Urtümliche Kräfte

Helena Adler begeistert mit ihrem vielschichtigen Roman „Die Infantin trägt den Scheitel links“

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1983 bei Salzburg geborene Autorin und Künstlerin Helena Adler (d. i. Stephanie Stadler) ist Mitglied der Salzburger AutorInnengruppe SAG und Mitbegründerin der Literatur-Werkstatt LiLoLa (Literatur-Lobby-Land). Sie wuchs auf einem Bauernhof am Berg in Anthering im Bezirk Flachgau im Bundesland Salzburg auf, was insofern von Bedeutung ist, als sie dies mit der „Heldin“ ihres jüngsten Romans gemeinsam hat.

2018 debütierte Adler mit dem Roman Hertz 52, der auf jenen „Hertz 52“ genannten Wal anspielt, der aufgrund seiner falschen Tonhöhe beim Singen von seinen Artgenossen keine Antwort erhält und deshalb völlig einsam ist. Im Roman geht es von daher erwartungsgemäß zentral um „Liebe“ und deren Wege und Abwege, Gründe und Abgründe, um die Beziehung der Ich-Erzählerin und „Gossendiva“ Vanta Vest nämlich zu ihrem wesentlich älteren Partner, einem vor allem selbstmitleidigen Künstler intellektuellen Zuschnitts – ihr „Hertz 52“.

Im gleichen Jahr wurde Helena Adlers jetzt vorliegender zweiter Roman Die Infantin trägt den Scheitel links durch ein Stipendium des Landes Salzburg gefördert. Mit diesem Roman ist der Autorin nichts weniger als ein großer Wurf gelungen – ein unbändig mitreißendes, schonungslos einreißendes und zugleich grell aufreizendes ‚Bekenntnis‘ von außerordentlicher Sprachkraft: „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es. / Wir essen schwarze Regensuppe zum Nachtmahl. Der grüne Kachelofen brütet in der Ecke, in der Stube dampft es, doch mir ist kalt.“ –  so hebt der Roman an. Auf nicht einmal zweihundert Seiten gelingt es Adler dergestalt, sich mit unverwechselbarem, waidmesserhaftem Zugriff und archaischem Ton in große Traditionen hineinzuschreiben: in die des Generationen- und Familienromans, des Kindheits- und Adoleszenzromans und die der – kritischen – Heimatliteratur in der Nachfolge großer Bayern und Bayerinnen wie Ludwig Thoma, Oskar Maria Graf, Marieluise Fleißer und Franz Xaver Kroetz.

Selten haben einem Roman vorangestellte Motti das Nachfolgende ebenso präzise präludiert wie summiert wie in diesem Fall: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.“ (Nietzsche), „Meine Sprache ist allzeit simpel, enge und plan. Wenn man einen Ochsen schlachten will, so schlägt man ihm gerade vor den Kopf.“ (Lichtenberg) und „Lass mich ein Kind sein, sei es mit!“ (Schiller, Maria Stuart) – von alldem zeugt der Roman Seite um Seite, Kapitel für Kapitel. Dabei gehört es zu den Besonderheiten, dass diese Kapitel, 21 sind es insgesamt, in ihren Überschriften und Inhalten berühmte Gemälde seit der frühen Neuzeit zitieren, bspw. von Bosch, Tizian und dem bereits genannten Bruegel d. Ä., den späteren Francisco Goya, Eugene Delacroix, Franz Marc und Max Beckmann, aber auch von Zeitgenossen wie Richard Klein, Georg Baselitz, Anselm Kiefer und Joseph Beuys. Das macht, dass diese Kapitel – sie kommen mal sachlich oder expressiv, mal derb, vulgär oder grotesk, mal komisch, traurig oder sehnsuchtsvoll, mal aggressiv, zynisch oder verstohlen liebend daher – von einer stupenden, alle Sinne ansprechenden Glut sind.

Erzählt wird „das animierte Bruegel-Panorama, das meine Welt ist, meine Welt immer schon war“ der Ich-Erzählerin. Diese – und einige ihrer tragischen Freundinnen – begleiten wir, lachend zuweilen vor Ungläubigkeit und Schrecken, ja vor Entsetzen und Grausen, von frühen Kindesbeinen an über die Pubertätsjahre bis ins junge Erwachsenendasein, bis zu jenem Moment, als sie selbst Mutter wird – ungewollt. Sie, das ist das jüngste Mitglied einer selbst die Urgroßeltern noch umfassenden, dem Ruin geweihten Bauernfamilie aus lauter „Bestien“, von denen die beiden älteren Schwestern, ein Zwillingspärchen, mit Abstand die schlimmsten sind. Nichts anderes steht ihnen im gleisnerisch-sadistischen Sinn, als sich die Welt auf eine allerdings skrupellose Weise nutzbar und untertan zu machen und insbesondere die jüngere Schwester unablässig in Taten und Worten zu quälen und zu demütigen. Aber auch für die Eltern und die noch lebenden Vorfahren der Ich-Erzählerin kann der Leser alles andere als eine unmittelbare Sympathie entwickeln. So heißt es beispielsweise über die Mutter auf den ersten Seiten: „Ihr spitzer Schnabel ist ein Hackbeil, damit kann sie Gelenke brechen und Knochen zerschmettern. Der aufgestellte Federschopf und ihre stechenden Augen verleihen ihr eine abgründige Fürstlichkeit. Wenn sie schreit, erklingt ein sopranes Krächzen, das einen an Ort und Stelle einfriert.“ Freilich, je weiter sich der Roman entwickelt, um so mehr werden auch die biographischen Hintergründe dieser Mutter und des Vaters und der Vorfahren wortwörtlich entdeckt. Und da zeigt sich, dass auch sie, die scheinbar ruchlosen Täter, die scheinbar Hartherzigen und ersichtlich Ungerechten, die Widerspüchlichen, Bigotten und Spinnerten, das Produkt einer heillosen, einer ans Inferno streifenden „Heimat“ sind.

Titelbild

Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2020.
184 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272428

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