Emil und die Detektivin

Valerie Fritsch schreibt famos, doch mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ keinen Roman

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1989 geborene Valerie Fritsch wuchs in Graz und in Kärnten auf. In Graz absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie. Dort gehört sie auch der Literaturgruppe die plattform an. Hauptberuflich arbeitet sie hingegen als Photographin. Als solche bereist sie intensiv die Welt. Bislang ist sie mit Erzählbänden (Das Alphabet der Kindheit, 2012), Essays (Das Abenteuer der Kunst. Assoziationen nach der Moderne, 2012), Lyrik (kinder der unschärferelation, 2015) und zwei Romanen (Die VerkörperungEN , 2010; Winters Garten, 2015) hervorgetreten. Eine Reihe von Preisen (Kelag-Preis und BKS-Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015) und Stipendien (Sepp-Schellhorn-Stipendium 2015) zeugen von der Anerkennung ihres Werkes.

Auch ihrem jüngsten, dritten Roman Herzklappen von Johnson & Johnson, einer Stenogrammform des Familienromans, merkt man Fritschs Tätigkeit als Photographin an, vor allem an jenen Sätzen, die Äußeres zu erfassen suchen, seiner Erscheinung wie seiner Eigenart wie seiner Geschichte nach. Wo immer Fritsch Landschaften, Gebäude, Menschen oder Szenerien im Wortsinn ins Auge fasst, denkend ihren geschärften Blick in Nah- und Ferneinstellungen auf ihre Figuren und auf deren Handlungsräume richtet, gelingt ihr Großes: Denkporträts nämlich, Erkenntnis in verdichteter Plastizität. Und noch mehr, versteht sie es doch, ihre Einzelaufnahmen in einer Melange aus Kurzgeschichte, Short Story und Novelle so aneinanderzufügen, dass ein packender ‚Film‘ entsteht: Eine von Zufälligkeiten und Nebensächlichkeiten wie ‚Farben‘ bereinigte, umrissscharfe und hart geschnittene Geschichte voller Fragen, Versuche, Annäherungen und Bedeutungen. Diese weist zudem – auch dies ein Merkmal bedeutender Literatur – über sich hinaus und betrifft den Leser ebenso existentiell, wie sie ihn intellektuell fordert.

Freilich, es ist nicht wirklich e i n e Geschichte, die die Autorin erzählt, sondern es sind mehrere: Vor allem diejenige der zentralen Figur Alma, die als vom Zerbrechen bedrohte, dem (Ver-)Schweigen ihrer Eltern und Verwandtschaft die Stirn bietende Detektivin der Familiengeschichte ausschnitthaft von den frühen Kindesbeinen bis in ihre wohl hohen dreißiger Jahre begleitet wird; dann diejenige von Almas hochbetagten Großeltern mütterlicherseits – bis ins Innerste gebrandmarktes ‚Täter-Töter-Opfer‘ Er und spät sich doch noch öffnende ‚Vorzeigegattin‘ Sie –, für die als junge Erwachsene der Zweite Weltkrieg die alles entscheidende Erfahrung und unwiderrufliche Zäsur darstellt; diejenige zum dritten von Almas kühnem Sohn Emil, der an totaler Analgesie leidet und dem von daher Almas ganze Sorge gilt; und schließlich diejenige einer abenteuerlichen Reise von Alma, Emil und deren Ehemann bzw. dessen Vater Friedrich von Österreich über die Ukraine, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Georgien, Aserbeidschan bis nach Kasachstan – dort war der Großvater, gewissermaßen eine familiale wie generationelle Schlüsselfigur, in einem Kriegsgefangenenlager interniert.

Darüber hinaus wird auch das eine oder andere von Friedrich erzählt, insbesondere von dessen unbefriedigender, ihn zeichnende Beziehung zu seiner Mutter sowie von Almas zwar in der Nachkriegszeit geborenen, doch in einem fortdauernden „Schattenkrieg“ aufwachsenden Eltern: „Sie waren genau, bieder, nett, legten Wert auf moralische Überlegenheit“ – und sind doch bei genauerem Hinsehen von Beginn an Versehrte, die „selbst nicht verstanden oder nicht verstehen wollten“ und die sich in genussleeren Wohlstand und stummes Angepasstsein flüchten. „Nirgends fehlte viel, und doch passte nichts wirklich“, heißt es angesichts einer Geburtstagsfeier zu Ehren des Großvaters nicht nur über die Kleidung von Almas Herkunftsfamilie und ihrer Verwandtschaft.

Insgesamt gelingt es der Autorin jedoch nicht, die im Einzelnen stark gewirkten, selbstbewusst und auktorial vorgetragenen Erzählfäden zu einem stabilen, feinmaschigen Textgewebe zusammenzufügen – dazu bleibt zu vieles ausgespart, unausgeführt oder auch nur im Ungefähren nebeneinander stehen. Da helfen auch die psychologisch überfrachtenden,  kaum glaubwürdigen Eingangsseiten nicht weiter, die Almas letztlich ins Leere laufenden Forschertrieb aus frühen Kindheitswahrnehmungen und -erlebnissen abzuleiten versuchen: „Sie fühlte eine innere Erfahrung, die nicht mit der äußeren Wirklichkeit übereinstimmte, ein fremdes, unleugbares Wissen von Dingen, die ihr selbst nicht widerfahren waren“ – beschreibt das die Empfindungswelt eines Kindes? So steht am Ende das vielsagende Amor-fati-Lachen Emils beim Anblick eines Fakirs, auf der Seite des Lesers hingegen das Bedauern, dass die Autorin nicht die angesprochenen Geschichten als Einzelerzählungen in einem Band zusammengeführt hat – es wäre ein kleines Meisterwerk geworden.

Titelbild

Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
174 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429174

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