Ungeschmeidig denken

Judith N. Shklar diskutiert „Über Hannah Arendt“ und ihre Werke

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hannah Arendt provozierte mit Leidenschaft. Sie hatte ihre Ansichten und Meinungen – und widersprach Zeitgenossen beherzt und lustvoll. Energische Kritik äußerte sie platziert, entschlossen und scharfzüngig, gelegentlich polemisch. Doch ertrug die faszinierende politische und philosophische Denkerin, die sicherlich zu den bekanntesten und bedeutendsten intellektuellen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gehörte, selbst unsachliche und auch sachlich begründete Kritik?

Nahezu als Affront gilt in einigen Arendt-Zirkeln, wenn die – auf Vermittlung ihres ehemaligen Lehrers und Liebhabers Martin Heidegger – zur „Dr. phil.“ bei Karl Jaspers promovierte Hannah Arendt (1906–1975) als Philosophin tituliert wird. Verwunderlich ist das schon, denn eine Philosophin oder einen Philosophen entsprechend zu bezeichnen, ist im Grunde keine Beleidigung. Hannah Arendt verstand sich selbst – ganz ausdrücklich – als "Denkerin". Dieser gewissermaßen scharfkantige Zug der geistreichen Denkerin zeigt an, dass das neu übersetzte Buch Über Hannah Arendt der Politikwissenschaftlerin Judith N. Shklar (1928-1992) für kontroverse, möglicherweise auch überfällige Diskussionen sorgen könnte.

Die in diesem Band versammelten Beiträge wurden zwischen 1957 und 1984 in den USA publiziert. Der Herausgeber Hannes Bajohr schreibt im Nachwort von „pointierten Arendt-Korrekturen“, die vorgenommen würden. Shklar wagt es nämlich, Hannah Arendt zu widersprechen. Sie würdigt die prominente Kollegin und übt zugleich Kritik, durch „gelegentlich grelle, nicht immer gerechte, aber dadurch oft aufschlussreiche“ Anmerkungen.

Hannah Arendt wird historisch-systematisch der deutschen Existenzphilosophie zugeordnet. Shklar schreibt, sie habe zu „Jaspers‘ Jüngerinnen“ gehört. Der Einfluss von Heideggers Denken dürfte aber weitaus größer gewesen sein. Von Karl Jaspers übernimmt Arendt zwar eine Reihe von zeitdiagnostischen Einschätzungen, die orientierenden und wegweisenden Prägungen sind aber dem gleichsam schwebenden, auf gewisse Weise auch enigmatisch anmutenden Stil Heideggers geschuldet. Arendt, so Shklar, argumentiere spätromantisch. Sie verdeutlicht dies mit dem Hinweis auf die Unterscheidung von „Durchschnittsmensch“ und „Philister“, die im „romantischen Denken“ vorherrschend war. Die „Massen“ seien die „neuen Philister“:

Worin besteht ihre Beziehung zum Totalitarismus? … Romantikern mit einer gewissen ästhetischen Neigung beweist die Abwesenheit künstlerischen Geschmacks ebenfalls die Verwandtschaft der Massen mit den Philistern. Die Massen seien von Vergnügungshunger Getriebene, die Erweiterung der Öffentlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts.

Die Kritik an dem Phänomen Masse setzte sich bis in die Moderne fort. Ob es in dieser Form faktisch existierte oder nur eine bedingt taugliche Denkfigur war, sei zu erwägen. Den Menschen in der Masse wurde ein „Mangel an ästhetischem Empfinden“ unterstellt. Das zeigt zugleich eine gewisse, oft unbemerkte Überheblichkeit jener Intellektuellen an, die auch mehr zu wissen meinen, als sie eigentlich wissen können:

Hannah Arendt ist der Meinung, die Zerstörung der Nationalgemeinschaften durch den Imperialismus sei eine wesentliche Voraussetzung für den totalitären Massenstaat gewesen. Im Ganzen gesehen ist das lediglich eine Wiederholung jenes Rufs nach Wurzeln, den schon die Romantiker des neunzehnten Jahrhunderts ausstießen.

Nahezu schneidig macht Judith Shklar auf ein großes Problem aufmerksam, das allerdings in gleicher Weise auf andere Denkerinnen und Denker zutrifft, nämlich die Neigung, die Antike zu idealisieren und zu verklären. Shklar schreibt: „Je heller der Ruhm der Antike, desto dunkler die Verfehlungen der Moderne.“ Arendt behaupte, niemand habe „so klar und tiefgründig über Politik nachgedacht wie die Griechen und Römer“. Die Glorifizierung der Antike korreliere mit der „Verurteilung der Gegenwart“. Dies entspreche sozusagen den Nachwehen der Romantik und sei auch eine Folgeerscheinung der Idealisierung der attischen Welt im Zeitalter der Klassik. Umso erstaunlicher ist der dann unbemerkte Widerspruch: Wer berechtigterweise fundamentale Kritik am Totalitarismus im 20. Jahrhundert übt, löst Staunen aus, wenn die Sklavenhaltergesellschaften des Altertums positiv beurteilt werden. Hannah Arendt „sehnte sich nach der verlorenen Weisheit der alten Griechen“. Scharf pointiert stellt die Autorin fest: „Niemand litt je an einem schlimmeren Fall von Hellasverehrung als Hannah Arendt.“

Respektvoll und wertschätzend hingegen positioniert sich Shklar zu Arendts Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das von der „Dynamik des Untergangs allen öffentlichen Lebens in Europa“ handele: „Der Totalitarismus wird innerhalb einer solchen Sichtweise zum Inbegriff und zur steten Möglichkeit einer Welt, die im besten Falle nur zur Hälfte den Verstand verloren hat.“ Arendts Verständnis von Politik kennzeichnet sie nüchtern:

Hannah Arendt wollte über Politik hinaus nicht nach politischer Erleuchtung suchen. Sie mag den Pfad zur Sonne vielleicht reizvoll gefunden haben, aber sie wandte ihm resolut den Rücken zu. … Politik sollte ein Ausdruck der Urteilskraft sein. Als solcher ist sie der Aufruf des unbefangenen Zuschauers an alle anderen, die ihrerseits nach Unparteilichkeit streben. Von ihrem aufgeklärten Gemeinsinn muss angenommen werden, allgemein akzeptable Normen zu liefern, in Bezug auf die wir urteilen und einander zu überzeugen suchen.

Zugleich aber macht die Autorin darauf aufmerksam, dass Arendt – ähnlich wie Heidegger – Philosophie als „Akt der Dramatisierung“ verstanden habe. Sichtbar werde dies durch „Wortspiele, textuelle Assoziationen, Versatzstücke von Dichtung“, Attitüden also, die mit dem Gestus der Leidenschaftlichkeit identifiziert würden. Rhetorisch versiert war Hannah Arendt gewiss. Shklar behauptet, für Arendt sei das „Streben nach Wahrheit“ unerheblich gewesen: „Leidenschaftliches Denken ist überdies völlig willkürlich.“ Dieser Einspruch verdient Widerspruch. Hannah Arendt formulierte und argumentierte beherzt und engagiert, aber beabsichtigte sie wirklich eine vorsätzliche Täuschung ihrer Leserschaft durch „ahistorische Hirngespinste“? Eine solche These müsste wissenschaftlich akribisch geprüft werden.

Besonders deutlich kritisiert Judith Shklar den Band Eichmann in Jerusalem. Ihre Berichte über die Konzentrationslager erfolgten als „nietzscheanische Geschichtsschreibung“. Sie arbeite nicht darstellend, sondern illustrativ: „Die Lage sind die ausweglosen Stätten des Terrors, in denen nichts Gewöhnliches verbleibt.“ Arendts Sicht charakterisiert Shklar eindeutig: „Warum, fragte sie, hatten die osteuropäischen Juden sich nicht wie homerische Helden verhalten? Warum hatten sie den Deutschen nicht mutiger Widerstand geleistet? Warum hatten sie zu ihrer eigenen Vernichtung beigetragen?“ Arendt wusste, dass die Juden sich nicht selbst befreien konnten. Verbunden würden eine „unerhörte Ignoranz“ und „wilde Verallgemeinerungen“, auch „über die unendlich komplexen und durchmischten Gemeinden Osteuropas, über deren Geschichte und Struktur sie rein gar nichts wusste“: „Die endgültige Wahrheit darüber, wer wie in Ungarn handelte und was die verschiedenen Judenräten während der Nazizeit taten und was nicht, werden wir wohl nie erfahren. … Um Wahrheit ging es ihr nicht.“ Das Buch sei Ausdruck von „verständnisloser Arroganz“.

Als Lehrende indessen hatte Arendt in den USA „enormen Erfolg“: „Ihre Strenge war für die nach Autorität hungernden amerikanischen Studenten von großem Reiz. … Vor allem aber hatte sie eine bemerkenswerte persönliche Anziehungskraft und verfügte über ein formidables schauspielerisches Talent.“

Judith Shklar und Hannah Arendt verbindet eines gewiss: der Mangel an nuancierter Zurückhaltung. Beide fürchteten sich nicht vor eindeutigen Urteilen. Für politikwissenschaftlich und politisch Interessierte ist die Lektüre dieses schmalen Bandes sicherlich ein Gewinn. Eine unkonventionelle Sicht auf Hannah Arendt wird anschaulich präsentiert.

Stimmt aber, was die Autorin der überaus geachteten philosophischen Denkerin zum Vorwurf macht? Erweist sich die Kritik als berechtigt?

Shklar bietet Anregungen zum Nachdenken, sie weckt die Lust am Widerspruch und an der kontroversen Diskussion. Dies hätte auch Hannah Arendt zumindest grundsätzlich befürwortet. Richtig ist: Niemand muss die Welt der Antike verehren und verklären. Das gilt für Hannah Arendt und ihr Werk – und für jedermann sonst. Unbestreitbar ist, dass Arendts Schriften Diskussionen ausgelöst haben und noch immer Diskussionen verdienen. Zur kritischen Reflexion der Werke von Hannah Arendt leistet Judith Shklars herausforderndes, aufregendes Buch einen wichtigen Beitrag.

Titelbild

Judith N. Shklar: Über Hannah Arendt.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hannes Bajohr.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannes Bajohr und Tim Reiß.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
120 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783957577979

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