass verbleiben. Beide Schriftstellerinnen sind nahezu vergessen. Werke von Irene Forbes-Mosse sind nur antiquarisch erhältlich. Es würde sich lohnen, gerade sie wiederzuentdecken, die als früh emanzipierte Frau um die Jahrhundertwende unbeirrbar ihren eigenen Weg ging. Sie beendete ihre erste Ehe durch Scheidung, reiste viel und lebte nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes mit einer Lebensgefährtin in der Schweiz. Nachgesagt wurde ihr Vornehmheit bei gleichzeitiger Weltoffenheit und Liebe zu allen Armen und Benachteiligten. Ihre Bücher waren in Nazi-Deutschland verboten.

Der erstmals veröffentlichte Briefwechsel zwischen Bettine von Arnim und Julius Döring liegt in einer schön und aufwändig gestalteten, von Wolfgang Bunzel vom Freien Deutschen Hochstift Frankfurt sorgfältig kommentierten Ausgabe der Anderen Bibliothek vor, durch ein ausführliches Nachwort mit reichlich anschaulichem Bildmaterial ergänzt. Er gilt zu Recht als literarische Ausnahmeerscheinung und ist neben seiner Bedeutung als Zeitdokument der Jahre des deutschen Vormärz ein wichtiges Zeugnis vom Leben, Denken und Schaffen Bettines in reiferen Jahren, zumal uns hier ihre Briefe in nahezu unbearbeiteter Form begegnen und somit ein unverfälschtes Licht auf ihre Persönlichkeit und ihre Lebensumstände werfen. Und wir stellen fest, dass wir in ihnen dennoch die vertraute Bettine erkennen, die uns auch in ihren selbst editierten Briefen entgegentritt. Denn sie trägt stets ihr Herz vor sich her; alles, was sie bewegt, entspringt ihrem reichen Innenleben, anders kann sie nicht. Und auch dort, wo sie etwas literarisch aufbereitet, wo sie erfindet und hinzufügt oder verschweigt und auslässt, wo sie träumt, phantasiert oder fabuliert, bleibt sie immer doch vor allem eines: Sie selbst.

Titelbild

Bettine von Arnim: Letzte Liebe. Das unbekannte Briefbuch. Korrespondenz mit Julius Döring.
Herausgegeben und kommentiert von Wolfgang Bunzel.
AB - Die andere Bibliothek, Berlin 2019.
574 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783847704133

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