„Mein Leben“ und sein spätes Glück

Marcel Reich-Ranickis Autobiographie

Von Volker HageRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Hage

Mit einem derartigen Erfolg hatte niemand gerechnet, am allerwenigsten der Autor selbst. Im Mai 2000, nachdem Mein Leben schon 33 Wochen ununterbrochen den ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste besetzt hielt, erklärte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki dem Magazin in einem längeren Interview: Er habe den Verlag, in dem seine Erinnerungen erscheinen sollten, davor gewarnt, mit einer höheren Erstauflage als 50.000 zu beginnen. „Die Hälfte wird liegenbleiben“, war seine feste Überzeugung. Doch kaum waren Reich-Ranickis Erinnerungen auf dem Markt, zeichnete sich rasch das große Interesse an seinem Buch und damit an seinem Leben ab.

Der Autor war seit langem der bekannteste Literaturkritiker Deutschlands. Doch zum Star, zum Prominenten wurde er erst, nachdem von 1988 an im Zweiten Deutschen Fernsehen regelmäßig eine von ihm erdachte, konzipierte und geleitete Büchersendung lief: die höchst streitlustige Diskussionsrunde „Das Literarische Quartett“. Und es saßen damals auch solche Zuschauer gebannt vor dem Bildschirm (oder als Gäste im Studio), die nicht unbedingt zu regelmäßigen Lesern von Buchkritiken zählten. Sie vertrauten den TV-Empfehlungen Reich-Ranickis und kauften fleißig Romane und Erzählungen – so dass sich manche Auflage nach einer lobenden Erwähnung im „Quartett“ gut und gern verdoppelte oder verdreifachte.

Und nun übertrumpfte Reich-Ranicki mit seinen Memoiren lässig die meisten dieser Bücher: Mein Leben wurde zu einem regelrechten Bestseller, zu einem Welterfolg. Bis Anfang 2005 waren allein in deutscher Sprache schon mehr als eine Million Exemplare in diversen Buchausgaben verkauft worden, es gab Übersetzungen in siebzehn Sprachen, darunter sogar ins Chinesische und Koreanische.

Für den Kritiker war dieser phänomenale Erfolg aus einem ganz speziellen Grund ein persönlicher Triumph: Wie oft hatte er sich anhören müssen, er könne immer nur auf fremde Bücher und Werke reagieren, sei aber nicht in der Lage, selbst etwas zu schaffen, selbst schöpferisch zu sein. Das hatten ihm vor allem jene Schriftsteller vorgehalten, deren Werke er abgelehnt und öffentlich kritisiert hatte. Im Stillen rechnete Reich-Ranicki damit, dass ihm vielleicht doch der eine oder andere Dichter gratulieren könnte, doch (wie er dem Spiegel anvertraute): „Kein Einziger von ihnen hat mich angerufen oder mir eine Postkarte geschickt – ausgenommen Siegfried Lenz, mit dem ich seit Jahrzehnten befreundet bin. Er hat mir gesagt: Du bist ein Erzähler. Das klang wie ein Ritterschlag.“

Dabei zählt der Kritiker keineswegs zu jenen Journalisten, die sich gern als verhinderte Schriftsteller sehen. Es war nie seine Absicht, Romane, Dramen oder Gedichte zu schreiben. Dazu war der Respekt vor den Dichtern seit seinen Jugendtagen viel zu groß. So ist denn – von dem Buch Mein Leben abgesehen – nur ein einziger Sündenfall, ein winziger Schritt ins Erzählfach bekannt: Es gibt eine autobiographische Erzählung Berlin 1945, die Reich-Ranicki für den deutschen Rundfunk schrieb, und zwar 1958, zwanzig Jahre nachdem er als Jude gegen seinen Willen aus Deutschland ausgewiesen und in sein Geburtsland Polen transportiert worden war. In dieser Erzählung erinnert er sich an die erste Wiederbegegnung mit Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg, mit jener Stadt, in der er 1938 noch sein Abitur gemacht hatte. Warum schrieb er die Geschichte? Der Grund war sehr einfach: Der Kritiker hatte im Juli 1958 auf eigene Faust das damals kommunistische Polen verlassen und brauchte dringend Geld. Reich-Ranicki kehrte endgültig nach Deutschland zurück, musste sich aber hier seinen Platz als Kritiker erst erobern.

Das schaffte er recht bald: dank seiner enormen Kenntnisse besonders der deutschen Literatur, mit viel Fleiß und Beharrlichkeit – und mit einer im Kritikergewerbe bis heute selten anzutreffenden deutlichen Sprache. Reich-Ranickis Kritiken fielen durch Verständlichkeit und Überzeugungskraft gleichermaßen auf: durch große Stilsicherheit und ein stets klares Urteil. So kam er 1960 zur Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, wurde deren ständiger und wichtigster Literaturkritiker, bis er 1973 nach Frankfurt am Main und zu einer Tageszeitung wechselte, zur Frankfurter Allgemeinen. Bei diesem Blatt leitete er 15 Jahre lang den Literaturteil.

Schon in dieser Zeit gab es einige aus dem Kreis der Freunde, Kollegen und Familie (sein 1948 geborener Sohn Andrew gehörte dazu), die ihn bedrängten, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben – besonders jener Phase, nachdem er, das deutsche Abitur in der Tasche, zwangsweise nach Polen abgeschoben worden war und in Warschau den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte. Er war danach nur knapp der mörderischen Verfolgung durch die in Polen einmarschierten Deutschen entkommen, jener nationalsozialistischen Jagd auf die europäischen Juden, die erst viel später den Namen „Holocaust“ erhielt.

Er und seine ebenfalls jüdische Frau Teofila (Tosia, sprich: Toscha), die er 1942 im Warschauer Getto geheiratet hatte, lebten bis September 1944, als beide 24 Jahre alt waren, in der ständigen Furcht, doch noch von den deutschen Besatzern aufgespürt, in ein KZ gebracht oder gleich ermordet zu werden. Dann erst wurden sie von den vordringenden Sowjettruppen, den Soldaten der Roten Armee aus ihrem Versteck und von der Todesangst befreit. Nur wenige Juden überlebten das Getto – rund eine halbe Million war von dort aus in die Todeslager transportiert worden (oder die Menschen hatten vorher durch Hunger, Seuchen oder willkürliche Erschießungen ihr Leben verloren oder beim großen Aufstand Anfang 1944).

Reich-Ranicki sprach lange Zeit nicht öffentlich über seine Erlebnisse und Erfahrungen im Getto. Allenfalls im privaten Kreis war er bereit, Auskunft zu geben, aber auch dann nur, wenn er ausdrücklich gefragt wurde. Als Journalist ließ er nur hier und da eine Andeutung fallen, so etwa im Zusammenhang mit dem Bau der Berliner Mauer 1961. Der Anblick hatte offenbar Erinnerungen freigesetzt, und er deutete das in der Zeit indirekt an: „Wer beide Mauern gesehen hat, die Warschauer und die Berliner (und es gibt noch einige Überlebende, die hierzu Gelegenheit hatten), der mußte eine bestürzende Ähnlichkeit dieser Bauwerke feststellen – mögen sich die historische Situation und die konkrete Funktion der Grenzmauern noch so sehr voneinander unterscheiden.“

Erst viele Jahre später, Anfang 1979, trat Reich-Ranicki im deutschen Fernsehen als Überlebender des Holocaust in Erscheinung, das allerdings nachdrücklich: In den Gesprächsrunden, die der ersten Ausstrahlung der gleichnamigen amerikanischen TV-Serie folgten, fiel er als temperamentvoller Teilnehmer auf. „Es war Aufgabe der Deutschen, diesen Film zu machen“, sagte er. „Und es ist höchst bedauerlich, daß ein derartiger Film nicht in Deutschland gemacht wurde.“ Wieder einige Jahre später, 1984/85, kam Reich-Ranicki dann ausführlich in der ZDF-Interviewreihe „Zeugen des Jahrhunderts“ zu Wort (es gab sogar, eine Ausnahme, zwei Folgen mit ihm); dabei erzählte er, befragt von Joachim Fest, erstmals in aller Öffentlichkeit anschaulich von eigenen Erlebnissen, von den Schrecken des Gettos, der anhaltenden Gefährdung nach der Flucht, dem Vegetieren in einem Versteck und vom Glück des Überlebens.

Warum zögerte er noch so viele Jahre damit, seine Memoiren zu schreiben? Zunächst einmal war er ja ein vielbeschäftigter Mann, auch nach 1988, als er den Posten als FAZ-Literaturchef räumte: Er blieb zunächst Redakteur, er leitete bis Ende 2001 sein „Literarisches Quartett“, er war weiterhin ein gefragter Kritiker, Redner und Diskutant. Doch die tieferen Gründe mögen woanders zu suchen sein: Es gab schlicht Hemmungen, Skrupel, die Angst vor einem Scheitern. Und Angst vor der Vergegenwärtigung vergangener Todesschrecken während des Schreibens. „Ich wollte nicht das Ganze noch einmal in Gedanken erleben“, erklärte er später in der Danksagung, in der er jene aufzählt, die ihm über die Jahre Mut gemacht hatten.

Die grundsätzliche Problematik der autobiographischen Erzählform war ihm als Literaturkritiker bestens vertraut. In einem geplanten, später verworfenen Vorwort zu seinem Buch Mein Leben schrieb Reich-Ranicki: „Der Autobiograph soll aufrichtig schreiben, aber nicht exhibitionistisch, feinfühlig und empfindsam, aber nicht sentimental. Bescheiden hat er zu sein, aber nicht mit seiner Bescheidenheit zu kokettieren oder gar zu protzen. Diskretion wird erwartet, aber Geheimniskrämerei soll unbedingt vermieden werden.“

Es gelang ihm meisterhaft, bravourös; wie es eben gelegentlich vorkommt, wenn einer sich zögerlich an eine Sache macht, die er sich eigentlich nicht zutraut. Von der Presse wurde Mein Leben auf Anhieb „zu den großen Geschichtserzählungen unseres Jahrhundert“ gezählt (so im Berliner Tagesspiegel), ja, sogar als „ein Roman, der Roman seines Lebens“ gefeiert (Die Zeit). Als besonders eindringlich und erschütternd wurden immer wieder jene Kapitel hervorgehoben, die von der Schulzeit im nationalsozialistischen Deutschland, von den Schreckensjahren im Warschauer Getto und dem Ende des Zweiten Weltkriegs handeln, die also die Zeit von 1933 bis 1945 betreffen.

Über diese zwölf Jahre ist jede Menge gesprochen und geschrieben worden; es gibt eine große Anzahl von Sachbüchern über den Mord an den europäischen Juden, es gibt viele bemerkenswerte persönliche Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust, dieses im tiefsten Sinne unvorstellbaren Verbrechens. Die Darstellung von Reich-Ranicki ist einzigartig. Und zwar nicht nur weil jedes Leben einzigartig ist, jeder Blick in die Vergangenheit etwas anderes zeigt, sondern weil Mein Leben in ganz wunderbarer Art den Leser nicht allein lässt, weil der Autor ihn beim Schreiben stets vor Augen gehabt haben muss – so wie er es auch als Kritiker schon gehalten hat.

Das Buch ist von tiefer Melancholie und Trauer geprägt und dennoch, so eigenartig es klingt, über weite Strecken höchst unterhaltsam und tröstlich; die verschiedenen Tonfälle treffen mitunter hart und unvermittelt aufeinander, aber geben sich gegenseitig Kraft und Kontur. So kann Reich-Ranicki, wenn er etwa von seiner Berliner Gymnasialzeit spricht, liebevolle Lehrerporträts zeichnen, selbst wenn von überzeugten Nazis die Rede ist. Da gab es einen Musiklehrer namens Steineck, der sein Fach derart liebte, dass er allen Schülern, auch den jüdischen, dankbar war, wenn sie diese Liebe erwiderten. „Ja, er hatte jüdische Schüler besonders gern“, heißt es im Kapitel „Rassenkunde – nicht erfolgreich“, „weil die meisten musikalisch waren und viele von ihnen Klavier oder Violine spielten.“

Es ist in dieser Beschreibung einer Kindheit und Jugend auch von ganz unpolitischen Dingen die Rede, von der frühen Begeisterung für Literatur natürlich, aber ebenso vom ersten Interesse an der Sexualität – und davon, wie beides, die Bücher und die Neugier, sich auf das Schönste ergänzten. In dem Kapitel „Ein Leiden, das uns beglückt“ erinnert sich Reich-Ranicki, wie er im Brockhaus und in Romanen nach Begriffen und Stellen suchte, die ihm halfen, sich ein Bild von der Liebe zu machen. Er begriff damals, daß man in der Literatur auf sich selber stoßen konnte: auf „seine eigenen Gefühle und Gedanken, Hoffnungen und Hemmungen.“

Wie anders klingen diese Themen, die Liebe und die Musik, dann wenige Kapitel später an, als aus der düsteren Todeswelt des Warschauer Gettos berichtet wird: sachlich und spürbar um (sprachliche) Haltung bemüht. Als der junge Marcel Reich, wie er damals hieß, das Mädchen heiratete, dessen Vater sich vor Verzweiflung umgebracht hatte und für das er sich nun verantwortlich fühlte, jene Tosia, mit der er bis zu ihrem Tod im April 2011, zweieinhalb Jahre vor dem eigenen, verheiratet war, gab es keine Chance für unbeschwertes Liebesglück: „Eine Hochzeitsreise haben wir nicht gemacht, sie blieb uns, Tosia und mir, erspart – sie hätte ja nur ein einziges Ziel haben können: die Gaskammer.“ Und die Musik, sie spielte zwar im Getto eine große Rolle, es gab sogar Orchesterkonzerte – doch wenn plötzlich zwei deutsche Soldaten den Raum betraten, wussten die Zuhörer aus dem Getto nicht, wie das ausgehen würde (in diesem Fall waren es nur zwei, die gern Musik hörten und sich wieder entfernten, ohne jemandem ein Haar gekrümmt zu haben).

Mein Leben ist voll von kleinen Geschichten, die helfen, die große Geschichte besser zu verstehen, sich überhaupt ein Bild von ihr zu machen, was allem Verstehen vorausgehen muss. Ihm, Reich-Ranicki, kann sich jeder anvertrauen, der durch diese Schreckensjahre geführt werden möchte. Und dass sein Buch gerade in Deutschland so viele dankbare Leser gefunden hat, das war für den Autor vielleicht doch der größte Triumph, das größte Glück.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt mit geringfügigen Änderungen das Vorwort zu dem 2005 bei dtv erschienenen und inzwischen vergriffenen Buch „Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Auswahlband für die Schule. Herausgegeben und kommentiert von Volker Hage“. Wir danken Volker Hage für das Angebot und die Genehmigung nur erneuten Veröffentlichung. Weitere Informationen zu Reich-Ranickis Autobiographie bietet u.a. unserer Internet-Portal Marcel Reich-Ranicki.