Ignoranz und Bewunderung

Reich-Ranicki und die Literaturwissenschaft

Von Gunter ReusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Reus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag übernimmt (ohne die Anmerkungen mit Zitatbelegen) das Kapitel „Ignoranz und Bewunderung: die Literaturwissenschaft“ aus dem kürzlich in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (wgb Theiss) erschienenen Buch „Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle“. Im Vorwort seines Buches erklärt der Journalist, Redakteur und Professor für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover Gunter Reus: „Marcel Reich-Ranicki war […] ein großer Kritiker, und er war ein großer Journalist. Daran soll dieser Essay erinnern. […] Und er sucht nach Argumenten und Belegen dafür, dass man diesen Literaturkritiker getrost als Vorbild der Alltagspublizistik und des Feuilletons für alle nennen darf.“ Dem Buch ist eine Äußerung Reich-Ranickis als Motto vorangestellt, die mit den Sätzen beginnt: „Was ist Kritik? Ich glaube, eine Kreuzung von Journalistik und Wissenschaft.“ – Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

Marcel Reich-Ranicki hat ein Leben lang polarisiert, aber er hat wohl keinen einzigen deutschsprachigen Autor gleichgültig gelassen. Das ist erstaunlich genug. Noch erstaunlicher ist, wie es ihm gelang, auch viele akademische Rivalen von sich zu überzeugen. Die Germanistik der Nachkriegszeit nahm den Parvenu der Literaturkritik zunächst einige Zeit nicht für voll. Vom Katheder der Wissenschaft sahen ihre Vertreter herab auf diesen Zeitungsmann und warfen ihm, der bis in die sechziger Jahre hinein nie einen Hörsaal von innen gesehen hatte, Dilettantismus vor. Selbst von Hans Mayer, Germanistikprofessor in Hannover, mit dem zusammen Reich-Ranicki immerhin von 1964 bis 1967 die NDR-Hörfunksendung „Das literarische Kaffeehaus“ moderierte, fühlte er sich „von oben herab behandelt“, wie er sich 2008 in einem Interview mit Frank Schirrmacher erinnerte. Mayer habe ihm vorgeschlagen, erst einmal anständig bei ihm zu studieren und zu promovieren. Auch Studiogast Theodor W. Adorno habe ihn nicht als „Partner“ behandelt, „den er [Adorno] hätte akzeptieren wollen“.

Den „meisten Germanisten“, so der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering in einer späten Würdigung 2014, habe Reich-Ranicki zunächst „als entschieden zu feuilletonistisch“ gegolten (da ist es wieder, das in Deutschland so anstößige Attribut), und er habe „uns germanistische Leser schon als Studenten auf die Barrikaden getrieben“. Der wissenschaftliche Nachwuchs ließ ihn das dann auch, mit erhobener Nase und unter ausdrücklichem Hinweis auf den eigenen akademischen Status, in Zuschriften an die FAZ wissen. So beschwerte sich eine „Germanistikstudentin“ aus Salzburg über eine Handke-Kritik Reich-Ranickis (Leserbrief vom 22.10.1976), und ein „Stud. Phil.“ aus Mainz-Kostheim gab sich verärgert über einen Thomas- Mann-Essay (Leserbrief vom 13.6.1975). Noch 1980 tauchte in einer wissenschaftlichen Bilanz der Literaturkritik, herausgegeben vom Heidelberger Germanisten Peter Gebhardt, Reich-Ranickis Name nicht ein einziges Mal auf; in der umfangreichen Bibliografie des Sammelbandes war er gerade mit einem Aufsatz vertreten.

Marcel Reich-Ranicki, der hochgebildete Autodidakt, stand nicht an, es den Bildungsverwaltern der germanistischen Seminare, halb mit Humor, halb mit Ranküne, heimzuzahlen. So erinnert sich Peter Demetz, Germanistikprofessor in Yale:

„Meine Begegnungen mit Marcel, über die Jahre hin und auf zwei Kontinenten, fließen in der Erinnerung in eine zusammen, und jede dieser Begegnungen, ob in Salzburg, Hamburg, New York, Berlin oder Frankfurt (bei ‚seinem‘ Italiener), begann mit dem Satze ‚Sagen Sie, Herr Demetz‘, gefolgt durch eine strenge Prüfungsfrage, wie z. B. ‚Was hielt Schiller eigentlich von Goethes Venezianischen Epigrammen?‘ Frau Teofila warf Marcel vergebens strafende Blicke zu, und ich versuchte ihm zu erklären, daß ich leider kein traditioneller Germanist sei, aber nicht mit wirklichem Erfolg, und im Lauf der Zeit blieb mir gar nichts anderes übrig, als Studien der Klassik zu betreiben und mich genauer mit Goethe und Schiller zu beschäftigen, schon um dieses permanente Rigorosum zu bestehen.“

Dem Mainzer Literaturwissenschaftler Hermann Kurzke rief Reich-Ranicki 1983 „abrupt, unabgefedert von Höflichkeiten“ durchs Telefon zu: „Sie sind ein Germanist, also ein Feigling!“, nachdem dieser eine Proberezension abgeliefert hatte. Sie erschien dem FAZ-Literaturchef zu unentschlossen. Er gab dem Professor eine halbe Stunde Zeit, um den Text umzuschreiben.

Umso bemerkenswerter ist, dass es dem von Akademikern abgekanzelten und sie nun selbst abkanzelnden Feuilletonisten gelang, sich auch in ihrer Welt nach und nach Respekt zu verschaffen. Marcel Reich-Ranicki hat im Laufe seines Lebens von neun Universitäten die Ehrendoktorwürde erhalten: Uppsala (1972), Augsburg (1992), Bamberg (1992), Düsseldorf (1997), Utrecht (2001), München (2002), Freie Universität Berlin (2006), Tel Aviv (2006), Humboldt-Universität Berlin (2007). Er war Gastprofessor an der Washington University in St. Louis (1968) und am Middlebury College (1969), in Stockholm und Uppsala (1971 bis 1975) sowie von 1974 an Honorarprofessor in Tübingen.

1983 verlieh ihm die Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz die Wilhelm-Heinse-Medaille, während die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt ihn nie in ihre Reihen aufnahm. Heinrich Detering, der die Darmstädter Akademie von 2011 bis 2017 leitete, bedauerte dies im Nachhinein und stellte in seiner bereits erwähnten Würdigung ein Jahr nach Reich-Ranickis Tod klar, was die Literaturwissenschaft dem Kritiker verdanke: Der habe nämlich für die Lektüre der Romane von Thomas Mann vermutlich mehr getan als sämtliche Thomas-Mann-Forscher zusammen. Zugleich habe er auch „nichtgermanistischen Lesern und Liebhabern der Literatur“ beigebracht, „was für eine schöne, nützliche, die Erkenntnis und das Vergnügen steigernde Sache die Germanistik sein kann. Und er brachte den Germanisten bei, sich diese schöne und nützliche Wirkung nicht zu verscherzen.“

Es hat Marcel Reich-Ranicki sichtlich Genugtuung bereitet (und war ihm vielleicht wichtiger als alle Ehrendoktorwürden zusammen), dass er nach und nach etliche Literaturwissenschaftler als Rezensenten an die FAZ binden konnte. Mehrfach erwähnte er, dass er „aus mindestens fünfzehn Hochschulgermanisten, die bis dahin nie oder nur in Ausnahmefällen für Zeitungen geschrieben hatten, gute, ja sogar vorzügliche Kritiker“ gemacht habe. Die „Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse“, gehöre, so seine Bilanz, wohl zum Wichtigsten, „was mir in den fünfzehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen gelungen ist“. Ob Peter Wapnewski oder Helmut Koopmann, ob Richard Alewyn, Peter von Matt oder Emil Staiger – viele namhafte Fachvertreter der Zeit bekundeten in Briefen aus unterschiedlichsten Anlässen Bewunderung und Sympathie. Mit Selbstironie und einer gleichzeitigen Verbeugung vor der journalistischen Leistung schrieb ihm Helmut Koopmann 1998: „Leider bin ich zu alt, um sagen zu können: ja, wenn ich so schreiben könnte, dann könnte vielleicht noch etwas aus mir werden.“ Und bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität München sagte der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Münchner Germanist Wolfgang Frühwald in seiner Laudatio:

„Die gewollte Mischung aus Unterhaltung und Kritik, aus Polemik und Urteil hat der Kritik – und hat vor allem durch Kritik der Literatur ein Millionenpublikum erschlossen, das sich sonst in Scharen von der Literatur und vom Lesen abwendet. […] Für das Vergnügen am Lesen aber hat in den letzten vierzig Jahren in Deutschland niemand mehr getan als Marcel Reich-Ranicki.“

Titelbild

Gunter Reus: Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle.
wbg Theiss, Darmstadt 2020.
224 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783806240566

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