Reden über Marcel Reich-Ranicki und Jürgen Habermas im Dezember 1999

Von Jürgen HabermasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Habermas und Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Vorbemerkung der Redaktion: Die beiden folgenden Reden wurden bei der Verleihung des Hessischen Kulturpreises am 18. Dezember 1999 gehalten und unter dem Titel „Drei ältere Herren bilden ein geschlossenes System. Was sie übereinander zu sagen hatten: Die Reden zur Verleihung des Hessischen Kulturpreises an Jürgen Habermas, Marcel Reich-Ranicki und Siegfried Unseld“  am 20. Dezember im Feuilleton der Frankfurter Allgmeinen Zeitung veröffentlicht. Ein Nachdruck ist 2008 in der Deutschen Verlags-Anstalt in dem inzwischen vergriffenen Buch „Die Literatur, eine Heimat. Reden über und von Marcel Reich-Ranicki“ erschienen. Wir danken Jürgen Habermas und Carla Ranicki für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung der Reden in literaturkritik.de. T.A.

Jürgen Habermas über Marcel Reich-Ranicki

Ich bin leider zu spät aus Chicago zurückgekehrt, um aus dem philosophischen Diskurs der Moderne noch das eine oder andere Argument gegen die andernorts gefasste Idee des kleinen interaktiven Kunstwerkes aufzubieten, das wir Ihnen hier vorführen. Das Design ist offensichtlich dem Geist der Postmoderne entsprungen: Drei ältere Herren bilden ein selbstreferenziell geschlossenes System, indem sie füreinander Spiegel aufstellen, um sich darin geistreich reflektiert zu sehen. Meine Aufgabe wird freilich dadurch erleichtert, dass sich Marcel Reich-Ranicki mit seiner Autobiografie selbst einen Spiegel aufgestellt hat und sich in der Reaktion seiner Leser anschauen kann.

Wie viele seiner Leser staune ich über die rätselhaften Kräfte eines Lebens, eines Lebens zu zweit, welches das alles ausgehalten hat. Natürlich bewundere ich auch die moralische Energie, das Selbstvertrauen, die Intelligenz, die dem achtunddreißigjährigen Rückkehrer aus Polen den mühsamen Weg vom freien Mitarbeiter zum einflussreichsten Literaturkritiker Deutschlands gebahnt haben. Der Literaturteil der FAZ war – von Sieburg über Bohrer bis zu Reich-Ranicki – stets gut für prononcierte Stellungnahmen und bundesweite Kontroversen. Aber erst Reich-Ranicki hat die Buchkritik der Wochenendbeilage durch herausfordernde Werturteile so markiert, dass diese Seiten über den engen Kreis der Experten hinaus eine breite Öffentlichkeit erreichten. Soweit sich das zerfallene bildungsbürgerliche Publikum unter den Bedingungen zerstreuender Medien neu formiert, hat daran keine Einzelperson ein größeres Verdienst als dieser Kritiker. Darin besteht die exoterische Wirkung eines Mannes, der als talentierter Schauspieler zugleich weiß, wie man die Medien bedienen muss.

Eine andere, zwar öffentliche, aber weniger sichtbare Wirkung erzielt Reich-Ranicki mit seinem letzten Buch. Mit dieser Autobiografie hat er auf dem Höhepunkt seiner Karriere die wohlerworbene Reputation eingesetzt, um seinen Landsleuten eine Mitteilung zu machen. Diese Mitteilung ist von der Art, dass sie nur durch die Autorität einer durchlittenen Lebensgeschichte beglaubigt werden kann.

Ein im Nachkriegsdeutschland zu Prominenz gelangter Jude veröffentlicht Erinnerungen, auf deren anekdotische Spitzen die Klatschsucht der Insider schon lauert. Auch das breite Publikum erwartet Eingängiges und Einschlägiges; man kennt die unterhaltsam-expressiven Seiten eines seines polemischen Talents wegen geschätzten Autors. Tatsächlich bestätigt die im ersten Kapitel erzählte Jugend Leser, die die Geschichte von der deutsch-jüdischen Symbiose, nachdem alles vorüber ist, immer wieder gerne hören. Nicht ohne Rührung begegnen sie der etwas konventionellen, vom deutschen Gymnasium geförderten Liebe zur klassischen deutschen Literatur, die den Holocaust überdauern wird. Aber dann folgen einhundertdreißig Seiten, einhundertdreißig schmerzende Seiten eines literarisch schmucklosen, unprätentiös sachlichen Augenzeugenberichts von ungeheuerlichen Szenen – Szenen aus dem entwürdigenden, lebensbedrohenden, vernichtenden und auf die Vernichtung vorbereitenden Alltag des Warschauer Ghettos. Durch das Buch geht ein Riss, in den jeder Leser, der diese Seiten nicht überschlägt, hineingezogen wird.

Dieses Buch hat in wenigen Monaten mehr als eine halbe Million Leser gefunden. Nicht durch Beschweigen, durch Aufdeckung hat der jüdische Intellektuelle Reich-Ranicki zur Wiederherstellung der uns möglichen Normalität im Umgang miteinander mehr beigetragen als alle, die heute vom Wunsch nach Normalisierung besessen sind.

Marcel Reich-Ranicki über Jürgen Habermas

Wer bin ich, dass ich es wagen könnte, Jürgen Habermas zu loben und zu preisen? Mir, der ich kein Philosoph und kein Soziologe bin, steht dies mit Sicherheit nicht zu. Nein, ich kann den Jubilar hier weder würdigen noch rühmen. Aber ich darf ihm danken – als Zeitgenosse und als Leser und vor allem als Bürger der Bundesrepublik.

Es ist bald vierzig Jahre her, dass ich mich zum ersten Mal mit einer Abhandlung von Habermas beschäftigt habe. Damals kannte ich seinen Namen kaum. Doch das Thema seiner Studie hat mich verblüfft: Da hatte ein noch junger Mann über die „so abgründige wie fruchtbare Verwandtschaft“ des jüdischen Geistes mit der deutschen Philosophie geschrieben, über den deutschen Idealismus der jüdischen Philosophen des neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Aber Habermas zeigte nicht nur, wie deutsch seine Philosophen waren, sondern zugleich – und das war das für mich Sensationelle –, wie produktiv die zentralen Motive des doch wesentlich protestantisch bestimmten deutschen Idealismus sich aus der Sicht und aus der Erfahrung der jüdischen Tradition erschließen lassen. Denn ähnlich wie die großen jüdischen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, Heine zumal und Börne, profitierten auch die jüdischen Philosophen jener Zeit von ihrer besonderen Perspektive, von der bewussten und, vielleicht häufiger, der unbewussten Distanziertheit der Neuankömmlinge in der deutschen Gesellschaft. Von dieser Abhandlung habe ich viel gelernt, und so habe ich Habermas schon damals, in dem ersten Buch, das von mir in der Bundesrepublik erschienen ist, respektvoll und dankbar zitiert.

In den folgenden Jahren las ich seine Arbeiten immer wieder, aufmerksam und stets interessiert, wenn auch nie systematisch. Was mich vor allem anregte, war die unverkennbare Synthese von Gelassenheit und Souveränität mit Leidenschaft, mit Temperament und fruchtbarer Unruhe, ja, auch mit gelegentlicher Wut. Und es imponierte mir, mit welcher Hartnäckigkeit Habermas um die Vermittlung von Theorie und Praxis bemüht war, um die Verknüpfung also von akademischer Lehre und politischem Handeln, kurz, um die weltliche, die gesellschaftliche Nützlichkeit der Philosophie.

Doch wie wichtig diese Schriften für mich auch waren, erst viel später, im Jahre 1986, erschien ein Aufsatz von Habermas, der mich nicht nur anregte, sondern auch in hohem Maße aufregte. Wieder hatte ich das Gefühl: mea res agitur, meine Sache ist es, die hier abgehandelt wird. Ich meine den Historikerstreit, der inzwischen Geschichte geworden ist.

Ich habe an diesem Streit gelitten, ich habe mich geschämt. Denn er ging von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aus. Und die Zeitung, in der ich seit Jahrzehnten arbeite und der ich auch zu Dank verpflichtet bin, spielte in diesem Streit, den sie inspiriert und zeitweise organisiert hat, keine rühmliche Rolle. Ein inzwischen emeritierter Berliner Historiker hatte in einem von der FAZ publizierten Artikel kurzerhand behauptet, der deutsche Mord an den Juden sei keineswegs einzigartig und der Holocaust die Folge, wenn nicht die Kopie der bolschewistischen Schreckensherrschaft. So wurde der Nationalsozialismus verteidigt und das deutsche Verbrechen bagatellisiert.

Der Skandal bestand aber nicht darin, dass dieser Artikel in der FAZ gedruckt wurde und auch noch mit einem falschen, einem bewusst irreführenden Vorspann. Er bestand vielmehr darin, dass der damals zuständige Herausgeber der Zeitung eine Erwiderung verhindert hat. Aber sie blieb nicht aus, nur erschien sie in einem anderen Blatt, in der Zeit, geschrieben von Jürgen Habermas. Ich konnte aufatmen. Das alles gehört mittlerweile der Vergangenheit an, auch der glücklicherweise längst überwundenen Vergangenheit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; dort führen jetzt die Repräsentanten einer neuen, einer viel jüngeren Generation das Wort.

Doch damals, 1986, als sich Habermas der von einigen Historikern angestrebten, der höchst fatalen Revision des Geschichtsbildes mit aller Entschiedenheit widersetzt hat, zeigte es sich abermals, welche Rolle ihm schon seit einiger Zeit in diesem Lande, in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zugefallen war: die Rolle einer zentralen moralischen und intellektuellen Instanz. Ich habe, wir haben Jürgen Habermas zu danken.