Reich-Ranicki und Golo Mann

Zum Geburtstag des Kritikers vor zwanzig Jahren

Von Volker HageRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Hage

Vorbemerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt mit geringfügigen Kürzungen und Änderungen Teile des vor zwanzig Jahren geschriebenen Vorworts von Volker Hage zu dem von ihm herausgegebenen und inzwischen vergriffenen Briefwechsel zwischen Marcel Reich-Ranicki und Golo Mann, der im Jahr 2000 unter dem Titel „Enthusiasten der Literatur im S. Fischer Verlag erschienen ist. Wir danken dem Autor für den Vorschlag und die Bereitschaft dazu.

Für Golo Mann war es zeitlebens schwer, aus dem Schatten des bewunderten Vaters herauszutreten. Das war ihm selbst nur zu bewußt. Und so nahm er es dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki keineswegs übel, als der 1986 in einer Rezension zu Golo Manns Jugend-Autobiographie gleich eingangs davon sprach, der Sohn habe sich nur „mit oder gegen, doch nicht ohne Thomas Mann entfalten können“. Im Gegenteil: Golo Mann fuhr fort, in den Briefwechsel mit Reich-Ranicki höchst aufschlußreiche Details aus dem Mannschen Familienkosmos einzustreuen – und bisweilen mit einer Offenheit über das Verhältnis zum eigenen Vater zu reden, die einem fast den Atem verschlägt.

Nach 1933 habe sich die Beziehung zwischen dem Familienoberhaupt und ihm „entschieden zum Guten“ verändert, schrieb er 1988 in einem Brief, und dann weiter: „Schlimm stand es zwischen meinem zehnten und meinem zwanzigsten Jahr und davon blieb natürlich immer irgend etwas hängen. Unvermeidlich mußte ich seinen Tod wünschen; war aber während seines Sterbens und danach völlig gebrochen; es dauerte Monate, bis ich mich einigermaßen von diesem Verlust erholte.“

Die bis auf wenige (offenbar verlorengegangene) Briefe vollständig veröffentlichte Korrespondenz zwischen dem Historiker und dem Kritiker, der von 1973 bis 1988 den Literaturteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitete, ist gewiß zuallererst unter dem Aspekt aufschlußreich, einen einzigartigen Einblick in die inneren Verhältnisse der Familie Mann zu gewähren – zugleich aber zeigt sie den Historiker Golo Mann auch als begeisterten Literaturkenner und -liebhaber. Genauer gesagt: Der Briefwechsel bietet das Doppelportrait zweier solcher Enthusiasten der Literatur. Denn so forsch sich Marcel Reich-Ranicki in seiner diktierten Büropost auch gibt („nur ganz kurz, um Sie nicht mit ausführlichen Briefen zu langweilen“), spürbar wird selbst noch in den knappsten Briefen das Verlangen, sich mit einem Gleichgesinnten über Autoren und Bücher auszutauschen.

Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei diesem Briefwechsel um reine Geschäftspost. Schnell, eigentlich von den ersten Kontaktversuchen an, wird in den Briefen Reich-­Ranickis der Ton des Werbens spürbar und auf der Gegenseite die Bereitschaft, sich umwerben und in ein Gespräch ziehen zu lassen. Grundlage dafür zweifellos: die auf beiden Seiten vorhandene Wertschätzung des Werks von Thomas Mann, das gemeinsame Interesse an dessen Leben und Wirken. Zugleich aber auch Reich-Ranickis beharrliche und glaubwürdige Verehrung des Historikers und Schriftstellers Golo Mann – hier war nicht allein und wieder nur der Sohn gefragt, sondern eben auch er selbst als Autor.

Die Korrespondenz ist ein Lehrbeispiel dafür, wie ein eifriger Redakteur einem vielbeschäftigten Autor doch immer wieder etwas abringen kann – zumal wenn aufrichtige Zuneigung und Zuwendung im Spiel sind. Ohne Reich-Ranickis Ermunterung und Anfeuerung wäre das meiste davon mit großer Wahrscheinlichkeit nicht entstanden. Und so sind die im Anhang zum Briefwechsel abgedruckten Arbeiten Golo Manns für die FAZ nicht bloße Zugabe, sondern beides zusammen zeigt erst das ganze Spektrum dieser Zusammenarbeit.

Wenn man sich fragt, wer von den Autoren des Mann­-Clans eigentlich dem Kritiker Reich-Ranicki in seinen Vorlieben, Einstellungen und Überzeugungen am nächsten steht, so muß die Antwort nach der Lektüre dieser Briefe und auch der Artikel Reich-­Ranickis über die Mann-Familie lauten: eindeutig Golo, jener Mann-Sohn, der dem Vater bewußt nicht ins literarische Fach gefolgt war, sondern sich der Erzählkunst als Historiograph und belesener Kenner genähert hatte – übrigens immer wieder auch der Lyrik: über sie wußte er mit größter Kompetenz und Farbigkeit zu schreiben.

Golo Mann hatte sich zudem im Laufe seines Lebens jene Souveränität in geistigen Dingen erworben, die ihm klare politische Urteile erlaubte – nicht zuletzt auch über die beiden Großen der Familie, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, die er als „die zwei unwissenden Magier“ ansah: „Unwissend, weil schlecht informiert, weil wirklichkeitsfern.“ So stand es 1974 im ersten für Reich-Ranicki geschriebenen Beitrag, aus Anlaß einer Neuausgabe von Heinrich Manns Memoiren ,Ein Zeitalter wird besichtigt‘.

Derlei deutliche Worte waren Reich-Ranickis Sache – da erkannte er auch etwas vom eigenen Temperament wieder. Jahre später nahm er den auszugsweisen Vorabdruck von Golo Manns eigenen Erinnerungen – er lief im März 1986 in der FAZ an – zum Anlaß, den originellen Kopf und inzwischen einigermaßen regelmäßigen Mitarbeiter öffentlich zu preisen. Dieses Buch zeuge „vom Reichtum und von der Frei­heit der Beobachtung und von der Unabhängigkeit des Urteils“, es triumphiere „des Autors ausgeprägter Sinn für das Anschauliche und das Anekdotische, für das Pointierte und das Aphoristische“. Und als die ,Erinnerungen und Gedanken‘ dann als Buch erschienen, setzte der Lobredner in einer umfangreichen Besprechung noch einmal nach: „Man braucht bei uns glücklicherweise nicht viel Mut, um den Mächtigen zu widersprechen. Golo Mann indes hat immer wieder gewagt, was in unserer Gesellschaft ungleich riskanter ist – nämlich Ansichten zu äußern, die der Mode und dem Zeitgeist zuwiderlaufen.“

Der Kritiker und der Historiker lernten einander 1970 in Hamburg persönlich kennen, wo Reich-Ranicki damals noch als ständiger Mitarbeiter der Zeit lebte. Lediglich ein kurzer brieflicher Kontakt war dem drei Jahre zuvor vorausgegangen: Reich-Ranicki hatte Golo Mann – neben vielen anderen – zur Mitarbeit an einem Band über Heinrich Böll eingeladen, der Befragte formvollendet abgelehnt. Zu Beginn des Jahres 1974 unternahm der nunmehr frischgebackene und ehrgeizige Literaturchef der FAZ einen neuen Anlauf und erhielt eine abwartend zustimmende Antwort. Zögerlich war der Umworbene, neben der von ihm auch später immer wieder ins Feld geführten Arbeitsüberlastung, vor allem aus Sorge um das berufliche Schicksal von Reich-Ranickis Amts­vorgänger Karl Heinz Bohrer, des späteren Merkur-Herausgebers, der damals seinen Posten räumen mußte – freilich nicht entlassen wurde, wie Golo Mann offenbar annahm, sondern noch längere Zeit als London-Korrespondent für die FAZ arbeitete.

Auch das mag etwas Verbindendes zwischen dem Historiker Mann und dem Literaturkritiker Reich-Ranicki gewesen sein: Beide begannen ihre eigentliche Karriere erst spät. Der eine war immerhin schon 49 Jahre alt, als er – lange nach dem Tod des Vaters – mit einem wichtigen Buch erstmals in Erscheinung trat (1958 mit seiner ,Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts‘), der andere war 53, als er 1973 in Frankfurt am Main den verheißungsvollen Posten des verantwortlichen Literaturredakteurs der FAZ übernahm.

Nach den leichten Startschwierigkeiten kam die Zusammenarbeit jedenfalls recht flott in Gang. Gleich der erste Vorschlag Reich-Ranickis traf ins Schwarze, eben das Angebot, über Heinrich Manns ,Zeitalter‘ zu schreiben. „Die Gelegenheit, einmal etwas Bewunderndes über den Onkel zu sagen, nehme ich gern wahr“, antwortete der 65jährige Golo Mann im Mai 1974 postwendend. Zwar mußte aus Frankfurt noch ein wenig gedrängelt werden, doch im September kam tatsächlich das umfangreiche Manuskript aus Kilchberg am Zürichsee – und schon diese erste Lieferung ließ den Redakteur frohlocken.

Das führte im übrigen zu einem der Dokumentation dieser Korrespondenz wenig dienlichen Nebeneffekt: Reich­Ranicki nämlich griff zum Telefonhörer und dankte dem neuen Mitarbeiter, ohne die geringste schriftliche Spur zu hinterlassen. Das kam auch später immer wieder vor, und nur in den seltensten Fällen dürfte sich ein Echo davon in der Korrespondenz finden (ein Briefanfang Golo Manns lautete: „Nach unserem Telephongespräch“).

Und gleich das folgende Angebot aus Frankfurt war wieder ein Treffer: die Anfrage nämlich, ob der neue Mitarbeiter sich vorstellen könne, einmal eine Lyrikinterpretation für die FAZ-Kolumne „Frankfurter Anthologie“ beizusteuern. Das wurde in der Schweiz als „reizende“ Idee empfunden, und tatsächlich lieferte Golo Mann bis 1988 eine ganze Reihe origineller und liebevoller Gedichtanalysen. Bisweilen hat ein Redakteur auch einfach Glück mit dem Augenblick der Anfrage: Ende 1974, als Reich-Ranicki seine Idee vorbrachte, fühlte sich der empfindsame Autor gerade vom Feuilleton der Süddeutschen Zeitung verprellt, jener Kulturredaktion, der er sich ebenfalls verbunden fühlte – eine Kritik gegen ihn im Blatt ließ sich nicht mit seiner Vorstellung von Fairneß und „Dezenz“ vereinbaren.

Schon im Jahr darauf gelang es erstmals, ihm etwas über den Vater für die Zeitung zu entlocken: Zu einer Umfrage aus Anlaß von Thomas Manns 100. Geburtstag, an der sich insgesamt 18 Autoren beteiligten, steuerte der Sohn ebenfalls etwas bei. Die Frage lautete schlicht und einfach: „Was bedeutet Ihnen Thomas Mann, was verdanken Sie ihm?“ – und schon der erste Satz der Antwort war so bezeichnend wie verlockend: „Ich versuche so zu tun, als hätte ich diesen Autor nie gekannt.“ Als Reich-Ranicki zehn Jahre später, 1985, einigen der Beteiligten dieselbe Frage noch einmal vorlegte, entzog sich der Sohn wiederum nicht, doch dieses Mal war der Ton deutlich persönlicher, und an einer Stelle brach sich sogar helle Begeisterung über den Vater Bahn. Golo Mann hatte gerade im dritten Band des ,Joseph‘-Romans den ,Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben‘ erneut gelesen und schrieb nun: „Da sprechen dann die Kritiker, die Herren Germanisten, von dem kühlen, selbstischen Ironiker! Ach du großer Gott! Wie schön ist das, wie tief und reich an Menschenkenntnis, Menschenfreundschaft … „

Was der Sohn freilich hier nicht erwähnte, das war die Thomas Manns ,Tagebuch‘ zu entnehmende Tatsache, daß Golo Mann den Vater einst genau dieses Kapitel selbst hatte vortragen hören – und zwar zusammen mit der Mutter als privilegiertem Publikum (Eintrag vom 25.April 1935: „Las dann K. und Golo das Kapitel von Mont-kaws Sterben“). Dafür war mittlerweile in den Briefverkehr mit Reich-­Ranicki ein zunehmend vertrauter und mitteilsamer Ton gekommen, gelegentlich sogar mit einer Art Lust an der Offenbarung – zumeist verschämt in einem Postskriptum untergebracht, das fast immer mit einer anderen Schreibmaschine getippt war: von Golo Mann eigenhändig und voller Tippfehler angehängt, während der offizielle Teil des Briefs häufig von seiner Sekretärin geschrieben wurde.

„Wieder so ein PS“, begann im April 1976 ein derartiger Nachsatz, und mit der Hand hatte der Verfasser später (offenbar, nachdem er noch einen zweiten Bogen einspannen mußte) ergänzt: „Wieder so ein langes PS“. Es ging natürlich um den Vater, über den Reich-Ranicki in einem Artikel gesagt hatte, er sei „eitel wie ein Tenor“ gewesen. Große Verteidigungsrede: „Dazu litt er viel zu sehr unter sich selber. Wenn er, ferner, abstoßende Eigenschaften hatte oder abstoßend sein konnte, wie, andererseits, hätte ein insgesamt abstoßender, also doch widriger, böser Mensch schöne Sachen schreiben können?“ Bisweilen wirkten diese offenbar rasch hingeschriebenen Einlassungen wie Assoziationen, die dann – zum Glück für uns heute – nicht mehr gestrichen worden sind.

Dann kam einmal, im Juni 1981, ein Brief Golo Manns – „strict privat“ – ausschließlich zu einer Rezension von Reich-­Ranicki (über Thomas Manns ,Tagebücher 1937-1939‘): mit einer überraschenden und für die sonst übliche, fast demonstrative Bescheidenheit des Mann-Sohns geradezu ungewöhnlichen Wendung: „Daß der Unterzeichnete in den ,Tagebüchern‘ so oft, so freundlich erwähnt wird, das hätten Sie doch einmal erwähnen können. Mich erwähnt nie jemand.“ Nur selten zeigten sich Niedergeschlagenheit und depressive Anwandlungen so ungeschminkt wie hier – oder auch ein halbes Jahr zuvor bei der Beantwortung des FAZ-Prominenten-Fragebogens, wo er auf die Frage nach seiner „gegenwärtigen Geistesverfassung“ geantwortet hatte: „ Tiefe Unzufriedenheit mit meinen Arbeiten, so wie sie in den letzten acht Jahren waren.“

Versäumnisse überall – so stellte es sich zunehmend für den überaus prominenten und beim Publikum beliebten Autor dar. Unzufrieden war er mit dem Eigenen, unzufrieden immer wieder auch mit seiner Haltung dem Vater gegenüber, ambivalent in seiner Rolle als Sohn und Erbe. Etwa ganz deutlich 1985 in einem Brief an Reich-Ranicki: „Sie meinen, ich schreibe zu wenig über TM oder verschweige zu viel von dem, was ich weiß. Da mag etwas dran sein.“ Er schreibe eben nur „das unvermeidliche Minimum“. Der Grund? Eine Erklärung in englischer Sprache, ein Schlüsselsatz: „I want to be myself and not the son“ – das bis zum Schluß niemals zur Ruhe gekommene Thema und Trauma.

So schrieb er dann Anfang 1988 in einem ausführlichen Dankschreiben, nachdem ihm Reich-Ranicki ein Exemplar seines Buches ,Thomas Mann und die Seinen‘ geschickt hatte, die Titelformulierung kritisch aufgreifend: Heinrich Mann habe doch gewiß nicht dazu gehört, und auch er selbst sei doch – „in aller Bescheidenheit“ und ohne den gewaltigen Einfluß zu bestreiten – mehr „der Meine als der Seine“. Und in seinem letzten Brief an Marcel Reich-Ranicki (Juni 1990) haderte der nun 81jährige Golo Mann, vier Jahr vor seinem Tod, immer noch damit, daß der Kritiker ihn als „ungeliebten Sohn“ tituliert hatte: „Es stimmt nicht so recht“ – um dann, in einem allerletzten Postskriptum, den Briefempfänger noch einmal für einen Beitrag über den Vater zu loben, mit einer an Grandezza und zugleich Wehmut kaum zu überbietenden Formulierung: „Verehrter Freund, solange Sie so von TM sprechen, dürfen Sie dessen mißratenen Sohn als den Franz Moor des Mannschen Hauses, als einen schlechten und obendrein vertrottelten Nachahmer Richards des Dritten vor einem hunderttausendköpfigen Publikum charakterisieren …“

Noch ein persönliches Wort: Als ich, damals ein junger Literaturkritiker, zwischen 1975 und 1980 bei Reich-Ranicki in der FAZ arbeitete, gehörte zum größten Vergnügen das Stöbern in jenem uns Mitarbeitern zugänglichen Vorordner, in dem die Korrespondenz der Literaturredaktion zunächst gesammelt wurde – schon in jener Zeit begeisterte mich besonders der immer wieder auch recht launige Briefwechsel mit Thomas Manns Sohn (so etwa dessen Satz: „Also bitte, überschätzen Sie mich nicht, damit Sie mich nicht eines Tages unterschätzen!“). Ein ebensolches Vergnügen ist es nun, diesen Briefwechsel, ergänzt um die daraus hervorgegangenen Arbeiten Golo Manns (und manches, was die Briefpartner übereinander öffentlich gesagt und geschrieben haben), aus Anlaß des 80. Geburtstags von Marcel Reich-Ranicki herauszugeben.

Hamburg, Januar 2000