Musik im Dienst der Politik?

Facetten der Kulturpolitik werden in „Musik eröffnet Welten“, herausgegeben von Ronald Grätz und Christian Höppner, sichtbar

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum!“ Dieses sentenziöse Bekenntnis äußerte der sprachartistisch begabte, exzentrische Denker Friedrich Nietzsche. Leidenschaftlich, plakativ und bisweilen eher wuchtig als sensibel äußerten sich Literaten und Philosophen gestern und heute über Musik. Die emphatische Schwungkraft der elaborierten Festrede kann mitunter nicht die philiströse Haltung verbergen, die jenen zu eigen ist, die Musik entweder bloß genussorientiert vernehmen oder mit emotional aufgeladenen bis anschauungslosen Prädikaten wie „ergreifend“ oder „genial“ ausstaffieren. In der Vor-Corona-Zeit des kulturellen Lebens hierzulande konnte öffentlich bezeugt werden, dass auch unbemerkte handwerkliche Spielfehler in einem Konzertsaal jubelnd beklatscht werden. Von der Technik der Intonation, vom Handwerk der Musik wird in diesem ambitionierten, vorwiegend kulturpolitisch ausgerichteten Band nichts berichtet.

Ein breites Spektrum an Autoren – darunter etwa der Medienmanager Dieter Gorny, der Sänger Sebastian Krumbiegl und der Philosoph Wolfgang Welsch – zeigt Perspektiven des kulturellen Austauschs und der internationalen Verständigung auf, die durch Musik begünstigt werden können. Insoweit seien den Herausgebern wie den Mitwirkenden gute, ja die besten Absichten zugestanden. Doch ist Musik wirklich ein „Kommunikationsmittel“? Höppner und Grätz schreiben im Vorwort des Bandes:

Angesichts der Gräben und neu errichteten Grenzen im innergesellschaftlichen und internationalen Dialog, des Machtverlusts von Staaten, der Veränderung der Naturen und Strukturen von Konflikten, des gefühlten Verlusts von Sicherheiten scheint es sinnvoll, nach alternativen Wegen der Kommunikation und Selbstvergewisserung sowie einer neuen Prognosefähigkeit für gelingende Zukunftsgestaltung zu suchen, um Verständigung auch mit Menschen zu ermöglichen, die tatsächlich oder vermeintlich anderer Gesinnung sind. […] Musik kann dazu beitragen, Gemeinschaft zu stiften und damit Grenzen zu überwinden – auch und gerade dann, wenn die Sprache nicht hinreicht und der Dialog die nötige Nähe nicht herstellt.

Indessen stiftet auch der Mannschaftssport eine solche Gemeinschaft, sodass eine Form der Verständigung auf dem grünen Rasen spielerisch möglich wird – etwa wenn begabte Fußballakteure, die verschiedenen Kulturen und Nationalitäten angehören, miteinander in einem Team zusammenspielen. Sie sprechen vielleicht nicht dieselbe Sprache, aber sie spielen dasselbe Spiel. Ist Musik aber eine Art Hochleistungssport? Es geht, wie bemerkt, in diesem Band um gelingende Kulturpolitik, in der Musik nicht Selbstzweck, sondern ein taugliches Mittel zu sein scheint. J. P. Singh legt nüchtern dar: „Die Herausforderung der Kulturpolitik besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und anderen Bewertungsaspekten zu finden. Die Notwendigkeit von Kunstförderung als Bereich der Kulturpolitik kann zwar zum einen mit einer Unfähigkeit der Künstler begründet werden, die notwendigen Finanzierungsmittel auf den Märkten zu beschaffen, sie kann zum anderen aber auch damit gerechtfertigt werden, dass es darum geht, den Künstlern neben der materiellen Freiheit auch den ideellen Freiraum zu geben, Kunstwerke überhaupt zu schaffen.“ Wer würde dem nicht zustimmen? Indessen darf auch diskutiert werden: Musik mag sehr schön sein, ist aber objektiv vollkommen überflüssig – und vielleicht darum unverzichtbar, weil ihre Bedeutung nicht quantifiziert werden kann. Singh aber behauptet: „Die Fähigkeit der Musik, sowohl bestehende Bedeutungen zu repräsentieren als auch zu verändern sowie neue Bedeutungen hervorzubringen, ist wichtig, und eine intelligente Kulturpolitik sollte beides fördern. […] Musik ist nicht nur Überlieferer von Bedeutungen, sondern hilft, neue Bedeutungen zu schaffen. […] Es gibt immer ein neues visionäres Lied zu singen!“

Zu Appellen mögen sich Politiker berufen fühlen. Musiker singen, spielen Instrumente, spielen miteinander, dirigieren und hören zu. Vor allem üben sie. Sie brauchen keine Visionen, sondern Noten. Künstler komponieren, weil sie komponieren, ungeachtet aller guten Absichten, die andere hegen mögen. Kira Alvarez spricht davon, dass die klassische Musik mit „starken politischen Botschaften umrahmt werden“ könne. Auf diesem Weg entstünden „Symbole des internationalen Dialogs“, die „Sensibilität für Vielfalt“ werde gefördert. Als Beispiel genannt wird Sir Yehudi Menuhin. Der Geiger war politisch aktiv – sehr lobenswert –, aber nicht deswegen schätzen heute noch Hörer weltweit die Einspielungen seiner Konzerte. Oder doch? Alvarez schreibt: „Menuhin konnte möglicherweise vor allem deshalb nach Kriegsende in Berlin so erfolgreich sein und soviel Gehör finden, weil er ein jüdischer Musiker war, der nach dem Holocaust in Deutschland auftrat.“ Hätte aber Menuhin nicht in Deutschland konzertiert, so wäre er als Violinist nicht weniger bedeutsam gewesen.

Auch Shain Shapiro wirbt für die politische Kraft der Musik, die einen „emotionalen Zustand“ auslöse, „in dem all das, was wir denken und tun, um uns voreinander zu schützen, uns abzugrenzen und abzuschirmen, überschritten wird“: „Lassen Sie uns also die Musik stärker in die internationale Politik einbringen. Es wird unser aller Leben verbessern.“ Feierlich äußert sich Verena Metze-Mangold: „Musik ist die schönste Form der Freiheit: ein Medium der Verständigung und Wahrnehmung über Grenzen hinweg, des sinnlichen Zugangs zu lokaler Identität und ästhetischer Vielfalt. Musik ist eine universelle Sprache, eine geteilte kulturelle Ausdrucksform und gemeinsames Menschheitserbe. Musikalisches Erinnern trägt zur Förderung von Frieden und zur Völkerverständigung bei.“

Im Zentrum dieses Buches scheint unbestritten eine ehrenwerte Absicht zu stehen, die aber doch – und das scheint jeder Kunstform sinnwidrig zu sein – faktisch der Musik einen Zweck zuweist, der ihr nicht innewohnt. Wenn Musik tatsächlich eine „Form der Freiheit“ ist, dann muss sie auch nicht kulturpolitischen Erwartungen genügen. Wolfgang Welsch nennt die Musik die wahre „lingua franca“ der Gegenwart und weist ihr humanistische Absichten zu. Wohltuend nüchtern und beschreibend dagegen äußert sich Sebastian Krumbiegl: „Dass Musik eine internationale Sprache ist, die über Lands- und Kulturgrenzen über Sprachbarrieren hinweg ihre Wirkung entfalten kann, ist ein alter Hut.“ Detlef Diederichsen wagt sogar eine kontroverse These aufzubringen:

Musik – vor allem aber nicht nur instrumentale Musik – ist beliebig instrumentalisierbar. So wenig gemeinsames Musizieren echte Verbindungen schafft, die über das Künstlerische hinausgehen, so wenig gemeinsame Musikerlebnisse verhindern, dass die Protagonisten am nächsten Tag aufeinander losgehen (wie etwa auf dem Jugoslawien-Krieg breit dokumentiert), so sehr lassen sich banale wie hochkomplexe Kunstwerke für finstere Zwecke dienstbar machen.

Diederichsen weist realistisch daraufhin, dass Musik nicht säkular verklärt werden sollte, auch wenn sie vielleicht – wie der Religionssoziologe Detlef Pollack schreibt – Menschen verzaubere. Warum ist das so, warum könnte das so sein? Pollack spricht von einer „besonderen Rationalität“, die Gefühle auslöse, „die wir ansonsten nicht hätten, eine bestimmte Logik, die wir wiederholt sehen möchten und die in Form von melodischen Motiven, Rhythmen und Harmoniefolgen auch tatsächlich immer wiederkehrt, eine eigentümliche Struktur, die sich kumulativ verstärkt und durch Variation, Modulation und Abweichung zwar herausgefordert werden kann, in der Regel letztendlich dann aber doch immer wieder gefestigt wird.“ Musik verfüge nicht über einen „Universalitäts- und Letztgültigkeitsanspruch“, sie sei – anders als Religion – „in ihrer Form und ihrem Inhalt bescheidener und zugleich unbestimmter“. Musik spreche unmittelbar an oder stoße ab: „In der Musik sind wir im Wesentlichen Empfangende, Erlebende, Mitfühlende …“ Auch das ist ein wenig vereinfacht gedacht, aber darüber könnte immerhin diskutiert werden.

Für kulturpolitisch Interessierte ist dieser Band lehrreich, für Musikliebhaber und musisch begabte Menschen ernüchternd und enttäuschend. Der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher warb 1799 in den Reden über die Religion dafür, dass diese von Übergriffen anderer Disziplinen gelöst werden müsse und dass ihr eine „eigene Provinz im Gemüte“ zukomme. So wie Religion wird Musik oft instrumentalisiert. Vielleicht darf Musik, ebenso wie Religion, einfach nur sein – niemandem untertan. Die Liebe zur Musik ist voraussetzungslos. Ein Mensch liebt, weil er liebt. Die Liebe öffnet Perspektiven, aber sie will nicht für beliebige Zwecksetzungen instrumentalisiert werden – denn Liebe ist Liebe. Niemand muss sich dafür rechtfertigen.

Titelbild

Ronald Grätz / Christian Höppner: Musik öffnet Welten. Zur Gestaltung internationaler Kulturbeziehungen.
Steidl Verlag, Göttingen 2019.
240 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783958295261

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