Ein Herrenhaus in Reichenbach
Hans Joachim Schädlich entwirft in „Die Villa“ das Leben der Bewohner eines Hauses als exemplarische deutsche Geschichte
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseReichenbach im Vogtland, Heinsdorfer Straße 36 – zwischen April 1940 und August 1948 lautet so die Adresse der bis zum Tod des Hausherrn sechsköpfigen Familie Kramer. Eine hochherrschaftliche Villa, errichtet 1890, zweiflügeliges Parktor, geschwungene Auffahrt zu dem imposanten Gründerzeitbau, ein verwunschener Park auf der Südseite des zweigeschossigen, von einem breiten Rundweg umschlossenen Gebäudes, „Rhododendron auf der Nordseite“. Hans Kramer hat das Anwesen im Herbst 1939 entdeckt, Mitte 1940 ist die Familie aus dem westlich der Kleinstadt gelegenen Oberheinsdorf, in dem das sechs Jahre alte Einfamilienhaus für die beständig wachsende Familie langsam zu eng geworden war, hierher umgezogen.
Man konnte es sich leisten. Der Wollkaufmann, der Anfang der dreißiger Jahre in die gutgehende Firma seines Schwiegervaters eingetreten war, arbeitete sich dort schnell ein. Nicht zuletzt seine Parteimitgliedschaft in der NSDAP, der er bereits seit Ende 1931 angehörte, verschaffte ihm Kontakte, die er zur Ausweitung der Geschäfte zu nutzen verstand. Als Ortsgruppenleiter fährt Hans Kramer eine standesgemäße Benz-Limousine, organisiert die Festumzüge am 1. Mai und will für seine vier Kinder – drei Knaben und ein Mädchen – nur das Beste. Letzteres ist auch ein Grund für den 1940er Umzug, da man die Kinder in Reichenbach problemlos aufs Gymnasium schicken kann.
Mit Die Villa hat der 1935 in Reichenbach geborene Hans Joachim Schädlich mit der für ihn typischen Lakonik einen Roman verfasst, der zwei Jahrzehnte deutscher Geschichte – von der Vorkriegszeit in den 30er Jahren bis zur Mitte der 50er Jahre der Nachkriegszeit – anhand des Schicksals einer Familie und ihrer Beziehung zu einem Ort beschreibt. Zwischen ein und fünf Seiten lange, chronologisch geordnete Textabschnitte strukturieren das Buch. Ihr Formenspektrum reicht von Anekdoten aus dem Leben einzelner Familienmitglieder über Gesprächsprotokolle und Zeugenaussagen bis hin zu verknappten Informationen über politische Ereignisse, die sich jenseits der kleinen Welt der Villa abspielen. Die schmucklose, protokollarisch knappe Sprache, in die gelegentlich Regionalismen einfließen, unterdrückt konsequent jegliche Emotionalisierung.
Unter dem Strich entsteht so der Eindruck, Familien- und Weltgeschichte hätten nur wenige Berührungspunkte. Elisabeth Kramer, die Mutter, erreichen die Ereignisse jenseits der Villa allein über die gelegentlichen Berichte ihres Mannes. Dass ein jüdischer Gymnasiallehrer über Nacht verschwindet, dessen Haus und Grundstück an einen verdienten Parteigenossen fallen, der dann auch mit dem alten Opel des bei seinen Schülern beliebt gewesenen Philologen umherfährt, bringt die Kramers nicht zum Nachdenken über das Schicksal dieses Menschen und all der anderen Reichenbacher Juden unter dem NS-Regime. Genauso ungerührt wird der Tod von Elisabeths Bruder Fritz, der unter Schizophrenie leidet und dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer fällt, hingenommen.
Lediglich der sich ausweitende Krieg beunruhigt die Familie zunehmend. Zum ersten Mal muss der zu diesem Zeitpunkt schon schwerkranke Hans Kramer nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion die den gesamten Kriegsverlauf wie einen familiären Refrain begleitende Frage seiner Frau, ob man sich denn nun um die eigene Zukunft zu sorgen habe, mit dem Satz beantworten: „Jetzt müssen wir Angst haben.“
Der Fabrikant wird das Ende des Krieges allerdings nicht mehr erleben. 1943 erliegt er einer angeborenen Herzkrankheit. Ein Jahr später muss Elisabeth Kramer die Villa verkaufen und wohnt ab da mit ihren vier Kindern zur Miete im Obergeschoss. Nachdem das Land Sachsen im August 1948 Eigentümer geworden ist, beziehen die fünf Kramers schließlich eine Wohnung in der Stadt. Elisabeth hat inzwischen einen neuen Lebenspartner gefunden. Mit ihm und ihrer Tochter Thea zieht sie 1950 – die beiden ältesten Söhne haben inzwischen den Haushalt verlassen, Paul, der jüngste, bleibt noch für ein halbes Jahr bei den Großeltern in Reichenbach, um die Schule zu beenden, ehe er Mutter und Schwester folgt – nach Bad Saarow um, weil der Ingenieur in der Nähe des Kurorts im Brandenburgischen eine neue Stelle antritt. Erst im hohen Alter will Elisabeth die Villa ein letztes Mal sehen, die, nachdem sie im Anschluss an die deutsche Wiedervereinigung mehrmals den Eigentümer gewechselt hat, im Jahr 2008 endgültig abgerissen wird.
Hans Joachim Schädlichs Roman trägt deutlich autobiographische Züge. Im jüngsten Sohn der Kramers, Paul, mit dem die Mutter in ihrem achtzigsten Lebensjahr noch einmal in dessen Geburtsstadt fährt, um zu sehen, was aus dem fast ein Jahrzehnt ihrer Familie gehörenden herrschaftlichen Anwesen geworden ist, hat sich der Autor selbst porträtiert. Pauls Kindheitserinnerungen nehmen deshalb auch mehr Raum ein als die der übrigen drei Geschwister. Dass er nicht ganz so erwünscht war wie seine beiden älteren Brüder, merkt der Junge übrigens schon früh. „Nach Georg und Kurt sollte es jetzt ein Mädchen werden. Aber es wurde wieder ein Junge, Paul. Paul war völlig überflüssig“, zitiert Schädlich einen Ausspruch der Mutter. Deshalb lässt man dem Kind die Haare lang wachsen und steckt es in Mädchenkleider, bis die Geburt der einzigen Tochter zwei Jahre später, 1938, den Knaben erlöst.
In dieser wie in anderen im Buch nicht mehr als skizzenhaft ausgeführten Episoden findet sich im Kleinen, was auch für das generelle Verhältnis der Kramers zu ihrer Zeit und Welt gilt. Man schwimmt im Strom einer Gegenwart mit, in der jenseits der das Familienleben beherbergenden Villa die größten Verbrechen geschehen. Allein das Leben der sechs Familienmitglieder wird davon kaum tangiert. Und wenn beunruhigende Nachrichten in die Villa gelangen, tut man sie schnell ab. Dass im benachbarten Plauen die Synagoge abgebrannt ist, ohne dass die örtliche Feuerwehr Anstalten machte, sie zu löschen, und die Grabsteine auf dem dortigen jüdischen Friedhof umgeworfen und beschmiert wurden, kommentiert die Mutter mit dem lapidaren Satz: „In Reichenbach gibt es keine Synagoge und keinen jüdischen Friedhof. “
Alltag unter einem totalitären System bedeutet für die Kramers, mitzumachen und zu profitieren, wo es möglich ist, statt Widerstand zu üben. Nicht nachzufragen, wenn in der Außenwelt Beunruhigendes oder Empörendes passiert, sondern hinzunehmen und den Mund zu halten. Hauptsache das eigene Leben läuft weiter in den gewohnten Bahnen. Es ist der alltägliche Faschismus, den Schädlich in Die Villa am Beispiel seiner Erinnerungen an die eigene Familie beschreibt. Die Kramers sind Durchschnittsmenschen, wie es in ihrer Zeit Millionen gab. Und das menschenverachtende totalitäre System, unter dem sie leben, stützt sich nicht zuletzt auf jene vielen, die Dinge als gegeben hinnehmen, wogegen sie sich eigentlich als Menschen wenden müssten.
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