Literaturkritik und Literaturwissenschaft

„Der doppelte Boden“: Reich-Ranickis Gespräch mit Peter von Matt in einer neuen Ausgabe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1992 erschien Der doppelte Boden: ein langes, spannendes, höchst anregendes, lehrreiches und zugleich gewitztes „Gespräch“ über Literatur und Literaturkritik. Eigentlich waren es mehrere Gespräche in dichter Folge. Der an der Universität Zürich lehrende Literaturwissenschaftler Peter von Matt hatte sie 1986 mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geführt, der die Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung leitete. Eine kürzere Fortsetzung der Gespräche folgte 1991.

Die Initiative zu dem Gespräch kam aus der Schweiz. Der Ammann Verlag in Zürich hatte 1990 Reich-Ranickis gesammelte Essays über Thomas Bernhard veröffentlicht, 1991 folgten entsprechende Bände über Martin Walser und Max Frisch, 1992 über Günter Grass, später über Vladimir Nabokov und Wolfgang Koeppen. Von diesen Autoren und von vielen anderen ist in den Gesprächen die Rede. Ammann veröffentlichte die Aufzeichnungen 1992, zwei Jahre später der Fischer Taschenbuch Verlag. Das Buch war lange Zeit vergriffen. 2017 ist es in einer erweiterten Ausgabe im Verlag LiteraturWissenschaft.de und zum 100. Geburtstag Reich-Ranickis jetzt im Kampa Verlag neu erschienen. Der Gesprächstext und die damaligen Informationen über Marcel Reich-Ranicki wie über Peter von Matt wurden als historische Dokumente unverändert übernommen, aber im Anhang vor allem durch vier spätere Essays Peter von Matts über Reich-Ranicki ergänzt. Sie lassen sich als eine Art Fortsetzung der früheren Gespräche verstehen. In dem Essay zum 85. Geburtstag des Kritikers erinnert sich Peter von Matt: „In den 80er Jahren habe ich mit ihm auf Aufforderung des Verlegers Egon Ammann einige lange Gespräche geführt. Das geschah in der Frankfurter Wohnung in der Gustav-Freytag-Straße. Ammann saß mit dem Tonband daneben, im Hintergrund, kettenrauchend, Frau Tosia. Sie hörte lautlos zu, und wenn ihrem Mann ein Name, ein Titel nicht gleich auf die Zunge kam, warf sie das Wort blitzschnell in den Raum. Aus den Gesprächen wurde dann das Buch.“

Die Gespräche sind heute ein bemerkens- und bewahrenswertes Dokument zur Erinnerung an das literarische Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, an einen Dialog auch zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik, und sie haben mit zahlreichen Problemstellungen, die Autoren, Kritiker, Verleger, Wissenschaftler und andere Leser gleichermaßen bewegen, nichts von ihrer damaligen Aktualität verloren. Was im Klappentext der mit großer Sorgfalt und verlegerischem Engagement erstellten Erstausgabe stand, ist nach wie vor zutreffend: „Das Gespräch mit Peter von Matt betrifft ausschließlich die Literatur, die Arbeit des Kritikers, Bücher und Autoren, Strömungen und Positionen, wobei Peter von Matt sich nicht mit der Rolle des Stichwortgebers begnügt, sondern auch eigene Einsichten und Wertungen darlegt, die sich mit jenen Marcel Reich-Ranickis nicht immer decken. Dieses sehr persönliche Buch ist eine Tour d’horizon durch die Literatur unseres Jahrhunderts, ein Logbuch der Beschäftigung mit Literatur, anregend und verführend zugleich, herausfordernd in jedem Fall.“

Dass es lohnend sein könnte, mündliche Gespräche mit Reich-Ranicki zu verschriftlichen und im Buchformat zu veröffentlichen, war eine Idee des Verlegers Egon Ammann, die der Literaturwissenschaftler gerne und engagiert mit umzusetzen bereit war. Erst zehn Jahre nach der Veröffentlichung des in jeder Hinsicht geglückten Versuchs in Der doppelte Boden zeigten sich weitere Verlage an der Publikation von Büchern mit Gesprächen Reich-Ranickis interessiert. 2002 erschienen in dem Band Marcel Reich-Ranicki. Kritik als Beruf, herausgegeben von Peter Laemmle, dem damaligen Leiter des Nachtstudios des Bayerischen Rundfunks, im Fischer Taschenbuch Verlag seine vorher im Hörfunk gesendeten Gespräche mit Eva Demski, Wilfried F. Schoeller und Joachim Kaiser. Im selben Jahr veröffentlichte der Propyläen Verlag unter dem Titel Lauter schwierige Patienten seine zuerst im Fernsehen gesendeten „Gespräche mit Peter Voß über Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“, so der Untertitel. 2006 erschien eine Auswahl der in Zeitungen und Zeitschriften gedruckten Interviews und Gespräche Reich-Ranickis aus der Zeit seit 1999 unter dem Titel Aus persönlicher Sicht.

Das Gespräch mit Peter von Matt war und blieb, abgesehen vom Umfang, von den eigenständigen, gleichbe­rechtigten Anteilen beider Gesprächspartner daran und von den so geordneten wie vielseitigen Reflexionen über wichtige, nicht auf einzelne Autoren oder Bücher fixierte Problembereiche, auch deshalb singulär, weil es zwischen einem Literaturkritiker und einem Literaturwissenschaftler geführt wurde. Neben der spannungsvollen Beziehung zwischen Literaturkritikern und Schriftstellern sowie der zwischen Literaturkritik und Buchhandel, die hier ein wiederkehrendes Thema sind, ist auch das Verhältnis zwischen Literaturwissenschaft und journalistischer Kritik schon immer problematisch gewesen. Der Literaturwissenschaft gilt die Literaturkritik gemeinhin als zu oberflächlich, flüchtig, subjektivistisch, kurz: als unwissenschaftlich; der Literaturkritik ist die Literaturwissenschaft zu akademisch, sprachlich zu abstrakt oder hermetisch, zu welt- und gegenwartsfern, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu öffentlichkeitsfern und zu langsam. Die Beziehung zwischen beiden ist nach wie vor von vielen gegenseitigen Ressentiments, Rivalitäten und von Ignoranz geprägt. Dass ein Literaturwissenschaftler sich derart intensiv und herausfordernd mit einem in der Gegenwart agierenden Literaturkritiker auseinandersetzt, wie Peter von Matt es getan hat, ist heute immer noch selten. Und dass ein Literaturkritiker sich darauf einlässt, ebenfalls. Da hat sich seit der Entstehung der Literaturkritik vor mehr als drei Jahrhunderten nicht viel geändert.

Der „Criticus“ ist ursprünglich der Typus des historisch universal gebildeten Gelehrten, der sich besonders im Umgang mit Texten griechischer und lateinischer Sprache eine besondere Beurteilungskompetenz erworben hat. In oft spöttischer Abgrenzung zu dem als welt- und publikumsfern geltenden „Bücherwurm“ und seiner pedantischen Anhäufung historischen Wissens sowie zu dem an René Descartes geschulten Typus des rationalistischen Metho­dologen, dessen philologische Textkritik die gesicherte Er­kenntnis seines Gegenstandes und die zuverlässige Rekons­truktion seiner Bedeutung sucht, entsteht in Frankreich im 17. Jahrhundert nach dem Vorbild des Essayisten Michel de Montaigne der neue Typus des „weltmännischen“ Kritikers. Dessen critique mondaine richtet den Blick stärker auf die Gegenwart und die aktuelle Buchproduktion, er schreibt nicht mehr in der lateinischen Sprache der Gelehrten, son­dern in der jeweiligen Volkssprache und wendet sich, be­vorzugt in Zeitschriften, an ein breiteres Publikum. Dieser neue Typus des Criticus, aus dem der Literaturkritiker im heutigen Verständnis hervorging, etabliert sich im 18. Jahr­hundert, gestützt auch durch das Prestige, das der Begriff „Kritik“ im Zeitalter der Aufklärung gewinnt.

In seinem hartnäckig propagierten Bemühen um Ver­ständlichkeit und um eine Literatur, die einer breiteren Öf­fentlichkeit nicht unzugänglich bleibt, sowie um einen Stil der Auseinandersetzung mit Literatur, der die Kluft zwi­schen kulturellen Eliten und einem breiten Publikum zu schließen versucht, stand Reich-Ranicki, wie das Gespräch mit Peter von Matt deutlich erkennen lässt, in dieser Tra­dition. „Dass er kein Freund der Germanisten ist, hat sich herumgesprochen“, schreibt Peter von Matt in einem seiner Essays über ihn. Als Beleg dafür hätte er zwei Sätze aus Reich-Ranickis Autobiographie Mein Leben zitieren kön­nen, in denen dieser sich an die Jahre seiner Redaktionsleitung in der Frankfurter Allgemeinen erinnert: „Ihre Ar­beiten, voll von Fremdwörtern und Fachausdrücken, deren Notwendigkeit in der Regel nicht einleuchtete, waren für die meisten Leser unverständlich. Überdies hatten ihre Manuskripte bisweilen einen penetranten, einen abstoßen­den Geruch, den Kreidegeruch der Seminarräume.“ Reich-Ranicki hat trotzdem eine Vielzahl von Hochschulgerma­nisten, auf deren Kompetenzen er nicht verzichten wollte, dazu animiert, sich auch zu Kritikern mit journalistischen Fähigkeiten zu entwickeln. Die Autobiographie blickt mit einigem Stolz auf das Ergebnis zurück: „Es ist nicht aus­geschlossen, dass die Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsger­manistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse, zum Wichtigsten gehört, was mir in den fünf­zehn Jahren in der Frankfurter Allgemeinen gelungen ist.“

Gelungen ist dies ebenfalls dem Hochschulgermanisten Peter von Matt. Er war seinerseits auch als Literaturkritiker erfolgreich – nicht zuletzt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 1982 erschien seine erste Gedichtinterpretation in der Frankfurter Anthologie, es folgten viele andere. Ab 1998 verlieh die Zeitung an Interpreten, deren Beiträge für die Frankfurter Anthologie besonders hoch geschätzt wur­den und die sich auch sonst um die Vermittlung von Lyrik verdient gemacht hatten, einen Preis. Peter von Matt war der Erste, der ihn erhielt. Zu den auf diese Weise Ausge­zeichneten gehörten in den folgenden Jahren etliche Litera­turwissenschaftler: Ruth Klüger, Wulf Segebrecht, Harald Hartung und Walter Hinck.

Zur Überwindung der Kluft zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft haben deutsche Universitäten, sieht man von der 1974 erfolgten Ernennung Reich-Ranickis zum Honorarprofessor an der Universität Tübingen ab, relativ spät beigetragen – im Gegensatz zu Universitäten in anderen Ländern: 1968 lehrte Reich-Ranicki ein Semester lang deutsche Literatur an der Washington University in Saint Louis. Von 1971 bis 1975 war er wiederholt als Gastprofessor für neuere deutsche Literatur an den Uni­versitäten von Stockholm und Uppsala tätig. In Uppsala erhielt er 1972 die erste Auszeichnung in seiner Kritikerkarriere: die Ehrendoktorwürde der Universität. Erst nach zwei Jahrzehnten folgten entsprechende Auszeichnungen an deutschen Universitäten, zuerst 1992 an den Universitäten Augsburg und Bamberg, zuletzt 2006 und 2007 an zwei Universitäten in Berlin.

2007 fand in Frankfurt die Einweihung des Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhls der Universität Tel Aviv statt. Peter von Matt hielt dabei den Festvortrag und signalisierte damit, wie auch in seinen zahlreichen, keineswegs nur für Germanisten geschriebenen Buch-Veröffentlichungen, ein weiteres Mal, dass er Reich-Ranickis Anliegen, die „Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik“, teilte. Um eine damit verwandte Kluft geht es in einem der wichtigsten Gesprächsthemen des Buches, dem sich der Titel Der doppelte Boden verdankt: Was Literaturwissenschaftler mit abstrakten Begriffen wie „Mehrfachcodierung“ oder „Doppelcodierung“ zu benennen und zu analysieren versuchten, nämlich die Fähigkeit von Schriftstellern, mit ihren literarischen Texten sowohl populäre Unterhaltungs- als auch akademisch geschulte Auslegungsbedürfnisse zu bedienen, beschrieb er mit einem treffenden und vergnüglichen Vergleich.

Reich-Ranicki schätzte eine Literatur, die ihre Leser weder unter- noch überfordert. Sein kritisches Engagement galt dem „intelligenten, dem gehobenen Unterhaltungsroman“. An jener massenhaft verbreiteten Unterhaltungsliteratur, die man auch als „Trivialliteratur“ bezeichnet, hatte er kein Interesse. Ihr fehle der „doppelte Boden“, ohne den bessere Literatur nicht auskomme: „Wenn einem Text die Zeichenhaftigkeit fehlt, dann ist es keine Literatur, der doppelte Boden muss vorhanden sein.“ Mit welcher Anschaulichkeit er darüber zu reden vermochte, als er den guten Schriftsteller dabei mit einem Schmuggler verglich, dessen Koffer mit doppeltem Boden mehr enthält und Anderes als das, was auf den ersten Blick in ihm sichtbar ist, kann man sich bei der eigenen Lektüre des Gesprächs vor Augen führen lassen.

Der Beitrag übernimmt Teile der Einleitung zur erweiterten Fassung von „Der doppelte Boden“, die vom Kampa Verlag zu Reich-Ranickis 100. Geburtstag in eine neuen Ausgabe veröffentlicht wurde. Die Einleitung ist dort unter dem Titel „Literaturkritik und Literaturwissenschaft im Gespräch“ erschienen.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein Gespräch über Literatur und Kritik mit Peter von Matt.
Herausgegeben von Thomas Anz.
Kampa Verlag, Zürich 2020.
282 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783311140184

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch