Wenn der Reiseleiter verschwindet
Annette Pehnts „Alles was Sie sehen ist neu“ beginnt als Reiseroman und ändert dann plötzlich die Richtung
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Tochter reist mit ihrem in die Jahre gekommenen Vater einmal jährlich an ein Ziel, das er sich aussuchen darf. In Italien, Kanada, Spanien, Schottland und Tasmanien ist man bereits gewesen. Nun ist das asiatische Kirthan – ein Fantasieland, in dem freilich vieles an China erinnert – an der Reihe. Wie immer reist man in einer kleinen Gruppe nach genau festgelegtem Plan und mit dem Ziel, Kultur, Land und Leute kennenzulernen oder um – wie im Fall des hochgebildeten Vaters der Ich-Erzählerin – sein lange vorher erworbenes, ebenso umfangreiches wie detailliertes Wissen über das Reiseziel an der Realität zu überprüfen. Man vertraut sich einem Reiseleiter an, der hier den Namen Nime trägt – „Nime hatte […] die Stimme eines Märchenerzählers, flüsterte von Kurtisanen und Erntetagen, Verbrennungen und Himmelsrichtungen und dem Mittelpunkt der Welt“ –, und steigt täglich nach dem Hotelfrühstück in einen kleinen Bus, der die Touristengruppe zu Sehenswürdigkeiten wie dem „Tempel der Ewigen Freundlichkeit“ oder dem „Zentrum der Macht“ bringt.
In seinem ersten von insgesamt neun Teilen ist Annette Pehnts Roman Alles was Sie sehen ist neu eine klassische Reiseerzählung. Eine Gruppe von sich nach und nach kennenlernenden Touristen überlässt sich einem bisher unbekannten Land mit allen Sinnen, fotografiert sich durch exotische Szenerien, vergleicht das Fremde mit dem aus der Heimat Bekannten und klammert sich ans Vertraute, wenn die gewonnenen Eindrücke gar zu sehr vom Gewohnten abweichen. Allein wenn der zweite Teil des Romans plötzlich nicht nur 29 Jahre früher – nämlich 1990 – spielt und der Handlungsort eine dörfliche Schule ist, in der zwei Lehrer in Erwartung eines Inspektors ihre Eleven bestmöglich vorbereiten, wird klar, dass Annette Pehnt mehr vorhat, als ihre Leser lediglich auf eine Reise in ein exotisches östliches Land mitzunehmen.
Von nun an steht nämlich der spätere Reiseleiter Nime im Mittelpunkt. Aus der Sicht eines Lehrers, der an der autoritär geführten Dorfschule unterrichtet – die Schüler bekommen beim Schuleintritt Nummern verpasst und nur bei denjenigen, die sich intellektuell aus der Masse hervorheben, spielt später auch der Name eine Rolle –, erlebt man ihn zunächst als Schulanfänger, in den seine Erzieher schnell große Hoffnungen setzen.
Denn in einem Staat, in dem (Unter-)Ordnung, Disziplin und die Bereitschaft, sich jederzeit für die Gemeinschaft aufzuopfern, als Primärtugenden gelten, hat man auch als Lehrer Pläne zu erfüllen. Nime fällt von Beginn an mit seiner Gabe auf, durch Erzählungen – gehörte, gelesene, aber auch erfundene Geschichten, Rätsel, Zeitungsnachrichten und Witze, die er auf lebendige Art und Weise wiedergibt – ein Publikum vollkommen in seinen Bann ziehen zu können, ohne dass er es willentlich darauf anlegen würde. Doch als er seine Fähigkeiten vor dem kontrollierenden Inspektor demonstrieren soll, weigert er sich und wechselt wenig später sogar die Ausbildungsstätte.
Die anschließenden Abschnitte verfolgen den Lebensweg des schon als Kind außergewöhnlichen Menschen weiter. Als Erzählerin tritt zunächst seine spätere Frau Malu auf. In vier weiteren Episoden wird der Leser von Nimes Mutter, von einer Lehrkraft an der Tourismus-Akademie, an der er zum Reiseleiter ausgebildet werden soll, von einem Mann, mit dem er sich sechs Jahre später in einer Massenunterkunft für Wanderarbeiter anfreundet sowie von einer Frau, die Pehnts Helden in der Funktion eines Hausmeister erlebt, über weitere Lebensstationen der Figur unterrichtet.
Teil sieben schließlich kehrt zur Geschichte der deutschen Reisegruppe vom Anfang zurück. Allein die Reisenden müssen plötzlich ohne ihren Reiseleiter auskommen. Hat Nime die ersten beiden Reisetage, unterstützt von dem ebenfalls die deutsche Sprache beherrschenden Chauffeur Joe, noch damit verbracht, über die offensichtlichen Widersprüche, die das Leben in seiner Heimat prägen, hinwegzureden und konsequent das Neue in den Fokus zu rücken – Annette Pehnts Romantitel spielt genau darauf an –, dienen die Teile 2 bis 7, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und einen Zeitraum von einem knappen Vierteljahrhundert umfassend, vor allem dazu, diese allein für Touristen „erfundene“ Sicht auf das asiatische Land zu relativieren. Denn alles Neue in diesem Kirthan, das sich nur zu gern als gut gerüstet für eine Zukunft darstellt, die hier schneller als anderswo Gestalt annehmen soll, ist hart erkauft durch radikale Brüche mit dem Überlieferten, was vor allem die in bitterer Armut lebende Landbevölkerung hart trifft, die jenseits der rasch in den Himmel aufsteigenden Metropolen wohnt.
Nun, am Morgen von Tag 3 der Reise, erscheint der eloquente Cicerone jedenfalls gar nicht mehr – der Grund für sein Fehlen wird in Kapitel 9 nachgeliefert und soll hier nicht verraten werden –, was den hochgebildeten Vater der Erzählerin aus Teil 1 zu dem Vorschlag verleitet, für den Einheimischen einzuspringen. Weil er sich freilich auf sein asiatisches Abenteuer mit Hilfe eines Reiseführers aus dem späten 19. Jahrhundert vorbereitet hat, ist es nicht das von Nime präferierte neue, sondern „das alte Kirthan“, in das er seine Mitreisenden zu führen gedenkt. Doch das, worauf sich die Gruppe freut an diesem dritten Tag – „all die Jahreszahlen, die Herrschergeschlechter und Götterdynastien, Epochen und Kriege, die Liebschaften und Feindschaften der Höfe und die Formen der Vasen, Farben der Dächer und Säulen, die Mosaike in den Palästen und alle Himmelsrichtungen des Landes“ – bekommt man letzten Endes doch nicht zu sehen, weil Joe, der Fahrer, sich weigert, die Verantwortung für eine Gruppe von Touristen zu übernehmen, die sich ihr eigenes Bild von der Fremde machen will.
Alles was Sie sehen ist neu ist ein klug komponierter Roman, der, nachdem man sich geraume Zeit – Kapitel 1 nimmt etwa ein Drittel des Gesamttextes ein – inmitten eines fiktiven Reiseberichtes wähnt, plötzlich seinen Fokus verrückt und über sechs kleine Episoden die problematischen Verhältnisse in einem jener asiatischen Staaten in den Mittelpunkt rückt, deren sprunghafte wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten nicht allen Bevölkerungsschichten im gleichen Maße zugutekam.
Die sich verschärfenden Gegensätze zwischen Stadt und Land, Tradition und Moderne, Armut und Reichtum, Individuum und Gesellschaft, die hinter diesen kurzen Einblicken in die Lebensstationen eines Einzelnen aufscheinen, machen deutlich, dass es jenseits des Bildes, das die einheimische Tourismusindustrie allen das Land Bereisenden zu vermitteln sucht und deren antiquiert-exotischen Vorstellungen von der Fremde, in die sie sich aufmachen, noch ein anderes Kirthan gibt.
Das aber bleibt Annette Pehnts Touristen verschlossen. Nur die Leser ihres Romans nehmen am Ende ein wenig mehr mit als dessen Figuren und dürfen schließlich sogar noch einen Reiseleiter Nime erleben, der sich tief vor jenen verneigt, deren tagtägliches Erleben ganz andere Erzählungen produziert als die, mit denen er die ihm anvertrauten Touristen unterhalten muss.
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