Frauen sind nichts wert

Edna O’Brien verdichtet in ihrem Roman „Das Mädchen“ das Schicksal der 2014 in Nigeria von Islamisten entführten Schülerinnen

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich war einmal ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr. Ich rieche. Bin voller getrocknetem, verkrustetem Blut, und mein Kleid ist zerfetzt. Mein Inneres ein Morast“ – mit diesen Worten beginnt das neue Buch der irischen Schriftstellerin Edna O’Brien, die mit beinahe 90 Jahren nach Nigeria reiste, um dort das Schicksal von 276 Schülerinnen aus Chibuk im Nordosten Nigerias, die im April 2014 von Islamisten verschleppt worden waren, konkreter zu verstehen. Ist das hier also ein Bericht, eine Reportage, eine Art Dokumentarroman? Mitnichten, auch wenn O’Brien der Wirklichkeit folgt. Die spröd-wuchtigen Sätze des Anfangs zeigen, wie es O’Brien gelingt, aktuelle Politik in Literatur zu verwandeln. Sie kondensiert, was sie in Erfahrung bringt, in einer Hauptfigur, dem Mädchen Maryam. Denn, so O’Brien in ihrer Danksagung, die Einblicke, die sie bei einigen Gesprächen „in die größtenteils verschwiegene Geschichte der entführten Mädchen“ erhielt, waren „absolut niederschmetternd“. So wurde ihr klar, „dass die einzig mögliche Erzählstrategie […] darin bestand, die Geschichten all der vielen gleichsam durch das Medium eines einzelnen erdachten Mädchens zu erzählen“.  

Maryams Erzählung beginnt mit der Entführung der Schülerinnen durch Boko Haram, einer dschihadistischen Terrororganisation, die in Nordostnigeria, im Tschad, in Niger und Nord-Kamerun agiert. Boko Haram tötete bis heute zehntausende Menschen, mehr als 2,3 Millionen flüchteten vor Terror, Zwangsrekrutierung und Gewalt. Neben Selbstmordattentaten, so im Jahr 2011 gegen das UN Büro in der nigerianischen Hauptstadt Abuja gerichtet, überfiel Boko Haram mehrfach Schulen. Gemäß islamistisch-patriarchalischer Vorstellungen bräuchten Frauen keine Bildung, sie sind nichts wert, der Führer der Terrormiliz Abubakar Shekau sagte im Mai 2015, Boko Haram sei von Allah instruiert worden, Mädchen ab dem Alter von neun in die Heirat zu verkaufen.

Trotz der prominenten Medienkampagne Bringbackourgirls und der Behauptung der nigerianischen Regierung im Mai 2015, sie habe alle Camps der Islamisten zerstört, ist der Verbleib vieler bis heute nicht völlig geklärt. Ein Teil der Mädchen wurde nach und nach befreit. Der Versuch, weitere gegen Boko Haram-Kämpfer auszutauschen, zerschlug sich. Einige der Schülerinnen konnten sich selbst befreien, von anderen wird berichtet, sie wollten nicht zurückkehren, teils weil sie einer Gehirnwäsche unterzogen worden seien, teils weil sie fürchteten, bei ihrer Rückkehr zu ihrer Gemeinschaft stigmatisiert zu werden – Motive, die O’Brien in ihrem Roman aufnimmt und die vor allem eines zeigen: Die immerwährende Gewalt gegen Frauen, die, körperlichen Torturen entronnen, nur anderen Formen der Gewalt unterworfen werden: Ausgrenzung, Stigmatisierung, Verachtung, als wären sie an ihrem Schicksal selbst schuld. Es verwundert also nicht, dass sich Frauen oft fatalistisch in ihr Schicksal fügen: Nach Maryams Rückkehr zu ihrer Familie bemerkt ihre Mutter, es liege „nicht in unserer Macht, etwas zu ändern“, eine Haltung, die Maryam hinterfragt: „Warum nicht?“ Doch als Antwort erhält sie nur eine quasi naturgegebene Wahrheit: „Weil wir Frauen sind.“ 

Es geht in O’Briens Buch um die Sicht der Männer auf Frauen, ihre unbegrenzte Macht über sie und den Versuch, den eigenen Blick, den eigenen Glücksanspruch darüber nicht zu verlieren. Schon bei ihrer Entführung werden die Mädchen, weil sie Mädchen sind, erniedrigt, als „Schlampen, Prostituierte“ bezeichnet. Sie werden in ein Camp gebracht, ihre Kleider, damit ihre frühere Identität, werden verbrannt, sie müssen Kopftuch tragen. Als „Schulunterricht“ werden fünfmal am Tag Koransuren in einer ihnen nicht verständlichen Sprache auswendig gelernt und heruntergebetet. Doch Maryam lässt sich auch von ihrer Todesangst nicht ihre präzise Wahrnehmung nehmen. Als der von allen bewunderte Chef des Camps auftritt, reagiert sie schockiert, doch zugleich klar und distanzierend: „In meinem Kopf wurde es schwarz. Solche Macht, solche Unangreifbarkeit hätte ich nie für möglich gehalten.“ Die Mädchen werden als rechtlose Sklavinnen gehalten. Alle werden im Freien auf einen Tisch geschnallt, dann vielfach vergewaltigt (manche Mädchen, die flüchten konnten, berichteten von täglichen Vergewaltigungen, einige wurden mit HIV infiziert). Frauen sind für diese Kämpfer Gottes nichts als zu demütigende Körper, im sogenannten Blauen Haus sind eigens Zellen eingerichtet, die nur zur Vergewaltigung dienen: „Es geschah vor jedem Gefecht, um die Männer in Stimmung zu bringen.“ Frauen, ihr Körper, sind nichts als „battlefields“ (so Christina Lamb in ihrem Buch Our Bodies, Their battlefield, Vergewaltigung ist „the cheapest weapon known to man“) und der Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, Gynäkologe und Kämpfer gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen, bemerkte lakonisch zu (Massen-)Vergewaltigungen: „It never stops.“

Maryam muss darüber hinaus im Kochhaus arbeiten: „Ich wache auf dem Boden des Kochhauses auf, wo ich wohl aus Erschöpfung eingeschlafen bin. Ich fange an, am Lehm zu kratzen wie ein Tier, das sich freischarren will. Ich werde nie mehr hier herauskommen. Ich bin für immer hier.“ Selbst bei Verrichtung ihrer Notdurft werden die Mädchen sadistisch der Gefahr körperlicher Versehrung ausgesetzt, sie müssen sie in einem Sumpf verrichten, der mit Stacheldraht überzogen ist.

Für wie wertlos Frauen erachtet werden, wird fast noch eindrücklicher in einer Episode, in der die Frau des Chefs des Camps gesteinigt wird. Sie soll Ehebruch begangen haben, auch sie, die einst Macht über die Sklavinnen besaß, ist nichts weiter als eine Frau, Objekt, Fleisch, über das verfügt werden kann. Die minutiöse Beschreibung der Steinigung, die nicht vor Drastik zurückschreckt, zeigt, dass Frauen stets vernichtet werden können, wenn sie gegen patriarchale „Gesetze“ verstoßen.  

Viele der Mädchen werden an Kämpfer zur „Belohnung“ verheiratet. Maryam hat Glück, Mahmoud „war zaghaft, anders als die Bestien“. Mahmoud ist selbst Opfer, er hat sich von Boko Haram anwerben lassen, um mit seinem Sold seine Mutter vor dem Hungertod zu bewahren. Mahmoud muss immer wieder auf gefährliche Kriegszüge, vom letzten kommt er verwirrt zurück, er musste sein eigenes Dorf überfallen und seinen eigenen Cousin töten. Gleichwohl erhält sich Maryam ihre Distanz: „Ich liebte ihn nicht, aber den Tod wünschte ich ihm auch nicht.“   

Maryam wird schwanger, ihr Verhältnis zu Babby, ihrem Kind, ist schwierig. Sie nimmt es einerseits wahr wie ein kleines, fremdes Tier, das sie, die Mutter, nur fürs eigene Wachstum und Leben benutzt, zugleich wird Maryam später um Babby (und damit dessen Zukunft als Mädchen) kämpfen.

Bei einem Angriff der Regierungstruppen können Maryam, ihr Kind und andere Mädchen mit Hilfe Mahmouds, der dabei getötet wird, flüchten. Eine Reise durch ein durch Gewalt verheertes Land beginnt, bei der Maryam schließlich in einem Traumazentrum behandelt wird. Lange findet der Arzt keinen Zugang zu ihr. Doch dann erzählt sie, wie sie in ihren Träumen ihre Schlächter schlachtet, mit jedem Traum werden die Phantasien blutrünstiger – für Maryam ein Moment der Befreiung: „Wir hatten das Eis gebrochen.“

Sie kehrt zu ihrer Familie zurück, ihr Vater ist tot, ihr Bruder Yusuf wurde, da er sie suchte, grausam ermordet, was ihr ihre Mutter nicht verzeiht. Maryam wird stigmatisiert, man nimmt ihr Babby weg, spielt ihr vor, ihr Kind sei gestorben, sie selbst muss im Haus von Onkel und Tante arbeiten, wo sie in ein dunkles Zimmer gesperrt wird, gehalten wie eine aussätzige Sklavin.  

Doch auch Maryams Mutter findet irgendwann in sich mehr als Fatalismus und Unterwerfung unter die patriarchale Gemeinschaftsmoral. Nach einem Gespräch mit einem Pfarrer wird sie anderen Sinnes, stellt sich auf die Seite ihrer Tochter, gesteht ihr, dass Babby noch lebt. Maryam und ihre Tochter werden wiedervereint und können sich in einem Kloster erholen. Zwar müssen sie auch diesen Ort wieder verlassen, sie landen in einem Flüchtlingscamp. Doch haben sie letztendlich Glück. Maryam bekommt eine Lehrerinnenstelle angeboten – für Maryam und ihr Kind gibt es einen Ort und eine Zukunft:

Ich konnte nicht schlafen. Die Plane auf dem Dach über dem Schlafzimmer war zurückgerollt. Die Sterne waren verschwunden, und der Himmel war golden, eine allüberspannend goldene Kuppel von so hellem Glanz, dass es schien, als wäre die Welt im Begriff, neu erschaffen zu werden. Ich war von einer ekstatischen Freude erfüllt, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Wir waren in Sicherheit. Wir hatten ein Zuhause gefunden, zumindest fürs Erste. Licht ergoss sich ins Zimmer, erhellte das Universum. Alles war Stille. In diesem Moment ungetrübter Hoffnung, ungetrübten Glücks war mir, als dränge dieses Licht bis in die dunkelsten Schichten des Landes.

Klingt dieser Schluss zu harmonisierend? Nein. Hier wie im gesamten Roman gelingt es O’Brien mit ihrer Konstruktion der Stimme Maryams sowohl Grausamkeit und Leid wie auch Widerstand, Überlebenswillen und Glücksanspruch präzis einzufangen.

Titelbild

Edna O'Brien: Das Mädchen.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
256 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455008265

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