In den Grenzbereichen der Wirklichkeit

Hari Kunzru spannt in seinem neuen Roman „Götter ohne Menschen“ einen Bogen über mehr als zwei Jahrhunderte

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem neuen vielschichtigen Roman stellt der britische Schriftsteller Hari Kunzru die Frage nach den Dingen zwischen Himmel und Erde, die wir Menschen noch nicht und vielleicht niemals verstehen werden. Wie schon in White Tears führt er die Leser dabei in Grenzbereiche der Wirklichkeit.

Im Mittelpunkt der Erzählung stehen Jaz und Lisa Mathur, die mit ihrem autistischen Sohn in die kalifornische Mojave-Wüste fahren, um ihrem schwierigen New Yorker Alltag zu entkommen. Der vierjährige Raj hat die Beziehung der beiden durch seinen Autismus auf eine harte Probe gestellt und gleichzeitig kommt es zwischen dem Paar und ihren Eltern zu unterschwelligen kulturellen Konflikten – denn Jaz war „im Herzen noch immer ein typisches Einwandererkind, immer auf der Hut vor sozialen Bananenschalen.“ Bei einem Wüstenausflug verschwindet Raj urplötzlich in der Nähe der „Pinnacles“, dreier Felssäulen, die emporragen „wie die Tentakel eines Urtiers, verwitterte Fühler, die sich in den Himmel bohrten.“

Es sind diese Pinnacles, die die rund ein halbes Dutzend Erzählstränge in Götter ohne Menschen über die Jahrhunderte hinweg verbinden – angefangen bei einem Missionar im 18. Jahrhundert, der die Indianer in dieser Gegend zu bekehren versucht, über einen Ethnologen und einen ehemaligen Atombomber-Mechaniker, der Signale an die Außerirdischen sendet bis hin zu einer Hippiekommune, die sich hier später ansiedelt und sich alsbald von ihren Utopien verabschieden muss: „Finsternis schlängelte sich durch das Lager, breitete sich zwischen den Menschen aus und sorgte für Streit“.

Zur gleichen Zeit als Raj verschwindet, hält sich auch ein bekannter britischer Rockmusiker dort auf, der in einer Schaffenskrise ist und sich seinen Frust von der Seele säuft. Er gerät als erster in Verdacht, den kleinen Jungen entführt zu haben – bis später die Eltern selbst ins Fegefeuer der Verdächtigungen und Verleumdungen kommen.

Auf mehr oder weniger geheimnisumwitterte Art verbindet Hari Kunzru diese ganz verschiedenen und fast eigenen Novellen gleichenden Erzählstränge miteinander. Facettenreich handelt er dabei große Menschheitsthemen wie Krieg, Rassismus, Religion, Forschung, Utopien oder auch unsere digitalisierte Wirtschaft ab – denn Jaz Mathur hat bei einem Hedgefonds an der Programmierung eines intelligenten Robots mitgearbeitet, der die Börsenbewegungen nicht nur antizipieren, sondern auch manipulieren und so für Börsencrashs sorgen kann. Aber auch die ganz alltäglichen zwischenmenschlichen (Beziehungs-) Probleme, die Suche seiner Protagonisten nach Sinn, Erfüllung und Erkenntnis entfaltet Kunzru auf packende Weise.

Verbunden sind die disparaten und als Ganzes nur teilweise funktionierenden Erzählstränge durch eine mythische oder auch mystische Grundierung. Im Kern steht die Frage nach der vermeintlichen Entzauberung und grundlegenden Verständlichkeit der Welt. Doch wahres Wissen, so erfahren wir, „ist das Wissen um Grenzen“ und es geht darum „zu begreifen, dass im Herzen der Welt, hinter, jenseits, über und unter allem, ein Geheimnis liegt, das wir nicht durchdringen sollten.“

Titelbild

Hari Kunzru: Götter ohne Menschen.
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2020.
432 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783954381173

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