Amnesie und Vergangenheit
Damiano Femferts Romandebüt „Rivenports Freund“
Von Anton Philipp Knittel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJohannistag 1952. Dr. Rodrigo Rivenport, der 50jährige Chefarzt und Direktor des Krankenhauses der Kleinstadt S. in Nordargentinien nahe an der Grenze zu Chile, wird frühmorgens von seiner Haushälterin Maria gestört. Dabei ist der Hobbyentomologe gerade dabei, seine umfangreiche Schmetterlingssammlung im Kellerzimmer seines Hauses neu zu ordnen. Denn sein „Ziel war es, seine private Sammlung an die Systematik des lokalen Naturkundemuseums, das er seit ein paar Jahren leitete, anzugleichen und die beiden Sammlungen zu vereinen. Bei fast 8000 Exponaten würden die Direktoren minderer Naturkundemuseen vor Neid erblassen“.
Es muss also etwas Wichtiges geschehen sein. Denn sonst würde es selbst Maria, die seit dem Tod von Rivenports Frau sieben Jahre zuvor das Regiment im Hause fester denn je führt, nicht wagen, den introvertierten Arzt seiner wohl einzigen Leidenschaft zu entziehen. Schließlich „verabscheute Rivenport“ nichts so sehr wie „Überraschungen. Er fürchtete sie sogar, denn sie verhießen nie Gutes. Überraschungen waren unplanbare Elemente, die in einen wohlorganisierten Raum einbrachen. Überrumpelungen waren sie“.
Nur ein einziges Mal in all den Jahren wurde Rivenport bisher in seinem Kellerzimmer gestört: „Damals wurde er über den Tod seiner Frau informiert.“ Und nun? In die nonnengeführte Kleinstadtklinik wurde ein schwerverletzter fremder Mann eingeliefert, der blutverkrustet und bewusstlos nur Kleiderfetzen am Leib hat. Hinweise auf die Identität: Fehlanzeige. Die Ordensfrauen, insbesondere die Oberin, sind angespannt, ja aufgeregt. Also muss Rivenport nolens volens seine Schmetterlinge Schmetterlinge sein lassen und in die Klinik. Doch es gibt nicht allzu viel zu tun, denn der Verletzte, der im Grenzgebiet zu Chile offenbar einen Autounfall hatte, ist medizinisch bereits versorgt.
Die Polizei nimmt die Untersuchungen über die Identität des Mannes, der nach ein paar Tagen aus dem Koma erwacht, aber zunächst nicht sprechen kann, eher mit gebremstem Elan auf. Nach wenigen Tagen kommt mühsam der Name „Kurt“ über die Lippen des blonden, blauäugigen und großgewachsenen Mannes. Körperlich wiederhergestellt, nehmen die Ordensschwestern den großen Blonden auf; er entpuppt sich als virtuoser Organist und widmet sich als Klostergärtner hingebungsvoll seinen Beeten. Nur vom Beten, von Religion, will er rein gar nichts wissen. Als bei ihm selbst ein hormonelles Frühlingserwachen einsetzt und er in seiner naiven Unschuld der Priorin an die Brüste fasst, ist seines Bleibens im Kloster nicht mehr länger. Schließlich nimmt Rivenport Kurt bei sich zu Hause auf und freundet sich allmählich mit seinem ehemaligen Patienten an.
Rivenport ist so sehr um das hormonelle Gleichgewicht seines Gastes besorgt, dass er ihm im Bordell Erleichterung verschaffen will. Dazu benötigt Rivenport die Unterstützung zweier Klinikkollegen. Der Besuch gerät zur Slapstick-Nummer, so dass alle vier Männer, obwohl sie Kurt nur ins Etablissement begleiten wollen, auf ihre Kosten kommen, und Kurt, wie ein zweiter Häwelmann, „nochmal, nochmal“ ruft und dabei in die Hände klatscht. Zudem reicht das Geld nicht: „Denn natürlich hatten sie auf Rat von Orinani [einem der Kollegen Rivenports, AK] nur das Geld für Kurt kalkuliert; für Kurt mit einer Frau und nur einmal. Nicht auch noch für sie drei und Kurt gleich viermal mit mehreren Frauen!“
Neben der Psychohygiene sorgt sich Rivenport auch um die tatsächliche Identität seines fremden Freundes Kurt. Er reist nach Chile und recherchiert in Archiven. War Kurt auf der Flucht von Chile nach Argentinien? Oder umgekehrt? Ist er überfallen worden? War er in Drogengeschäfte verwickelt? War er ein Spieler? Treffen die Vermutungen eines englischen Ehepaars zu, dass Kurt, der ganz schlecht Spanisch spricht, vielleicht Deutscher ist? War er Täter oder Opfer der Nazis? Das soll hier nicht gespoilert werden!
Vergessen, um wieder leben zu können. Vergessen, um sich zu befreien. Ein Selbstmord des Geistes für einen Neuanfang. […] Immer wenn Rivenport ihm ins Gesicht sah, dachte er sich: Hinter dieser Engelsmaske versteckt sich der schlimmste Horror, den ein Mensch erleben kann. Doch gerade deshalb grübelte er manchmal, warum Kurt über Argentinien nach Chile und dann über den steilen Pass wieder zurück nach Argentinien gefahren war.
Auch wenn das Ende nicht allzu überraschend ist, sei so viel verraten: So wie Kurt eines Tages auftauchte, verschwindet er auch urplötzlich wieder – und das ausgerechnet am zweiten Februar, an seinem vermeintlichen Geburtstag, der zufällig auch der Tag ist, an dem die Kleinstadt zu Ehren „der Heiligen der hundert Namen“ ohnehin „in Aufruhr“ ist: „Die Nuestra Señora der la Candelaria, die Mutter Erde, von manchen einfach als die Virgen oder auch als La Morenita, die wundersame Pachamama, angebetet.“ Rivenport bleibt mit seiner Schmetterlingssammlung, seiner Sammlung der Flüchtigen, der allzu schnell verfliegenden Schönheiten am Ende alleine: „Keine noch so präzise Organisation konnte das Unberechenbare berechnen, das Unabsehbare, den Faktor X. Sein Faktor X hatte blonde Haare und blaue Augen gehabt, war auffällig groß gewesen und hatte auf den Namen Kurt gehört.“
Mit Rivenports Freund hat Femfert (Jahrgang 1985) einen neuen, flott geschriebenen Kaspar-Hauser-Roman vorgelegt. Es ist ein Debüt, das mehr vom Plot und der Handlung lebt als von der Erzählweise, von erzählerisch-sprachlicher Durchdringung. Die Metamorphose zweier so unterschiedlicher Männer wie Rivenport und seinem „Freund“ Kurt, gespiegelt in der immer wieder thematisierten Verwandlung der Lepidopterae, von der Raupe über das Einspinnen in den Kokon bis zum Davonflattern, ließe sich vermutlich auch gut als Skript für einen Film verwenden. Dass Femfert, wie der Klappentext des Verlags ausweist, unter anderem Drehbücher zu Kurz- und Spielfilmen verfasst, ist „Rivenports Freund“ anzumerken.
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