Geschichtsträchtige 400 Meter

Irina Liebmann begibt sich in „Die Große Hamburger Straße“ auf eine sehr poetische Spurensuche

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer sehr alten Straße in Berlins Mitte hat die Autorin Irina Liebmann ihr jüngstes Buch gewidmet: Die Große Hamburger Straße, die von der Oranienstraße bis zur Auguststraße reicht. Entstanden ist sie als Hamburger Straße im Rahmen der Entwicklung der Spandauer Vorstadt. 1737 wurde sie in die Große Hamburger Straße und Kleine Hamburger Straße aufgeteilt. Und obwohl man in der alten Mitte Berlins viele Straßen begradigte oder verschob und ihre Häuser durch Abriss oder Bomben zerstört wurden, die Große Hamburger Straße ist immer noch da. Allerdings ist „groß“ sicherlich als Bezeichnung eher deplatziert, misst die gesamte Straßenlänge doch gerade mal 400 Meter. 

Dass es sich dennoch lohnt, über eine so kurze Wegstrecke ein Buch zu schreiben, liegt an deren besonderer Geschichte. Auf engstem Raum fand hier über zwei Jahrhunderte hinweg in gegenseitigem Respekt jüdisches, protestantisches und katholisches Leben statt. Die Bewohner wohnten friedlich zusammen. In den Hinterhöfen sorgten Werkstätten und Handwerksbetriebe für den Lebensunterhalt. Einige der alten Gebäude, wie etwa das katholische Hedwig-Krankenhaus, sind immer noch da. Andere, wie das jüdische Krankenhaus, gibt es nicht mehr – ebenso wenig den jüdischen Friedhof, an dessen Ort sich nun ein kleiner Park befindet, oder das jüdische Altenheim, das die Nazis als Sammellager für die Transporte in die Vernichtungslager umfunktioniert hatten. Nicht nur die fehlenden Gebäude haben in der Großen Hamburger Straße einige Lücken hinterlassen: Was vor allem fehlt, ist ein Großteil ihrer früheren Bewohner, die nach Auschwitz und Theresienstadt geschickt wurden.

Dieser schrecklichen Leere, die der furchtbarste Teil deutscher Geschichte in dieser einst so toleranten Straße hinterlassen hat, spürt Liebmann in ihrem jüngsten, sehr persönlichen Buch Die Große Hamburger Straße nach. Es verwundert dabei ein wenig, dass sie es als „Roman“ bezeichnet. Hier wird keine fiktive Geschichte erzählt, vielmehr verwischt die Autorin die Grenzen zwischen autobiographisch Erlebtem, historischen Fakten sowie in Interviews recherchierter Alltagsgeschichte und fügt alles collagenhaft neu zusammen. Diese Form der Spurensuche und der Annäherung an die Straße ist nicht gerade leicht nachzuvollziehen. Zwar zeichnet Liebmann eine sehr genaue Beobachtungsgabe aus, dennoch kann sich der Leser mitunter nicht sicher sein, ob sie gerade ihren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lässt oder tatsächlich Geschehenes beschreibt. Die extrem sprunghafte Erzählweise mit den plötzlichen Gedankenblitzen, die sie einfließen lässt, ist zwar reizvoll, aber auch anstrengend.

Zur Verwirrung trägt zudem ein steter Wechsel der Zeitebenen bei. So begleiten wir die Autorin nicht nur 2015 auf ihren Wegen durch die Straße, sondern gelangen immer wieder dank der umfangreichen Notizen, die sie bei früheren Recherchen gesammelt hat, zurück in die DDR der 1980er Jahre. Damals sammelte sie in den Häusern Stoff für ihre Bücher, indem sie einfach an Türen klingelte und die Bewohner über ihr Leben erzählen ließ. 1982 entstand daraus ihre preisgekrönter Band mit dokumentarischen Erzählungen Berliner Mietshaus über ein Haus am Prenzlauer Berg. Mit intensiven Haus-zu-Haus-Recherchen begann dann 1983 auch ihre tiefe innere Verbindung zur Großen Hamburger Straße, die sie nie mehr loslassen sollte. Im vorliegenden Buch greift sie diese Vergangenheit oft auf und nimmt den Leser mit in die Stiegenhäuser, Höfe und Wohnungen, um Handwerkern, Ladenbesitzern oder einsamen alten Damen zu lauschen, die jeweils ein Quäntchen Wissen zum einstigen Leben in der Straße beizutragen haben. Gemeinsam mit ihr trifft man auch Bekannte von früher am Stammtisch des jetzt einzigen Cafés am Ort wieder. Die sind zwar längst in den Westen gezogen, kommen aber – ebenso wie die Autorin – immer wieder hierhin zurück und sinnieren mit ihr gemeinsam bereitwillig über frühere Zeiten.

Wo immer Liebmann ihre persönlichen Erinnerungen und die Erzählungen der Befragten um kenntnisreiche Fakten aus alten Stadtplänen, Kirchenbüchern, Adressbüchern und Bauplänen ergänzt, fügen sich die einzelnen rätselhaft wirkenden Collagenfetzen des Buches zu interessanten Zeitpanoramen zusammen, die durchaus für die mitunter etwas mühseligen anderen Passagen entschädigen. Wer sich also auf den fast schon lyrischen sprunghaften Stil einlässt, erlebt so Irina Liebmanns ganz persönliche Sicht auf „ihre Straße“. Ob man aber nach der Lektüre tatsächlich nachvollziehen kann, warum sie diese 400 Meter in der Mitte Berlins nie in Ruhe gelassen haben, mag jeder für sich entscheiden.  

Titelbild

Irina Liebmann: Die Große Hamburger Straße.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
240 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783895612589

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