Über Reich-Ranickis Auswahl der „besten deutschen Geschichten und Gedichte“

Mit Erinnerungen an sein Kanon-Projekt

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur bemerkenswerten Produktivität des über 80-jährigen Marcel Reich-Ranicki nach dem Erscheinen seines größten Buch-Erfolges, seiner Autobiographie Mein Leben, am Ende des vorigen Jahrhunderts gehört seine Beteiligung in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts an jenem öffentlichen „Literaturspiel“, an dem er nicht zum ersten Mal teilnahm, doch nun mit einer vorher nicht gekannten Vehemenz: dem Spiel und Streit um jene literarischen Texte, die zum „Kanon“ deutschsprachiger Literatur gehören sollen. Im Spiegel vom 18. Juni 2001, der mit Reich-Ranicki auf dem Titelbild seinen Leitartikel dem Thema „Was man lesen muss“ widmete, präsentierte der Kritiker in einem Gespräch mit Volker Hage seinen persönlichen Kanon deutscher Literatur und adressierte ihn vor allem an Deutschlehrer und Schüler. Die Liste reichte vom Nibelungenlied bis zu Gedichten von Robert Gernhardt.

Aus dem aufsehenerregenden Artikel erwuchs ein verlegerisches Großprojekt. Im September 2002 erschien im Insel Verlag unter dem Titel Der Kanon im Umfang von 8200 Seiten die erste Folge mit einer Sammlung von 20 Romanen von 17 Schriftstellern der deutschen Literatur von der Goethezeit bis zur Gegenwart. Die Leitlinie von Reich-Ranickis Auswahl war nicht nur die Qualität der Bücher, sondern auch ihre Lesbarkeit für ein breites, aufgeschlossenes Publikum. Reich-Ranicki wollte diesen Kanon nicht wie ein Gesetzbuch oder eine Vorschrift verstanden wissen, doch als eine Art Richtschnur, die zeigen möchte, was lesenswert ist und was man gelesen haben sollte. Es folgten Kassetten mit Dramen (2004), Gedichten (2005) und Essays (2006).

Von diesem Kanon-Projekt (siehe die Informationen dazu auf dem Internet-Portal Marcel Reich-Ranicki) zunächst deutlich unterschieden waren gleichzeitig erschienene Textsammlungen von ihm, die sich auf persönliche Vorlieben beriefen. Deren erster Band erschien im Frühjahr 2003 – mit dem programmatischen Titel Meine Gedichte von Walther von der Vogelweide bis heute. Im Herbst folgte der Band Meine Geschichten von Johann Wolfgang von Goethe bis heute. Die letzten Absätze in Reich-Ranickis Vorwort zu Meine Gedichte knüpfen autobiographisch an Mein Leben an:

In den schwersten Monaten und Jahren, die ich zu erleiden hatte, damals, als ich täglich mit dem Tod, mit meiner Ermordung rechnen mußte, habe ich bisweilen Verse gelesen. Was habe ich mir denn, frage ich mich jetzt, von dieser Lektüre versprochen? Etwa Trost und Zuspruch? Oder eher Ablenkung, eher Vergnügen und Genuß für wenige Minuten? Ja, aber wahrscheinlich noch etwas: Man könnte es einen Zuwachs an Kraft nennen, Kraft, um dem Schrecklichen widerstehen zu können.

Vielleicht wäre damit auch unsere schwierige Frage beantwortet – jene, wozu wir immer noch, wozu wir heute das Gedicht brauchen. So ist die Poesie ein Spiel, das uns beschützt, das uns in ungewöhnlichen Situationen vielleicht sogar retten kann, auch heute, sogar heute.

Als ein Spiel habe ich auch die Aufgabe betrachtet, meine Gedichte zusammenzustellen, solche also, die mir im Laufe meines Lebens gefallen haben, die mich oft zu begeistern imstande waren. Aber ich wollte mich nicht auf meine früheren Eindrücke und Urteile verlassen. Ich habe alles überprüft und in die endgültige Auswahl nur jene Verse aufgenommen, die mich nach wie vor erregen und beglücken oder für die ich zumindest eine Schwäche habe.

Der Arbeit an diesem Buch verdanke ich viel Freude. Ich habe es für mich selber gemacht und doch in der Hoffnung, fast in der Zuversicht, daß ich auch den Lesern zur Freude verhelfe – und vielleicht hier und da sogar zu Augenblicken des Glücks.

Etwas modifiziert wurden beide Bände einige Jahre später neu mit anderen Titeln aufgelegt: Die besten deutschen Erzählungen (2010) und Die besten deutschen Gedichte (2012). Zum 100. Geburtstag Marcel Reich-Ranickis sind jetzt beide zusammen in einem Band erschienen.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Die besten deutschen Geschichten und Gedichte. Ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki.
Insel Verlag, Berlin 2020.
750 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458681052

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