Der Baron und die Mythen

In seinem sechsten Fall „Der erste Mensch“ begibt sich der Marseiller Kommissar Michel de Palma auf eine prähistorische Spurensuche unter Wasser

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Weil die Mittelmeerküste südöstlich des Stadtgebiets von Marseille so zerklüftet ist, nennt man die Gegend die Calanques de Marseille (franz. calanque = Felsbucht). Malerische Flecken, hochaufragende Felswände und Kieselstrände wechseln einander ab. Seitdem Forscher hier in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts tief unter der Wasseroberfläche prähistorische Höhlen mit eindrucksvollen, teilweise 27.000 Jahre alten Felszeichnungen entdeckten, zog die wildromantische Region noch mehr Aufmerksamkeit auf sich. Kein Wunder deshalb, dass irgendwann auch einmal einer von Xavier-Marie Bonnots Kriminalromanen hier würde spielen müssen. Und tatsächlich begibt sich Bonnots Hauptkommissar Michel de Palma, genannt „der Baron“, in seinem sechsten und bisher letzten Abenteuer – in deutscher Übersetzung existieren bis dato leider erst vier Bände der Reihe – auf die Spuren eines Verbrechens, das in frühgeschichtlichen Mythen wurzelt.

Der erste Mensch spielt auf drei Zeitebenen. 1970 gräbt ein Team um den Prähistoriker Palestro an der Ausgrabungsstätte von Quinson in der Haute-Provence einen Gegenstand aus, der sich bei näherem Hinsehen als Elfenbeinskulptur eines Hirschkopfmenschen entpuppt. Umstandslos eignet sich Professor Palestro den eigentlich von seinem Doktoranden Jérémie Payet entdeckten Fund an – schließlich leitet er die Ausgrabungen des Instituts für Urgeschichte der Universität Aix-en-Provence. Payets Proteste nutzen nichts. Als der Hirschkopfmensch kurze Zeit später gestohlen wird, gerät der Doktorand zwar in Verdacht, zu beweisen ist ihm allerdings nichts.

Als Freiwilliger an der Seite Palestros taucht bei jenen ersten Grabungen ein gewisser Pierre Autran auf. Dessen Kinder, Christine und Thomas, Zwillinge, die schon früh eine an Besessenheit grenzende Begeisterung für die Frühgeschichte der Menschheit entwickeln, stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils der Tragödie um die verschwundene Skulptur – er als schizophrener Frauenmörder, der sich für den „Urmann“ hält und in ein Leben jenseits von Besitz und Konsum zurückstrebt, sie, eine der begabtesten Schülerinnen von Professor Palestro, als Wissenschaftlerin, die ihrem Bruder nur allzu gern behilflich ist. Das blutige Handwerk legt den beiden 30 Jahre nach den Geschehnissen von 1970 Hauptkommissar Michel de Palma, wobei er fast selbst das Leben verliert.        

Auf der Gegenwartsebene schließlich – man schreibt inzwischen das Jahr 2010, de Palma muss nur noch ein paar Wochen bis zu seiner Pensionierung durchhalten – wird Bonnots Held ein letztes Mal gefordert. Denn nicht nur gilt es, sich wieder mit den beiden Autrans zu beschäftigen – Christine wird nach 12-jähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen, Thomas bricht aus der geschlossenen Psychiatrie aus und beginnt sofort wieder zu morden –, sondern auch die geheimnisvolle Hirschkopfstatue sorgt erneut für Aufregung. In der 38 Meter unter dem Meeresspiegel gelegenen Le-Guen-Höhle, deren prähistorische Felszeichnungen von einem Archäologenteam untersucht werden, taucht sie plötzlich wieder auf. Hier geraten zwei erfahrene Taucher in Lebensgefahr, als sie sich plötzlich mit unheimlichen Geräuschen und Erscheinungen konfrontiert sehen und von bedrohlichen Schatten angegriffen werden. Sind es nur Wahngebilde? Oder versucht wirklich jemand mit allen Mittel zu verhindern, dass das Geheimnis der Höhle in den Calanques gelüftet wird?      

Michel de Palma liebt Opern. Und in manchen seiner Träume kommuniziert er immer noch mit seinem im Alter von zwölf Jahren verstorbenen Zwillingsbruder Pierre. Dessen Traumgestalt stößt ihn auf Richard Strauss‘ Elektra. Und die Geschichte der hasserfüllten Rache eines Geschwisterpaars an seiner Mutter, die den Gatten und Vater der Kinder gemeinsam mit einem Liebhaber kaltblütig ermordete, leitet ihn schließlich auch bei der Aufklärung seines letzten Falls.

Bonnot hat in seinen Roman eine ganze Menge hineingepackt. Die Verweise in Der erste Mensch reichen von Michel Foucault und C. G. Jung über Franz Anton Mesmer und Justinus Kerner bis hin zu Jean Clottes und dem italienischen Kriminalanthropologen Cesare Lombroso. Das ist reichlich ungewöhnlich für einen Spannungsroman, aber mit Gewinn zu lesen. Hinzu kommen des Kommissars Faible für die Welt der Oper und der klassischen Musik sowie die von den zahlreich in diesen Fall verwickelten Wissenschaftlern eingebrachten Erkenntnisse zu Schamanismus, Prähistorie und der Verbindung von frühgeschichtlicher Kunst und Magie.     

Alles in allem ist Bonnots Held kein Wolkenschaufler wie sein Pariser Kollege Jean-Baptiste Adamsberg aus Fred Vargas‘ Büchern, der sich von Stimmungen zur Lösung seiner Fälle verführen lässt. Auch der hart erarbeitete politisch-ökonomische Sachverstand des in mehreren Romanen von Dominique Manotti agierenden Théodore Daquin geht dem Baron ab. Bonnot hat seinen Protagonisten eher als einen kunstliebenden, akribisch arbeitenden und in seiner privaten wie beruflichen Umgebung als etwas eigenbrötlerisch geltenden Menschen angelegt. Misstrauisch gegenüber allem Modernen – von der Musik bis hin zum Umgang der Menschen der Gegenwart miteinander –, vertraut er Bewährtem, auch wenn sich dadurch sein Ermittlungstempo verlangsamt. Lieber einen Tatort zwei-, dreimal aufsuchen, als etwas übersehen, was für die Lösung des jeweiligen Falles wichtig ist, lautet seine Devise. Auf das Lesen der Romane von Xavier-Marie Bonnot übertragen, könnte das heißen: Nach der ersten Lektüre haben sich zwar (fast) alle mit dem jeweiligen Kriminalfall in Verbindung stehenden Fragen erledigt. Zu entdecken gibt es aber immer noch genug, was eine Zweitlektüre lohnenswert machen kann.

Titelbild

Xavier-Marie Bonnot: Der erste Mensch. Kriminalroman. Ein Fall für Michel de Palma.
Aus dem Französischen von Gernhard Meier.
Unionsverlag, Zürich 2020.
352 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005556

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