Deutsche Menschen

Christoph Heins Briefnovelle über Lessings letzte Tage

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Eingang seiner Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) zitiert Walter Benjamin aus dem berühmten Brief, den Lessing kurz nach dem Tode von Kind und Frau schrieb. Das war zur Jahreswende 1777/78. Genau da setzt Christoph Heins Erzählung Ein Wort allein für Amalia ein. Es ist eine Briefnovelle, eine Novelle als Brief. Die Verfasserin des Briefs ist Maria Amalia, Lessings Stieftochter aus zweiter Ehe. Es geht um die letzten Wochen Lessings in Braunschweig vor seinem Tod am 15. Februar 1781. Hein beherzigt offenbar das, was Benjamin vorschwebte: den Geist zurückzuerobern, mit dem das Bürgertum seine aufgeklärte Position errungen hatte.

Denn es ist ein lakonischer, neugieriger Geist, den Christoph Hein da zum Sprechen bringt. Aber die Sachlichkeit, mit der die Briefverfasserin ihre Erlebnisse mit Lessing aufschreibt, schließt die Liebe zu ihm nicht aus – es finden sich darin durchaus Vaterliebe und Verehrung. Sie versorgt den nach einem Stickfluss schwer Erkrankten und besorgt seine Korrespondenzen. Vor allem hört sie ihm zu. Und wird so zu seiner ersten Biographin. Christoph Hein hat das maßgeschneidert in die Rollenprosa der verwitweten Posträtin vernäht, die Maria Amalia Henneberg, als sie den Brief verfasste, im Oktober 1842 war, also rund 60 Jahre nach Lessings Tod.

In ihrem Brief wird ein skeptischer Aufklärer profiliert, kein Nationalautor oder Chefintendant, sondern ein Ideen- und Theaterkünstler. Lessing, so wie es seine Stieftochter aus ihrem Tagebuch rekapituliert, zieht zum Lebensende eine recht kritische Bilanz seines Lebens: über die Berliner Jahre, den verpassten Anschluss an den Königshof und den dort zeitweise logierenden Voltaire, über die „Spitzfindigkeiten der Theologie und Philosophie“, über den Wolfenbütteler Bibliothekar, dem der Schriftsteller Lessing geopfert wurde, über Spinoza und über sein letztes ungeschriebenes Fragment Der Derwisch, eine geplante Fortsetzung des Nathan-Dramas. Lessings Leben wird in Amalias Brief zur Geschichte vieler Hoffnungen und Enttäuschungen. Geldschulden kommen vor (Lessing war ein passionierter Glücksspieler) und, immer wieder, das reformreife Theater in Deutschland: „Es war da nichts zu erfahren als Dummheiten. Nichts als Verdruss und Unkosten.“ 

In solchen Äußerungen steckt natürlich das „Teufelchen des Paradoxen“, denn es war ja nicht so, als ob Lessing allen Grund gehabt hätte, über sein gescheitertes Autorenleben zu klagen; im Gegenteil, er hatte publizistischen Erfolg und war als Dramaturg der in Hamburg neugegründeten „Nationalbühne“ zu Lebzeiten zu Ruhm gekommen. Aber hier ist es ein im Siechtum geistesstarker und ironiefähiger Mensch, den Hein in Amalias Worten sprechen lässt, messerscharf und selbstkritisch, selbst wenn er halluziniert: „Er spielte mit den Fingern auf der Bettdecke und begann zu singen: ‚Wenn ich kein Geld zum Saufen hab, so geh und schneid ich Besen ab.‘“  

Gerne hätte man etwas mehr von der Briefempfängerin gehört, Margarete Blount, einer Enkelin von Lessings Freund Alexander Daveson. Am Anfang lässt Hein seine Briefschreiberin sagen, dass sie „um des Andenkens“ ihres Stiefvaters willen schreibt. Aber es bleibt bei diesem Teaser. Amalias Worte kommen aus einer Aufklärung, die an ihren Zweifeln gewachsen und gereift ist. Es sind letztlich wohl auch die Worte Christoph Heins, der in seinen letzten Publikationen immer wieder mit seinem theatralen Erbe und seiner Rolle als „Chronist ohne Botschaft“ gehadert hat. Dann wäre in diesem fabelhaften Brief, der eine geliehene Biographie aus geringstmöglicher familiär-sozialer Distanz erzählt, vielleicht doch eine späte Botschaft des Chronisten versteckt.

Titelbild

Christoph Hein: Ein Wort allein für Amalia.
Insel Verlag, Berlin 2020.
85 Seiten , 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783458194798

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