Zwischen Bibliothek und Flachbildfernseher

Wie Christian Baron in „Ein Mann seiner Klasse“ Herkunft problematisiert, akzeptiert und integriert

Von Leonard Preißler-BuchtaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leonard Preißler-Buchta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Super Mario auf Nintendo und starke Männer wie Bud Spencer, Terence Hill, Jacky Chan, Obelix, Hulk Hogan und der ein oder andere Fußballer sind in Ein Mann seiner Klasse die Helden der Kindheit des Ich-Erzählers, der in den 1990er Jahren in Kaiserslautern aufwächst. Musikalisch infiltriert nicht etwa mit Bach und Mozart, sondern mit der Kelly Family, deren Musik und Texte die Mutter besonders gerne mag, und beeindruckt von den Trinkliedern männlicher Familienangehöriger. Christian Baron arbeitet in seinem Buch häufig mit populärkulturellen Verweisen und bildet ein mediales Patchwork der 90er Jahre ab. So beschreibt der Erzähler das Aussehen seines Großvaters väterlicherseits zum Beispiel wie das Freddy Kruegers, einer bekannten Horrorfilmfigur. Ein Text der Kelly Family taucht wiederholt als ein mit persönlicher Bedeutung aufgeladenes Lied der Familie auf. Manche Stellen erinnern an die Pop-Literatur der 1990er Jahre, etwa wenn Baron in seinem autobiographisch angelegten Text Medienhelden der Kindheit verwendet, um Rahmenbedingungen des Aufwachsens zu skizzieren.  

Wie der Autor, 1985 geboren als zweitältestes Kind von vieren, wächst der Protagonist Christian in prekären Verhältnissen in einem Arbeiterstadtteil von Kaiserslautern auf. Der Vater, Möbelpacker und Alkoholiker, ist gewalttätig gegenüber Frau und Kindern, die Mutter leidet zeitweilig unter starken Depressionen. Angst begleitet Christian durch die ersten zehn, zwölf Jahre seiner Kindheit – Angst um sich selbst, um seine Geschwister und vor allem um seine Mutter, zu der er eine innige Beziehung hat. Die Lesenden werden zu betroffenen Zeugen, wenn Baron schonungslos beschreibt, wie Christian und seine Geschwister hilflos miterleben müssen, wenn nebenan die Mutter vom Vater brutal geschlagen wird: 

Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte. Niemals verloren wir darüber ein Wort. Wir spürten den Schmerz, wir betrachteten unsere zitternden Hände, wir warfen einander Blicke zu. Das Flehen und das Flennen wurden uns mit der Zeit zur Normalität.

Der Lesende kann sich unangenehm berührt als Voyeur fühlen, wenn er das reale Leid und die reflektierenden Gedanken über eine Kindheit erfährt und gleichzeitig mit einer gewissen Spannung verfolgt. Christians Vater verspielt und vertrinkt das knappe Einkommen, sodass die Familie zeitweilig hungert. Dennoch wird das Verhältnis zwischen Christian und seinem Vater keineswegs als rein negativ beschrieben. Christian bewundert und imitiert den kräftigen Vater, mit seinen Muskeln und Tattoos, der stolz ist auf seine Arbeit, seine Rolle als Ernährer der Familie, als Mann seiner Klasse. Es werden Momente des Glücks auch mit dem Vater beschrieben, vorwiegend dann, wenn gemeinsam Nintendo gespielt oder ferngesehen wird: 

Am nächsten Tag würden wir nicht zur Schule gehen. Wir würden ausschlafen. Eine traumschöne Aussicht vor einer traumschönen Nacht. Bis zum Morgengrauen spielten wir zu dritt Super Mario Bros. auf dem Nintendo. Konsole und Spiel hatte unser Vater am selben Tag klargemacht. 

Man bewegt sich hauptsächlich innerhalb der Familie, einschließlich Großeltern und Tante, mit Fremden sind die Kinder scheu. Der frühe Tod der Mutter stellt einen Wendepunkt dar. Der Vater zieht sich in der Krisensituation aus der Familie zurück und spielt fortan kaum noch eine Rolle im Leben der Kinder. Die engagierte Tante nimmt sie unter ihre Fittiche. Es entsteht der Eindruck, dass dieses Schicksal in gewisser Weise für die Kinder einen Glücksfall darstellt. Sie erleben mit und bei den Verwandten Ruhe, Ordnung und förderliche Lebens- und Entwicklungsbedingungen. Christian bekommt am Ende der Grundschule die Empfehlung fürs Gymnasium, es findet sich aber keines, dass den Jungen aus schwierigen Verhältnissen aufnehmen will.  

Die Kritik an der Gesellschaft wird deutlich, ohne dass direkt angeklagt wird. Der Erzählende berichtet rückblickend und aus einer homodiegetischen Erzählhaltung heraus belastende Kindheitserfahrungen eher nüchtern und überlässt die Empörung den Lesenden. Über die Nachbarn, die wegschauen, weghören bei den unüberhörbaren Szenen häuslicher Gewalt, über die Zuständigen beim Jugendamt, die sich verächtlich äußern über die Menschen, die sie, ihrem Auftrag gemäß, schützen, unterstützen und fördern sollen. 

Ich weiß es ja. Aus denen wird nie was. Bei den Zuständen. Ist halt ein anderer Menschenschlag.“ […] „Wir hatten schon oft mit dieser ganz speziellen Sippschaft zu tun“, sagte die Frau. „Weißte eigentlich, wie wir die hier im Haus nennen, deine Schützlinge, die gleich aufkreuzen und die Hand aufhalten werden?“ Jetzt kicherte Herr Schofel auch. Er sagte: „Sozial-hilfe-Adel. Sehr gut.

Und auch das Bildungssystem, welches angeblich so durchlässig ist für alle, die begabt und fleißig sind, verweigert sich hier der Aufgabe, Chancengleichheit herzustellen. Christian hat es trotzdem geschafft. Er macht das Abitur auf der Gesamtschule. Wie Christians Leben weitergeht, verraten die Biographie des Autors, aber immer wieder auch Textstellen, die die Kindheitsreflexion unterbrechen und hinter Christian den Autor selbst als Erwachsenen erkennen lassen. Er absolviert ein Studium, arbeitet als Redakteur beim Magazin Der Freitag und ist Buchautor. Doch was ist der Preis des Erfolgs, wenn man sich von seiner Klasse, seiner Herkunft, insbesondere seinem familiären Bezugsrahmen über Bildung entfernt? Baron beschreibt den Gegenwind, nicht nur seitens der Gesellschaft, sondern auch aus den Reihen der eigenen Familie, des Herkunftsmilieus. Er ist der Verräter und ebenso der Nicht- (mehr)-Dazugehörende. Im Kapitel, das mit „Schmerz“ überschrieben ist, schreibt der Autor über die nähere Vergangenheit, wenn er das Verhältnis zu seinem älteren Bruder thematisiert:

Je weiter mein eigener Bildungsaufstieg voranschritt, umso schwerer fanden wir im Gespräch zueinander. Nach dem Abitur begriff er nicht, warum ich in eine andere Stadt zog. Nach dem Studium verstand er nicht, warum ich mit Mitte zwanzig noch kein Kind gezeugt hatte. Nach meinem Volontariat schüttelte er den Kopf über meinen Glauben daran, als Wörteraneinanderreiher jemals eine Familie ernähren zu können.

Bereits der Einstieg in den Text zieht die Lesenden hinein in die Thematik. Auf der ersten Seite wird vom Sterben des Vaters erzählt, bei dem sein Sohn ihn begleitet. Nur ist der dem Vater Beistehende nicht der Ich-Erzähler, sondern sein älterer Bruder Benny, wie erst etwas später richtiggestellt wird. Der Sohn, Benny, der im Herkunftsmilieu verbleibt, vergibt seinem Vater offensichtlich, was dem Ich-Erzähler zu diesem Zeitpunkt nicht gelingt. Barons Text scheint gleichwohl weniger eine Abrechnung mit dem Vater zu sein. Das wäre durchaus nachvollziehbar, angesichts der Angst und der erlebten Gewaltexzesse, die akribisch erzählt werden. Man gewinnt den Eindruck, dass Baron in seinem Text eher eine verständnisvolle Reflexion des väterlichen Seins und Handelns betreibt. Dies gipfelt im Titel des Buches Ein Mann seiner Klasse. Wie aus einer persönlichen Dringlichkeit des Ich-Erzählers heraus scheinen die in der Kindheit als schön erlebten Momente und Erlebnisse mit dem Vater besonders herausgestellt zu werden. Das kann im Kontext einer Verarbeitung der belastenden Kindheit, einer Aussöhnung – sowohl mit dem Vater als auch mit der eigenen Herkunft – verstanden werden. Fragen kann man sich, was es den Lesenden bringt, diese sehr persönliche Reflexion zu lesen. Ein Text, der keiner Gattung eindeutig zuzuordnen ist. Das Buch liest sich wie ein Roman, auch wenn Baron Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit erhebt. Dennoch ist der Text keine Reportage und beruht nicht auf objektivierbaren Fakten. Baron selbst gibt in einem Interview an, sich das Buch auch mit Hilfe der Erinnerungen seiner Familienangehörigen erarbeitet zu haben. Durch die Verbindung verschiedener subjektiver Realitäten komplettiert sich die Geschichte zu einer autobiographischen, vielleicht in Teilen autofiktionalen Erzählung. 

Die chronologische Erzählweise sowie der einfache Stil machen das Buch leicht lesbar. Emotional angreifende Szenen beschreibt Baron eher nüchtern. An einer Stelle arbeitet Baron mit dem Motiv des Traums. Dieser Traum wird als genau erinnert benannt, wirkt aber eher fiktional. Im Traum findet sich Christian in einer unwirtlichen Szenerie wieder, einer Gegend in Schutt und Asche, in der er das Haus seiner Kindheit findet. Christian betritt die ehemals elterliche Wohnung und trifft dort u.a. auf seine tote Mutter, die seinen Namen ruft: 

Ihre tief in den Höhlen liegenden Augen starrten mich an, aus ihrem eingefallenen Mund drang noch immer mein Name, nur mein Name und sonst nichts. Etwas fiel zu Boden. Der Ehering war ihr vom abgemagerten Finger gerutscht. Ich hob ihn auf, sie rief noch immer meinen Namen, laut und ohne Unterlass, ich nahm ihre Hand, öffnete sie, legte den Ring hinein, schloss die Hand, streichelte ihr über die Stirn und kehrte um, verfolgt von diesen Rufen. 

Angesichts des weitgehend nüchternen Stils im übrigen Text wirkt dieser Ansatz hier überraschend und irgendwie nicht integriert.

Das Buch hebt in besonderem Maße auf gesellschaftskritische Motive ab. Das Aufwachsen in materieller Armut, mangelnde Bildung und Bildungschancen, elterliche Gewalt, Abwertung und Abschreibung, all diese Themen finden sich in Barons persönlich erzählter Geschichte. Es ist anerkennenswert, dass Baron hierfür seine eigene Herkunft offenbart und veröffentlicht. Die Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die keineswegs ein Einzelschicksal abbildet, erlangt durch die Authentizität, jenseits der Diskussion der Zugehörigkeit zu einer literarischen Gattung, eine besondere Dichte.

Ein Mann seiner Klasse, der Titel bezieht sich wahrscheinlich auf den Vater, deutet aber möglicherweise darüber hinaus auch auf den Autor selbst. Er bekennt sich zu seiner Herkunft und nimmt sie an. Gleichzeitig wird die Trauer deutlich, die auch damit verbunden sein kann, sich von seinen Angehörigen, seiner Herkunft abzusetzen. Somit wird ein Reifungsprozess beschrieben, der, wäre die Geschichte fiktional, einen guten Bildungsroman darstellen würde. Ein aufrüttelndes Buch, das die Bedingungen des Aufwachsens in einfacher, aber prägnanter Weise stellvertretend für Viele erzählt.

https://www.swr.de/swr2/literatur/lesezeichen-literatur-ein-mann-seiner-klasse-christian-baron-roman-100.html [29.04.20]

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christian Baron: Ein Mann seiner Klasse.
Claassen Verlag, Berlin 2020.
288 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783546100007

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