Erinnerte Abgründe

Dragica Rajčić Holzners fulminantes Erschreiben eines gewöhnlichen apokalyptischen Frauenlebens

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dragica Rajčić Holzner begann in den frühen 1970er Jahren zu schreiben – Lyrik, Erzählungen und dramatische Texte –, zunächst auf Kroatisch, später dann auch auf Deutsch in einem intendiert an „Gastarbeitersprache“ erinnernden, dem Regelwerk nach schadhaften Stil (Halbgedichte einer Gastfrau, 1986; Lebendigkeit Ihre züruck: Gedichte, 1992; Aufliebeseen. Theaterstück, 2000; Warten auf Broch, 2011). Für ihr Werk wurde die Autorin mehrfach gefördert und ausgezeichnet. So erhielt sie 1994 den renommierten Adelbert-von-Chamisso Preis der Robert Bosch Stiftung und war zweimal Swiss Writer-in-Residence in den USA (2007/2008, 2009).

Ihr jüngstes Werk Glück ist wiederum ein schierer Glückfall für die Literatur – und damit dazu angetan, seiner Verfasserin eine weitere Auszeichnung einzutragen. Das gilt, obwohl das Buch von allem anderen zu handeln scheint als vom Glück und gewiss keinen Leser mit Glückgefühlen der landläufigen Art zurücklässt. Eher schon stellen sich jene dank hoher Sprachkunst zugleich hervorgebrachten wie gebändigten abgründigen Schrecken ein, die beispielsweise mit der Lektüre der frühen Texte Herta Müllers oder mit Edgar Hilsenraths Nacht einhergehen.

Und doch wird dem Leser auch hier einschlägig Glück zuteil, eine große ästhetische Befriedigung nämlich an der Entfaltung einer Sprache und einer Sprachanordnung, die nicht leicht ihresgleichen finden dürften. Rajčić Holzner schreibt im, vor allem grammatikalisch immer wieder fehlerhaften und gerade deshalb eindringlich-authentischen, Stil einer um verdichtete Sachlichkeit, bannende Anschaulichkeit und den präzisen Ausdruck kämpfenden Migrantin. Dabei entlastet sie beispielsweise die Sprache nicht nur von entbehrlichem ‚Zierrat‘– „Zweites Womenirrhaus Chicago Frauen“ lautet eine Kapitelüberschrift – oder fügt die Wörter zu irritierend-erhellenden Formulierungen – „Sicherheit sollte in Kopf mich einpflanzen“ lautet eine andere –, sondern findet auch Bilder und Ausdrücke von hoher poetischer Kraft: „Nach dem Küssen / versuchte ich es in die Wörter zu drucken zu pressen / damit das Gold im Kopf so tief ist wie ein Ozean Melodie.“ Die Wirkung jener Sprachoperationen und diese poetische Kraft werden noch dadurch gesteigert, dass sich die Autorin in ihrer Textdarbietung an Vortrag und mündlichem Erzählen orientiert. Das schlägt sich darin nieder, dass der Text in Anlehnung an freie Rhythmen mit zahlreichen, häufig nur zwei Wörter freistellenden Zeilenumbrüchen gesetzt ist. Letztlich handelt es sich bei Glück von daher um so etwas wie ein Erzählgedicht.

Dieses spricht in Ich-Form und retrospektiv von Ana Jagoda. Ana, die mit ihrem bald zu Tode kommenden, alkoholkranken und gewalttätigen Mann Igor in die USA ausgewandert ist, hat lange in einem „Womenirrhaus“ in Chicago und dann zur „Rehabilitation“ auf einer Farm gelebt. Sie stammt aus einem „äussersten Ort in Dalmatien“ namens Glück, der dort liegt „wo Gott der Welt Gute Nacht gesagt hat.“ Dorthin, in eine Gestalt gewordene, von Gewalt gegen alles und jeden durchseuchte und insbesondere den Mädchen und Frauen geltende Dystopie, erinnert und albträumt sich die lange traumatisierte Ana auch nach zwei Jahrzehnten immer und immer wieder zurück.

Rajčić Holzners Buch – gleichsam das Ergebnis von Anas therapeutischem Schreiben – hält dieses Erinnern und Albträumen nicht nur fest. Es will ihm, durch diesen Akt des Ordnens, des Objektivierens und des Distanzierens zugleich, auf ein stabiles Ich hin entrinnen. Damit dies gelingen kann, bedarf es freilich auch der Erinnerung an all jene Täter, Opfer und Zuschauer, an Mutter und Vater, an dörfliche Nachbarinnen und Nachbarn sowie den permanent Mädchen missbrauchenden Priester, von denen sich Ana umstellt sah:

Unsere Stimmen ineinander
unverloren
schließlich kann keiner von uns allein
das Knäuel von Fiktion
entwirren
die jenes wacklige Ding bilden
das wir Selbst nennen.

 

Titelbild

Dragica Rajčić Holzner: Glück. Stimmen.
Der gesunde Menschenversand, Luzern 2019.
220 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783038530992

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