Selbst gehen macht glücklich

Shane O‘Mara erforscht „Das Glück des Gehens“

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum nur ist Gehen so unpopulär? Haben wir uns in unserer Komfortzone einfach abgewöhnt zu Fuß zu gehen, weil wir an jeder Ecke einen Bus, einen Zug, ein Auto, ein Fahrrad oder seit Neuestem einen E-Scooter nutzen können? Großstädte bieten zig Gelegenheiten, komfortabel und (hoffentlich) schnell von A nach B zu kommen. Während wir das tun, sitzen wir meist. Und verstärken damit noch den oft beklagten Bewegungsmangel. Ein Großteil der Bevölkerung arbeitet in sitzenden oder überwiegend sitzenden Berufen. Eigentlich könnte man doch den Rückschluss ziehen, dass wir uns freuen dürften, wenn wir endlich an der frischen Luft und unter freiem Himmel zu Fuß gehen können. Aber gewöhnlich nutzen viele Menschen trotzdem ein schnelleres und vermeintlich komfortableres Transportmittel als die eigenen Füße.

Der irische Neurowissenschaftler Shane O’Mara schreibt mit seinem Buch und enormer Passion gegen diesen Trend an. Auf verständliche Weise erklärt und mit wissenschaftlichen Fakten und Studien untermauert, zeigt er die positiven Auswirkungen des regelmäßigen, zügigen Gehens auf Denken, Kreativität und Gesundheit auf. Das gibt es sogar auf Rezept. So zum Beispiel auf den Shetlands, wo Spaziergänge von Allgemeinmedizinern als Präventivmaßnahme verordnet werden. Das Beste daran ist, dass sie keinerlei Nebenwirkungen haben, aber im Gegenzug durch Experimente belegt ist, dass sich „Hören, Sehen und Reaktionszeit“ während aktiver Bewegungszeit messbar verbessern.

Als begeisterter per pedes-Anhänger zählt O’Mara täglich seine Schritte mit einer Smartphone-App. Sie ist ihm Kontrolle und Ansporn zugleich. In sein Buch sind neben den wissenschaftlichen Darstellungen demnach auch persönliche Geherlebnisse und Erfahrungen eingegangen. Dadurch gewinnt das Sachbuch an Unmittelbarkeit und Nähe, was viele Leser schätzen dürften.

„Die fundamentale Lektion ist klar: Die Evolution hat Gehirne für die Bewegung geschaffen. Wenn Sie sich festsetzen, auf Bewegung verzichten, an einer Stelle bleiben, genügend Nahrung in Ihrer unmittelbaren Umgebung verfügbar haben, wozu brauchen Sie dann noch ein aufwendiges Gehirn?“ So haben beispielsweise Bäume und auch sessile Tiere kein Gehirn. Die erforderliche Suche nach Nahrung und einem Partner knüpft aus evolutionsbiologischer Sicht an die Fähigkeit und Notwendigkeit der physischen Bewegung an, wozu ein Gehirn benötigt wird und demzufolge das Denken. Somit waren und sind wir von Anbeginn unserer Spezies perfekt für das sich Zurechtfinden in einer stetig komplexer werdenden Umwelt ausgestattet. Kein Lebewesen konnte sich so ausgedehnt über den gesamten Erdball verbreiten wie der Mensch. In Zahlen heißt das: „Die längste über Land führende Entfernung beginnt an der afrikanischen Atlantikküste im Westen Liberias und endet an der östlichen Pazifikküste Chinas, eine Strecke von etwa 13589 Kilometern […]. Rechnet man 20 Kilometer pro Tag über 300 Tage, dauert diese Wanderung etwas mehr als zwei Jahre.“

Interessant ist auch die evolutionsbiologische Herleitung O’Maras, dass sich die fußläufige Reichweite des Menschen zusammen mit der Perfektionierung der Bipedie, des Laufens auf zwei Beinen, entwickelte. Großzehe und Fußspann passten sich im Laufe der Zeit einer besseren und elastischen Vorwärtsbewegung an. Die Knöchel lernten schwerere Lasten zu tragen. Ein Großzeh, der vormals ähnlich dem Daumen in der Lage war zu „greifen“, wurde überflüssig.

Wie aber genau bewegen wir uns fort? Neben den evolutionsbiologischen Errungenschaften entwickeln wir ein ausgeklügeltes System aus Gleichgewichts- und Orientierungssinn, um uns aufrecht im Raum zu halten und uns gleichzeitig zu bewegen und zu orientieren. Die so genannte Koppelnavigation, die uns hilft abzuschätzen, wo wir uns gerade befinden, benötigt einen festen und bekannten Bezugspunkt und muss Gehgeschwindigkeit und -richtung erkennen. „Um dort anzukommen, wo wir hingehen möchten, sind zwei Schätzungen immer erforderlich: eine ist eine gerade Linie oder eine Luftlinienschätzung zum Ziel, die andere ist eine Schätzung am Boden, die beispielsweise Umwege durch Hindernisse berücksichtigt.“

Hilfreich ist es zudem, von Zeit zu Zeit ein Update zur Neuanpassung an die entsprechende Umgebung vorzunehmen. O’Mara beschreibt anhand dieser Koordinationsleistung seinen 18 km langen Fußmarsch durch ein London, das ihm zum Teil unbekannt ist. Dabei hilft es ihm, dass er tagsüber geht und sich immer wieder neu an seiner jeweiligen Umgebung ausrichten kann. Überdies kann sich das Gehirn durch sein Erinnerungsvermögen Wege merken und macht diese anhand einiger Orientierungspunkte wieder abrufbar. Selbst wenn beispielsweise einige Häuser einer Straße verschwinden sollten, hilft der Blick zur Kirchturmspitze oder einem markanten Bauwerk, sich zurechtzufinden. Somit verfügen wir über so etwas wie ein eigenes GPS.

Wenn wir nun die Rechnung aufmachen, dass bis zum Jahr 2050 etwa 80 bis 90 Prozent der Menschen weltweit in Städten leben werden, dann ist es sehr naheliegend, dass O’Mara den jetzigen und zukünftigen Stadtgängern ein eigenes Kapitel widmet. In gewisser Weise „führen uns unsere Städte spazieren“ insofern als die „Bauweise der Städte die Art bestimmt, wie wir gehen“. Die Architektur einer Stadt, ihre Bebauungen und freien oder grünen Flächen lenken unsere Schritte durch den urbanen Raum. Wir trainieren, uns in der Stadt zurechtzufinden. Wie gut das gelingt, hängt eben auch von der Architektur der Stadt ab. Der so genannte „Fußgängerfreundlichkeits-Index“ bildet das ab. Dieser Index misst, wie gut man Besorgungen und Bedürfnissen des Alltags zu Fuß nachkommen kann.

Die Unmittelbarkeit, mit der man sich bestenfalls eine Stadt erlaufen kann, hat mehrere positive Auswirkungen, unter anderem auf die soziale Interaktion. So lassen sich in unzersiedelten Städten, die fußläufig gut erschlossen sind, rasch soziale Kontakte knüpfen. „Außerdem bleibt das Geld, das Sie ausgeben, in der Wirtschaft vor Ort, während das Geld, das Sie für die Beförderung und für das Fahrzeug selbst aufwenden, der örtlichen Wirtschaft entzogen wird.“

O’Mara vermittelt einen Eindruck, wie die abwechslungsreichere und schnelle Frequenz der Städte den Menschen verändert. So passt er sein Gehtempo an. Unbewusst wollen wir auch deshalb schneller gehen, um uns begehrte und knappe Ressourcen nicht entgehen zu lassen, zum Beispiel einen beliebten Platz in einem neuen Restaurant. Unser Gehirn leistet rege Koordinierungsarbeit wenn wir uns in dem Durcheinander geschäftiger Menschenströme unseren Weg bahnen. Dabei vermeiden wir Zusammenstöße und Probleme mit den Mitmenschen. Wir schätzen ab, wie schnell und in welche Richtung die Menschen in unserer Umgebung laufen werden und setzen dementsprechend unseren eigenen Weg fort.

Wie gesund das Gehen ist, wird spürbar, wenn uns O’Mara präsentiert, dass eine hohe körperliche Inaktivität gar mit negativer Persönlichkeitsveränderung in Zusammenhang steht. „Geringere physische Aktivitätsniveaus waren mit einem Rückgang an Offenheit, Extraversion und Verträglichkeit verknüpft, was auf ein ‚nachteiliges‘ Muster langfristiger Persönlichkeitsveränderung schließen lässt.“ Studien, die untersucht haben, wie sich ein Spaziergang von 17 Minuten in einer naturnahen Umgebung im Vergleich zu einem wind- und wettergeschützten Tunnel auswirkt belegen, wie groß das natürliche Bedürfnis des Menschen ist, einen Teil seiner Zeit in der freien Natur zu verbringen. Die Probanden der naturnahen Umgebung spürten eine positive Auswirkung auf ihre Stimmungslage. Die Verbesserung lag bei einem Drittel.

Wie wohltuend die Interaktion mit der Natur nicht nur für das intuitive und psychische Empfinden ist, sondern auch für den Körper, lässt sich anhand des Cortisolspiegels messen. Während er zu Tagesbeginn am höchsten ist, nimmt er zum Tagesende hin ab. Bei Menschen, die anhaltend unter Stress stehen, bleibt die Cortisolkonzentration bestehen. Studien bei Städtern, denen der Zugang zu Grünflächen verwehrt blieb, haben ergeben, dass der Tagesausgleich des Cortisolspiegels nicht oder kaum stattfand.

Nach Ansicht von Psychologen sollte eine natürliche Umgebung drei entscheidende Elemente aufweisen, um auf uns wirklich regenerierend zu wirken: Sie sollte uns den Eindruck vermitteln, dass wir aus unserem normalen Leben und dem vertrauten Umfeld herausgehoben sind, sie sollte visuelle und sensorische Elemente enthalten, die wir faszinierend finden, und sie sollte eine gewisse Ausdehnung haben.

Damit wir Regeneration erfahren können, die sich als „Gefühl der Ruhe, Entspannung, Revitalisierung und Stärkung definiert“, brauchen wir folglich natürliche Umgebungen. Interessant ist, dass eine Studie eine Hitliste von Regenerationsorten erfasste. Auf Platz 1 rangiert die Küstenlandschaft, gefolgt von der ländlichen Umgebung und der städtischen Grünfläche. Unabhängig davon gilt jedoch, dass es entscheidend ist, überhaupt regelmäßig Zeit gehend im Grünen zu verbringen, um sich und seiner Gesundheit und Resilienz Gutes zu tun.

Eine sitzende Lebensweise ist schlecht für Sie, selbst wenn Sie jung und fit sind: Ihre Muskeln werden rasch und stetig an Volumen verlieren, wenn sie nicht beansprucht werden. Außerdem geht der Verlust von Muskelmasse mit einem Rückgang der Produktion von neuen Gehirnzellen in den wenigen Hirnregionen einher, die das ganze Leben lang neue Gehirnzellen produzieren. Wenn Ihre Muskeln abbauen, baut auch Ihr Gehirn ab.

In einem eigenen Kapitel widmet sich O’Mara schließlich dem „Kreativen Gehen“. Henry David Thoreau zitierend bemerkt er, dass „Schreiben, das im üblichen Sitzen vorgenommen wird, […] mechanisch, hölzern und langweilig zu lesen“ ist. Viele Schriftsteller und Philosophen haben festgestellt, wie positiv sich das Gehen auf die Kreativität und den Gedankenfluss auswirkt. Warum dies so ist, wird gegenwärtig erforscht. O’Mara selbst geht vorzugsweise mit einem Diktiergerät in der Hand und hält seine kreativen Gedanken am besten unterwegs fest. Er berichtet auch von anderen Schreibproduktiven, die auf ihrem Morgenspaziergang im Kopf gliedern und organisieren und anschließend ohne eine Korrektur ihre Texte niederschreiben. Wie ist das möglich?

Beim Gehen löst sich die Aufmerksamkeit von einer rein aufs zielgerichtete Denken ausgerichteten Fokussierung. Der Raum um die Gedanken wird durch das entspannte „Gedankenwandern“ weiter. Das „schafft die Voraussetzung dafür, dass Ideen kollidieren, während wir mit Hilfe der Gedankenfokussierung überprüfen können, ob die neue Konstellation unsinnig oder interessant und neu ist“. Kreativität entsteht dann, wenn das „aufgabenpositive Netzwerk“ und „das Default-Netzwerk“ (Ruhemodus) zugleich aktiv sind. Oder anders gesagt, wenn der Wald und die einzelnen Bäume gleichzeitig gesehen werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann auf das Ganze und auf das Detail.

Dieser Modus wird tatsächlich am leichtesten beim Gehen erreicht. Studien haben ergeben, dass die Kreativität gemessen an der „Ideenproduktion“ bei den Probanden, die im Freien gingen, am größten war. Dies soll deshalb zustande kommen, weil das Gehen (besonders in der Natur) als eine Art Stimulus wirkt, „Assoziationen in weit voneinander entfernten Gehirnarealen auszulösen“. Um kreativen Lösungen für Probleme auf diese Art und Weise näher zu kommen, empfiehlt es sich, mit einer bestimmten thematischen Absicht loszugehen.

Und schließlich ist das Gehen auch eine soziale Interaktion. Schon eingangs erwähnte O’Mara, dass der Fußgänger unmittelbar auf seine Umgebung trifft. Begegnungen und Gespräche mit anderen ergeben sich fast automatisch en passant. In seinem letzten Kapitel schlüsselt er die Formen „Sozialen Gehens“ auf, an denen wir alle auf die eine oder andere Art teilhaben. Wir spazieren zu zweit, in kleinen Gruppen und in Massen, um beispielsweise für bestimmte Dinge zu demonstrieren. Sprechen und Gehen verbinden sich hier. Im gemeinsamen Gehen findet eine gewisse Synchronisation statt und Verbundenheit wird gestärkt. Kein Wunder, dass O’Mara wegen der vielfältigen positiven Aspekte des Gehens für fußgängerfreundliche Städte plädiert. Kaum etwas wirkt so nachhaltig förderlich auf Stimmung und Gesundheit wie das Gehen und zwar ohne jedwede Nebenwirkung. Um sich für das Tagesziel zu motivieren kann eine Smartphone-App oder ein Fitness-Tracker zur täglichen Schrittzählung hilfreich sein. Oder auch dieses Buch. Die vorgestellten Studien zu den vielfältigen positiven Wirkungen sind überzeugend und holen sicherlich einige Leser aus ihrer ganz persönlichen Komfortzone.

Titelbild

Shane O'Mara: Das Glück des Gehens. Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so guttut.
Aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498035792

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