Reich-Ranicki – als Literaturchef in der FAZ

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag übernimmt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Piper Verlags Passagen aus dem Kapitel „Der Literaturchef“ in Uwe Wittstocks zuerst 2005 veröffentlichten und 2015 in einer komplett überarbeiteten und erheblich erweiterten Neuauflage erschienenen Biografie über Marcel Reich-Ranicki. Sie liegt jetzt in einer abermals erweiterten Taschenbuch-Ausgabe vor. Bei der Vorbereitung einer von ihm kuratierten Ausstellung zum 100. Geburtstag Reich-Ranickis konnte Wittstock unbekannte Materialien sichten und für diese neue Ausgabe nutzen.

Marcel Reich-Ranicki war dreiundfünfzig Jahre alt, als er im Dezember 1973 seine neue Aufgabe als Leiter der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen antrat. In diesem Alter gelten Arbeitssuchende gewöhnlich als „schwer vermittelbar“, neigen sich viele Karrieren bereits sacht ihrem Ende zu, ist heutzutage häufiger von „vorgezogenen Ruhestandsregelungen“ die Rede als von steilen Aufstiegen. Zudem hatte Reich-Ranicki bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in einer Redaktion gearbeitet. (…) Joachim Fests Entscheidung, ihn zum Leiter der Literaturredaktion zu machen, barg durchaus Risiken. Wie viel er Fest verdankte, der ihn allen Bedenken und Widerständen zum Trotz bei den übrigen Herausgebern der FAZ durchsetzte, hat Reich-Ranicki ungeachtet des späteren Zerwürfnisses zwischen ihnen mehr als einmal betont.

Und die Widerstände innerhalb der Redaktion waren sowohl gegen Reich-Ranicki als auch gegen Fest beträchtlich. Der Redaktionsrat der Zeitung stimmte der Berufung Fests, wie Günther Rühle berichtet, erst nach langen Diskussionen mit den Herausgebern „zähneknirschend“ zu. Die Feuilletonredakteure betrachteten ihn als „konservativen Menschen“, der sie im Sinne einer konservativen Gesamtlinie des Blattes „bändigen sollte“. In der Nacht, bevor sich Fest als designierter Mitherausgeber vorstellte, hatten Redakteure die Wände der Redaktion mit früheren Artikeln von ihm tapeziert, was wie „ein Affront“ wirkte: Fest musste gleichsam „durch seine Vergangenheit marschieren“ und blieb während dieses ersten Zusammentreffens „total isoliert, kein Mensch sprach mit ihm“. Reich-Ranicki begann seine Tätigkeit mit einer doppelten Hypothek. Er galt wegen seiner konsequent auf das Leserpublikum ausgerichteten Arbeit bei der Zeit unter seinen künftigen Kollegen als „Marktschreier“, als „unseriös“ und „nicht intellektuell“. Außerdem verdrängte er, indem er von Fest als neuer Literaturchef eingesetzt wurde, seinen zwölf Jahre jüngeren Vorgänger Karl Heinz Bohrer, der, wie Rühle sich erinnert, seinerzeit „der Liebling der Redaktion“ war und nun als Kulturkorrespondent der FAZ nach London ging.

Bohrer hat den Amtsantritt von Joachim Fest und Reich-Ranicki inzwischen aus seiner Sicht geschildert. Als er, so schreibt er in seinen Lebenserinnerungen, in den Jahren zuvor die Literaturredaktion der FAZ leitete, gab es dort „Rezensionen zu lesen, deren Stil wissenschaftliche Termini enthielten“. Mit diesen „für gewöhnliche Sterbliche unverständlichen Rezensionen“ wollte Bohrer vor allem „über die zeitgenössischen wissenschaftlichen Publikationen, vor allem in den Geisteswissenschaften“ informieren. Mit dieser Konzeption war Fest als neuer, für das Feuilleton verantwortlicher Herausgeber nicht einverstanden und teilte das Bohrer im persönlichen Gespräch mit: „Die bisherige Literaturkritik sei zu publikumsabgewandt, nicht journalistisch genug und zu intellektuell gewesen.“ Es solle deshalb innerhalb der Redaktion eine andere Aufgabe für ihn gefunden werden.

Die Meinungsunterschiede waren, so Bohrer, unüberbrückbar – aber nicht politischer, sondern literarischer und journalistischer Art. Fest und Reich-Ranicki seien an „einer ganz anderen Literatur und Literaturkritik interessiert“ gewesen: „Ihr Ideal war Thomas Mann.“ Er dagegen habe sich stärker für Autoren wie Robert Musil oder Walter Benjamin interessiert. Vor allem seine Distanz zu Reich-Ranicki betont Bohrer stark: „Ein im krassen Naturalismus und Psychologismus steckengebliebener Kritiker, quasi von gestern“, dem die „klassische Moderne von Charles Baudelaire bis Paul Valéry“ fremd gewesen sei. Doch trotz solcher schroff formulierten Differenzen lehnt Bohrer die Gegenspieler von damals in seiner Autobiografie nicht rundweg ab, sondern nennt Fest anerkennend einen „konservativen, unabhängigen Geist“ und schreibt über Reich-Ranicki: „Trotz seines mangelnden Taktes und seines hemmungslosen Ehrgeizes musste man einfach Sympathie für den spontanen Witz und das explosive Temperament des neuen Chefs haben: Er war der laute Gegensatz zum langweiligen Ernst vieler westdeutscher Intellektueller“.

Da Bohrer außerdem betont, dass er seine Aufgabe als Leiter der Literaturredaktion ohnehin leid war und sich glücklich schätzte, als Korrespondent nach London zu wechseln, könnte man die öffentlichen Aufregungen und Verdächtigungen, die seinerzeit jenen Amtswechsel begleiteten, heute mit Gelassenheit belächeln. Doch zwei Details, von denen Bohrer berichtet, verleihen dem Vorgang einen grimmigen zeithistorischen Beiklang. Eines davon betrifft Erich Welter (1900–1982), den Gründungsherausgeber der Frankfurter Allgemeinen, der bis heute im Impressum der Zeitung genannt wird. Welter habe, schreibt Bohrer, die Redaktion „in einer großen Konferenz, zu der auch die politischen Korrespondenten aus dem Ausland eingeflogen wurden“, zu beruhigen versucht, indem er „im Kasinoton“ verkündete, Bohrer werde ja nicht entlassen, sondern wie „ein verdienter Offizier nur von der einen Front an einen anderen Frontabschnitt versetzt.“ Nach dieser Konferenz habe Welter dann Bohrer am Ärmel festgehalten und zu ihm gleichsam tröstend gesagt: „Wissen Sie, wie soll ich es ausdrücken, wir brauchen einen Hofjuden.“ Auch Bohrer selbst hielt sich mit Bemerkungen, die auf Reich-Ranickis jüdische Herkunft anspielten, nicht zurück: „Sie sind“, habe er Reich-Ranicki zum Abschied gesagt, „die Rache von Jud Süß am deutschen Bürgertum.“ Wie immer man solche Bemerkungen beurteilt, ob man nun grobe antisemitische Ausfälle oder nur missglückte Pointen in ihnen sieht – sie zeigen, wie kaltschnäuzig und historisch unreflektiert man damals in Deutschland selbst unter Intellektuellen mit Opfern des Holocausts umging.

Ein weiteres Indiz dafür liefert ein Brief der Literaturwissenschaftlerin Marianne Kesting. Sie arbeitete in jenen Jahren an der Universität Bielefeld und gehörte zu den Rezensenten, die Bohrer in der FAZ beschäftigte. Offenbar war sie, als sie von der Ablösung Bohrers hörte, beunruhigt. Sie pflegte bereits geraume Zeit einen Briefwechsel mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985) und wandte sich an ihn, um ihn zu einer Intervention gegen diesen Wechsel in der Literaturredaktion zu bewegen. Reich-Ranicki sei, schreibt sie, ein „fulminanter Schwätzer“, und Fest attestiert sie „eine gewisse Ahnungslosigkeit“: Ob Schmitt nicht Lust habe, „sich in einer solchen freilich generell wichtigen Sache einzuschalten“ und bei den Herausgebern der Zeitung sein „Prestige geltend“ zu machen.

Zu dem bemerkenswerten Prestige Carl Schmitts gehört allerdings, dass er von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP war, sich als Jurist stets für den Nationalsozialismus und gegen Liberalismus oder Demokratie einsetzte und unter anderem die Nürnberger Rassegesetze von 1935 mit seinen Mitteln zu rechtfertigten versuchte. Wenn eine Wissenschaftlerin wie Marianne Kesting glaubte, gerade diesen Mann gegen die Berufung Reich-Ranickis zum Literaturchef der FAZ in Stellung bringen zu können, belegt das abermals, wie gering das politische Bewusstsein für deutsche Schuld und historische Verantwortung noch zu Beginn der siebziger Jahre in Deutschland entwickelt war.

Allen Widerständen zum Trotz setzte sich Reich-Ranicki in der Redaktion schnell durch, nicht zuletzt wegen seiner engen Verbindung mit Fest, dessen Machtposition innerhalb des Feuilletons unanfechtbar war. (…) In den ersten Monaten schrieb Reich-Ranicki kaum einen Artikel, konzentrierte sich ganz auf die Redaktionsarbeit und entwickelte sich zu einem außerordentlich sorgfältigen, peniblen, ja besessenen Redakteur. Da er Unabhängigkeit, wie er oft betont hatte, für eine der wesentlichen Voraussetzungen der Arbeit eines Kritikers hielt, bestand er darauf, die Literaturredaktion vom übrigen Feuilleton weitgehend abzutrennen. Es ging ihm darum, allein Joachim Fest unterstellt und keinem Redaktionskollegen Rechenschaft schuldig zu sein. Bei den Vertragsverhandlungen konnte er diesen Wunsch weitgehend durchsetzen, erhielt eine entsprechende schriftliche Zusicherung, und ab 1979 wurde er auch im Impressum der Zeitung offiziell als der Verantwortliche für Literatur und literarisches Leben genannt. Für Sachbücher – ein Bereich, der ihn nur mäßig interessierte – wurde eine eigene Redaktion eingerichtet, die der namhafte Übersetzer und Literaturkritiker Helmut Scheffel übernahm.

Reich-Ranicki entfaltete, was bei seinem Temperament keine Überraschung war, in der täglichen Arbeit eine ungeheure Energie. In der gesamten Zeitung durfte keine Zeile zu literarischen Themen erscheinen, ohne dass er sie gesehen, geprüft und für gut befunden hatte. Er entschied, welche Neuerscheinungen für eine Rezension infrage kamen, welcher Rezensent welches Buch besprechen sollte, ob die abgelieferten Texte zu lang, zu kurz, inhaltlich angemessen und stilistisch zufriedenstellend waren, und schließlich, wann welche Besprechung an welchem Platz der Zeitung erscheinen sollte. Und dies bei sechs- bis achthundert Rezensionen pro Jahr, fünfzehn Jahre lang. Er bemühte sich um neue Mitarbeiter, die seinen Vorstellungen einer publikumswirksamen Literaturkritik entsprachen, und gewann populäre Schriftsteller als Beiträger, darunter Wolf Biermann, Heinrich Böll, Erich Fried, Peter Härtling, Wolfgang Koeppen, Karl Krolow, Günter Kunert, Golo Mann, Peter Rühmkorf, dazu seine Freunde Walter Jens und Siegfried Lenz. Er sorgte für die Schriftstellerporträts und, wenn nötig, -nachrufe im Feuilleton und beschloss, welcher Fortsetzungsroman gedruckt werden sollte. Er ließ die alte FAZ-Tradition wiederaufleben, gelegentlich neue, noch unveröffentlichte Gedichte zu publizieren, und kümmerte sich um Berichte über germanistische Tagungen, Autorentreffen und Ausstellungen zu literarischen Themen. Er durchforstete alle relevanten Tages- und Wochenzeitungen, Magazine, ja sogar Vierteljahresschriften nach frischen Informationen aus dem Literaturbetrieb, diktierte täglich eine Flut von Briefen, telefonierte ausgiebig mit Autoren, Verlagen, Kritikerkollegen, kurz: Er erwies sich als ein nahezu unerschöpfliches redaktionelles Kraftwerk. Nicht zuletzt setzte er bei Joachim Fest durch, dass ihm für sein Literaturblatt drei Redakteursstellen zugebilligt wurden; es waren dort im Laufe der Jahre Renate Schostack, Thomas Anz, Franz Josef Görtz, Ulrich Greiner, Volker Hage, Jochen Hieber, Hans Christian Kosler und ich tätig. Eine besondere Rolle spielte zudem Ulrich Weinzierl, der als Kulturkorrespondent in Wien für das Feuilleton FAZ arbeitete, aber als ein von Reich-Ranicki sehr geschätzter Autor des Literaturblattes regelmäßig mit Buchrezensionen beauftragt wurde. Doch fast jedes Manuskript, das seine Mitarbeiter redigierten, wurde danach von ihm noch einmal überprüft. Er bestand auf totaler redaktioneller Kontrolle und erntete dafür bei den übrigen Redakteuren des Feuilletons nicht selten Kopfschütteln.

Einen Einblick in die Arbeitsweise des Redakteurs Reich-Ranickis gibt sein von Volker Hage herausgegebener Briefwechsel mit Golo Mann (siehe Hages Beitrag dazu in dieser Ausgabe von literaturkritik.de). Reich-Ranicki war gerade einmal drei Monate bei der FAZ, als er um den Sohn Thomas Manns zu werben begann. In einem nicht unterwürfigen, aber sehr achtungsvollen Ton versuchte er den profilierten Schriftsteller und Historiker, der 1968 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet worden war, für seine Literaturredaktion als Mitarbeiter zu gewinnen: „Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass wir immer sehr froh wären, sowohl Kritiken aus Anlass von Neuerscheinungen, als auch essayistische Arbeiten von Ihnen über allgemeinere Themen in der F.A.Z. drucken zu können.“ (…)

Günter Grass, der viele Konflikte mit Reich-Ranicki austrug und mit seinen literarischen Urteilen selten übereinstimmte, sprach 2004, als ich ihn zum ersten Mal befragte, über die Arbeit des Redakteurs Reich-Ranicki mit großem Respekt und zählte dessen Beitrag zur Gestaltung des Feuilletons der FAZ zu einem der wesentlichen Verdienste Reich-Ranickis: „Da hat er wirklich etwas Dolles draus gemacht.“ 1974 startete Reich-Ranicki die Frankfurter Anthologie, eine Rubrik, in der noch heute allwöchentlich im Feuilleton der FAZ ein deutsches Gedicht vorgestellt und von einem Interpreten knapp erläutert wird. In dieser Reihe sind bis zu Reich-Ranickis Tod über zweitausend Beiträge erschienen, die heute in siebenunddreißig Bänden gesammelt vorliegen. „Das ist eine bleibende Leistung“, meinte Grass, „sie entspringt seiner Liebe zur Literatur.“ Diese Reihe und andere Artikelserien zu literarischen Themen, die Reich-Ranicki für die FAZ entwickelte, seien „tragende Einfälle gewesen, die das Feuilleton belebt haben“. Doch seine Ansichten zum Literaturkritiker Reich-Ranicki mochte Grass auch im Mai 2014, als ich ihn acht Monate nach dessen Tod ein zweites Mal besuchte, nicht um einen Hauch milder formulieren. In diesem Punkt war und blieb das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten.

Viele Journalisten, die ihr Renommee in erster Linie ihren herausragenden Artikeln verdanken, haben Schwierigkeiten, ihre Rolle zu finden, sobald sie leitende Funktionen innerhalb einer Redaktion übernehmen. Nicht so Reich-Ranicki. Er wandelte sich mit seinem Wechsel von der Zeit zur FAZ ohne sichtbare Probleme vom Solisten zum Dirigenten. Hatte er zuvor nur durch seine Rezensionen, Kommentare, Polemiken Einfluss ausüben können, stand ihm nun ein ganzer Apparat zur Verfügung. Und er war nicht der Mann, sich eine solche Chance entgehen zu lassen. Er knüpfte Beziehungen, warb um Verbündete, machte hinter den Kulissen des Literaturbetriebs Stimmung und organisierte lautstarke Debatten. Er lud die einen zur Mitarbeit in der Frankfurter Allgemeinen ein, darunter selbst altgediente Gegenspieler wie Reinhard Baumgart, schlug anderen ihre Bitte um Mitarbeit ab – mal behutsam, mal schroff. Er war Mitglied zahlloser Jurys, die Literaturpreise vergaben, und initiierte zusammen mit Humbert Fink und Ernst Willner 1977 das alljährliche Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt.

Natürlich hatten es seine Kollegen bei der FAZ nicht immer leicht mit Reich-Ranicki. So wie er in literarischen Fragen nie die Kontroverse fürchtete, so ging er auch in Konferenzen, bei journalistischen Bewertungen oder Kompetenzfragen nur selten einem Streit aus dem Weg. Er gehörte zu den Menschen, die Widerstand nicht schreckte, sondern die ihn genossen: „Er spornt mich erst recht an.“ Und mit seinen rhetorischen Fähigkeiten und seiner Schlagfertigkeit war er im Disput kein angenehmer Gegner. Doch seine Kollegen blieben ihm wenig schuldig. So berichtet Jürgen Busche, damals Redakteur der FAZ: „Vor Beginn einer Feuilleton-Konferenz – man wartete noch auf den Herausgeber – hatte sich ein lebhaftes Gespräch über die Frankfurter Eintracht (den Fußballverein) entwickelt. Immer wieder fiel der Name Hölzenbein. Reich-Ranicki, rasch verstimmt, weil er zu dem Gespräch nichts beitragen konnte, polterte schließlich los: ,Hölzenbein! Wer ist Hölzenbein? Ich kenne diesen Mann nicht!‘ Darauf antwortete der Filmkritiker Michael Schwarze: ,Der kennt Sie auch nicht.‘ Großes Gelächter.“

Reich-Ranickis geringe Scheu vor Konflikten trug dazu bei, dass die meisten Spannungen in der Redaktion rasch ausgetragen werden konnten und selten Probleme unausgesprochen oder unerledigt blieben. Folglich war die Atmosphäre, zumindest in den Jahren vor dem Historikerstreit, nie verbissen oder engherzig. „Ich ließ mich nicht von ihm vereinnahmen“, resümiert Günther Rühle, der das Feuilleton der FAZ von 1974 bis 1984 leitete und in dieser Zeit fast täglich Meinungsverschiedenheiten mit Reich-Ranicki auszufechten hatte, „aber er hat mir das nie nachgetragen. Ich habe ihm auch Widerstand geleistet. (…) Wir waren trotzdem Partner in der gemeinsamen Sache, auch im Denken und im Entwickeln des Blattes. (…) Wir haben nie Freundschaft miteinander gehabt, aber immer eine sehr sachliche Partnerschaft.“

Pointen, Klatsch, Anekdoten liebte Reich-Ranicki, jede Form von Langeweile im Redaktionsalltag hasste er. In Gesprächen genoss er sichtlich den eigenen Esprit, aber auch den der anderen, sobald sich die Gelegenheit bot. Als sich ein junger, nicht eben mit körperlichen Reizen gesegneter Redakteur in eine sehr gut aussehende Kollegin verliebt hatte, und anderen wiederholt von seiner ganz und gar aussichtslosen Leidenschaft berichtete, meinte Reich-Ranicki schließlich zu ihm: „Mein Bester, Sie lieben über Ihre Verhältnisse.“ Bei anderer Gelegenheit gab der Literaturredakteur Franz Josef Görtz im Kreis einiger Kollegen kund, seine Frau sei jetzt endlich nach längerer kinderloser Ehe schwanger geworden. Auf die vorlaute Frage eines Witzbolds, wie Görtz das denn fertigbekommen habe, legte Reich-Ranicki den Zeigefinger auf die Lippen und sagte: „Darüber haben Frau Görtz und ich absolutes Stillschweigen vereinbart.“ Und als ihm ein Kollege von einer Dissertation erzählte, die nachwies, wie viele Rezensenten in kleineren Regionalzeitungen hemmungslos aus seinen Kritiken abschrieben, zuckte er mit den Schultern und entgegnete: „Was wollen Sie? Die Provinz hat Geschmack.“

Titelbild

Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie.
Mit 76 Schwarz-Weiß-Abbildungen.
Piper Verlag, München 2020.
432 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783492314329

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