Kosmos ohne Worte

Zu Karl-Heinz Otts kulturhistorisch ausgreifendem Beethoven-Essay „Rausch und Stille“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Musik in Karl-Heinz Otts Œuvre eine nicht unwesentliche Rolle spielt, ist bekannt. Er ist nicht nur ein belesener Autor mit eigenem Ton, sondern auch ein dramaturgisch geschickter Textkompositeur, der kulturhistorische Linien zu ziehen vermag. Das verwundert nicht weiter, denn Ott (*1957) hat schließlich neben Germanistik und Philosophie auch Musikwissenschaft studiert. Rauschen und Stille gewinnen in seinen Texten einen eigenen Ton, wie er etwa in seinem letzten Kurzroman Und jeden Morgen das Meer unterstrichen hat.

In seinen Essays, sei es in Tumult und Grazie über Georg Friedrich Händel oder jüngst über Friedrich Hölderlin, setzt Ott kontrapunktisch ganz andere Akzente: In lockerem und eingängigem Plauderton entwirft er jeweils gelehrt und unterhaltend ein kulturhistorisches Panorama zu Werk und Rezeption seiner jeweiligen Helden. Das gilt nicht minder für seinen gut 260 Seiten starken Text Rausch und Stille zu den neun Sinfonien Beethovens. Und auch hier scheut Ott die eine oder andere pointierte Formulierung nicht. Etwa: „Bayreuth wird zum Lourdes der glaubenslosen Gläubigen“, wenn Ott die Funktion von Musik als neuer Kunstreligion behandelt oder wenn er beim vierten Satz der siebten Symphonie den Vergleich mit dem kleinen Häwelmann zieht, der „immer mehr, immer mehr, immer mehr“ will, so wie Beethoven mit seinen Fortissimo-Stellen. Und mit Verweis auf Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme und die Tatsache, dass „während des ausgehenden 18. Jahrhunderts immer kleinere Einheiten in den Blickpunkt des Interesses geraten“ betont Ott: „Die metaphysischen Systembauten haben ausgedient, angesagt ist die analytische Häckselmaschine“.

Den „Mann mit der wilden Mähne“ kennen vermutlich viele, wie auch Für Elise oder „die vier Schicksalsschläge der fünften Sinfonie – da-da-da-daa!“ – sowie die Ode an die Freude aus der neunten Sinfonie. Mit diesen Bildern steigt Ott, der einige Jahre auch als Musikdramaturg gearbeitet hat, in seinen Essay ein. Nach einer hinführenden, rezeptionsgeschichtlichen Einleitung geht er in neun Kapiteln Sinfonie für Sinfonie durch. Dabei benennt Ott für jede ein Hauptthema und verbindet dieses jeweils mit Bemerkungen zum Kontext, wobei er seine Hörerfahrungen variationsreich umschreibt und zudem Notenbeispiele gibt. Etwa im 4. Satz der Vierten: „Alles läuft rasant, schneller als am Schnürchen. (…) Mit wildem Gehacke rennt der Satz fort, bis tatsächlich die Tonart wechselt und einem wohligen Thema Platz macht, das sich auf vierundzwanzig Takte erstreckt. Danach wieder triolisches Gequirl und Staccacti, alles gehetzt.“

Wiederholt beschreibt Ott sein Hörerleben wortgewaltig. Zum vierten Satz der Sechsten heißt es: „Übergangslos befinden wir uns im vierten Satz. (…) Nach wildem, wirrem Herumgeschwirr der Geigen, das keine feste Tonart aufzuweisen scheint, fängt das volle Blech so ohrenbetäubend an zu dröhnen wie noch in keiner Sinfonie. Zumindest kommt es einem so vor, und sei es, weil bislang alles so friedlich geklungen hat, selbst die Wirtshaustrampelei. Das Blech hört nicht auf zu brüllen, die Pauken donnern wie nie, die Bässe schrubbeln ungestüm, die Piccoloflöte schrillt in höchsten Höhen, das ganze Orchester peitscht auf einen ein, man bangt um die Instrumente.“

Beethoven gilt als Rebell, ihm haftet „etwas Auffahrendes, Brüskes, Spottlustiges, Renitentes“ an, seine „Musik strotzt vor Energie“. Mit dem in Bonn vor 250 Jahren geborenen Klassiker „wandelt sich das Bild des Komponisten. Er tritt nun selbst in den Mittelpunkt, man verehrt ihn als Ausnahmemenschen, der Begriff des Genies macht die Runde.“ Die Genialität, das Außergewöhnliche seines Werks plakativ in den Vordergrund zu rücken, zeigt sich gerade in diesen Tagen, in denen allenthalben auf das Jubiläumsjahr hingewiesen wird. Der Spiegel titelte unlängst (49/2019) „Ludwig der Größte“ und Die Zeit (2/2020): „Beethoven der Rebell“.

Karl-Heinz Ott holt weit aus, um den Giganten Beethoven vorzustellen, ohne dabei auftrumpfend-belehrend aufzutreten. Musik-, literatur- und philosophiegeschichtlich verortet er Beethovens sinfonischen „Kosmos ohne Worte“. Wie „Kolosse“ ragen Beethovens Sinfonien aus der Musikgeschichte. Während insbesondere spätere Musiker, Musikkritiker und Philosophen, aber auch Literaten die reine Instrumentalmusik als Gipfel, zumindest als Zäsur der Musikgeschichte begreifen, wie etwa Wagner und Adorno, zeigen sich viele Zeitgenossen eher verstört, finden seine Musik „chaotisch“.

Im Grunde halte bis heute der alte Streit zwischen Rousseau, der nur „sangbare Musik für menschengemäß“ gelten lassen wollte, und Rameau an, der auf ihrer mathematisch unterlegten Harmonielehre beharrte:

Schon Rousseau erweist sich als Rouseauist, wenn er in seiner Schrift Was ist Kunst? den Kopf über Opernhäuser schüttelt, die von von zahlreichen einfachen Leuten finanziert werden, die sich für Opern nicht interessieren. Wie Rousseau wütet Tolstoi gegen eine Kunst, die nicht jedem verständlich ist und die Wege einschlägt, denen das Volk nicht folgen kann. Schuld an dieser Entwicklung ist für Tolstoi kein anderer als Beethoven, dessen ‚harmonische, rhythmische und orchestrale Kompliziertheiten‘ von ‚krankhafter nervöser Reizbarkeit‘ zeugen.

Bereits im ersten Satz der ersten Sinfonie, die am 2. April 1800 in Wien uraufgeführt wurde, merke man beim dreimaligen „Spiel mit den Septakkorden“, „dass Beethoven auf eine kleine Irritation aus“ sei. Unmerklich heble der später völlig ertaubte Komponist „klassische Strukturgesetze immer mehr aus, allerdings nur Schritt für Schritt und zuweilen fast unmerklich.“ In der Fünften etwa gehe Beethoven nicht nach jener „analytische(n) Häckselmaschine“, sondern nehme „den entgegengesetzten Weg und erzeug(e) aus winzigen Teilchen, die wenig herzugeben scheinen, einen tobenden Kosmos.“

Karl-Heinz Ott hat ein kluges Buch über Beethovens Sinfonien geschrieben. Es zielt eher auf den musikalischen Liebhaber und den musikwissenschaftlichen Laien. Es wirft viele interessante Schlaglichter auf Beethovens Sinfonien, etwa auf die widerwärtige politische Instrumentalisierung durch die Nazis. Zwar streift Ott die antisemitischen Invektiven von Wagner auf Mendelssohn nur, während die eine oder andere Information variierend wiederholt wird. Auch ist die „Ode an die Freude“ nicht erst seit 1985 Europa-Hymne, sondern bereits seit 1972. Dennoch tut dies dem Lesevergnügen keinen Abbruch und vermittelt etwas von dem, was Victor Hugo meinte: „Dieser Taube hat die Unendlichkeit gehört“.

Titelbild

Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille. Beethovens Sinfonien.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019.
285 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783455003963

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch