Selbstvergewisserung im Zeitalter der Fragmentierung

Annika Bartsch sieht in ihrer Dissertation „Romantik um 2000“ gegenwärtige Konflikte der Identitätsbildung durch das Brennglas eines (früh-)romantischen Problemhorizonts und leistet entscheidend Neues für die Analyse der Gegenwartsliteratur

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 Wer gegenwärtig über das Subjekt als ein ökonomisch zergliedertes, seine Identität als bastelndes Projekt begreifendes und (möglicherweise) vergeblich nach einem übergreifenden Sinnhorizont suchendes nachdenkt, sondiert häufig den Raum des Gegenwärtigen inklusive seiner disziplinären Vielfalt, um sämtliche Ebenen in den Blick zu bekommen. Nun ist dieser Ansatz keinesfalls grundproblematisch; dennoch verkennt er in Teilen eine historische Fortsetzung von Problemkonstellationen, die immer wieder neu adressiert werden oder – etwas pessimistischer gedacht – schleifenartig wiederkehren und sich damit verfestigen, anstatt sich – in welcher Form auch immer – zu entspannen, gar aufzulösen. Akzeptiert man den wesentlichen Anspruch an literarische Texte, gesellschaftspolitische Zentralkonflikte der Identifikation in einer Art Möglichkeitsraum zu verhandeln und Handlungsstrategien im Angesicht der Krise zu simulieren und zu erproben, so eröffnet Annika Bartsch im Rahmen ihrer Dissertation mit dem klarsichtigen Titel Romantik nach 2000 einen neuen Blick auf Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Zwar ist es zunächst einleuchtend, dass hochspezialisierte und arbeitsteilige spätmoderne Gesellschaften wie die unsrigen immer wieder um die Idee des „großen Ganzen kreisen und den Ist-Zustand von Entfremdung und Partikularisierung insbesondere im Rahmen ästhetischer Überlegungen als Problem entwerfen. Trotzdem so zeigt Bartsch einleitend – scheint es doch bemerkenswert, dass die Epoche der Romantik in ihrem strukturell veräußerten und vielleicht initial erlebten Unbehagen an zentralen Veränderungswellen der Moderne fortwährend aktuell bleibt: In einer „Kontinuität des Problemhorizontes“ leben die für heutige Kontexte so zentralen Fragen personaler Identität im Wandel ungebrochen fort und konstituieren eine Art Persistenz von Konfliktkonstellationen, die die Autorin an literarischen Beispielen nachzuzeichnen versucht. Hierbei spielt ihre – unbedingt zu bekräftigende – Grundauffassung, dass Literatur ihrem Wesen nach als Reaktionsform, als resonante Antwort auf bestimmte „realweltliche“ Problemkomplexe zu verstehen ist, die sie ästhetisch konfiguriert und im Zusammenhang mit einem weitreichenden Repertoire von Darstellungs- und Textverfahren quasi modellhaft zur Diskussion stellt, eine tragende und fundamentale Rolle. In diesem Sinne fungiert „Romantik als Modell“ (initiiert durch die Programmatiken der Frühromantiker Friedrich Schlegel und Novalis am Epochenumbruch des 19. Jahrhunderts) als ein diskursiver Argumentationszusammenhang (konkretisiert später durch „Denkfiguren“), mit dessen Hilfe Ambivalenzen der Moderne in einem Kontinuum eingebettet und vor einer historischen Reflexionsfolie neu betrachtet werden können – sie wird zum „Weltdarstellungs-, Darstellungs- und Handlungsmodell“.

Mit dieser sehr bestechenden und luziden Grundkonfiguration ihrer Arbeit nimmt Bartsch – ausgehend von einem komplexen romantischen „Problemhorizont“, der die subjektiven Verästelungen des Ich in einem Kraftfeld von Gesellschaft, Philosophie und Ästhetik ernstnimmt – die so vielfältige deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den Blick ihrer vergleichenden Beobachtungen: Am Beispiel von Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee weist sie die romantischen Schlüsselmotive der Suche und der Reise, den charakteristischen Modus der Wirklichkeitsmultiplizierung vor dem Hintergrund der frühromantischen Transzendentalpoesie sowie bis ins Narrativ ausgreifende Möglichkeiten der Erzeugung von Pluralität nach. Hoppes Text variiert damit – so die zentrale Auffassung der Analyse – die Idee des romantischen Schwebezustands als epistemologischen Konflikt.

Von besonders hoher Qualität und Überzeugungskraft sind die sich in Bartschs Text anschließenden Analysen zu Wolfgang Herrndorf: An mehreren Texten zeigt die Autorin auf sehr profunde Art und Weise, wie Herrndorf über die Einbindung des Romantischen spätmoderne Konfliktlinien innerhalb der Selbst- und Weltdeutung ästhetisch modelliert und Fragestellungen im Lichte einer historischen Kontinuität substanziell anreichert: Gerade die Lesarten zu Herrndorfs ungemein populärem Text Tschick werden dabei zurückgebunden an den romantischen Reisetopos und das Abarbeiten an einer Idee des Absoluten, der Kohärenz und Zielorientierung – auch im Sinne eines gesamtbiographischen Konnotation. Der subjektive Eindruck der Entkoppelung von Selbst und Welt, Individuum und Gesellschaft wird dabei als Variation des Grundrepertoires romantischer Philosophie in Übertragung auf einen spätmodernen Handlungsrahmen begriffen und über die Verhandlung von Identität im Spannungsfeld von Ganzheit und Partikularisierung zugespitzt und aktualisiert.

Eine weitere Facette des romantischen Ideenkosmos wird zuletzt über das Werk Helmut Kraussers perspektiviert; als gewissermaßen „dunkle Seite“ analysiert Bartsch das Romantische als Form der Weltflucht und Realitätsabwehr, in dessen Zusammenhang narrative Techniken der Metaisierung und Selbstreflexion auf besondere Weise zur Geltung kommen. Interessant bleiben – gewissermaßen als Nebenbemerkungen mit geringerer tiefenstruktureller Anwendbarkeit des „Modells Romantik“ – die abschließenden Erweiterungen auf zwei weitere Gegenwartstexte, mit deren Hilfe Bartsch neben der Plausibilisierung ihrer „Großtexte“ in Abgrenzung dazu final den Beleg für die starke Breitenwirksamkeit romantischer Grundideen (hier bezogen zusätzlich auf den Bereich der Musikästhetik sowie der Frage der Autor-Werk-Durchdringung als wesentlich romantischen Motivstrukturen) liefert.

Wie romantische Poesie als Denkfigur in überaus tiefenstruktureller Weise Eingang findet in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, kann Annika Bartsch auf überzeugende Weise in der gebührenden Breite der Textauswahl wie Tiefe ihrer Analysen zeigen. Auf dem wuchtigen Fundament eines stringenten theoretischen Kernarguments (das lediglich stärker die Begriffe der „Form“ und der „Diskursformation“ hätte reflektieren können) belegen und bestätigen die verschiedenen Einzelmodelle ihres Korpus das hochinteressante und unbedingt weitergehend zu erforschende Reaktualisierungspotenzial der Gegenwartsliteratur mit Blick auf romantische Kernstrukturen. Einzig an manchen Stellen kam bei der Lektüre die kritische Frage auf, wie sich über die reine „Bestätigung“ dieses Befunds die Bezugnahme auf romantische Denkfiguren textstrategisch noch intensiver begründen könnte, anders gesagt: was den Romantik-Bezug (neben dem Problemaufriss Identität und Partikularisierung) gegenwärtig unbedingt notwendig macht. Gerade im Rahmen des Ausblicks hätte man hier sicherlich noch weitere Hypothesen anstellen können. Jenseits der inhaltlichen Fragen bleibt zuletzt nur die Anmerkung, dass sich Verlag und/oder Autorin beim Lektorat des Textes deutlich mehr Mühe hätten machen können, damit die Lektüre einer wirklich profunden Analyse eines zentralen Themas nicht durch unnötige und vermeidbare Fehler ins Stocken gerät.

Titelbild

Annika Bartsch: Romantik um 2000. zur Reaktualisierung eines Modells in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
311 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-13: 9783825369767

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch