Ein kräftiges Augenreiben

Matthias Politycki schickt in „Das kann uns keiner nehmen“ einen Helden nach Afrika, um die eigenen Widersprüche kennenzulernen.

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Traum zerplatzt in einem roten Punkt tief unten im Krater des Kilimandscharo. Der kultivierte Hamburger Hans hat sich auf ein einsames Gipfelabenteuer gefreut – doch da ist schon ein anderer, erst noch ein vulgärer Bayer. Der politisch korrekte Hans und der spaßige Tscharli begegnen sich als völlig gegensätzliche Charaktere, doch auf dem Berg sind sie aufeinander angewiesen.

Matthias Politiycki ist ein weitgereister Autor, der für seine Roman tief in fremde Welten eindringt: im Roman Der Herr der Hörner (2005) ist es Kuba, in Samarkand, Samarkand (2013) das unwirtliche Timurgebirge an der Grenze von Usbekistan und Tadschikistan. Die unbekannte Topographie wird zum Spiegel für den Autor, der seine persönlichen Erfahrungen in Gestalt seiner Protagonisten Broder Broschkus oder Alexander Kaufner literarisch transformiert. Sie stecken fest im Widerspiel von Freiheit und Tourismus, Respekt und Hochmut, Offenheit und Angst. Gegenüber der anderen Kultur bleiben sie Deutsche, gerade auch da, wo sie sich demütig zu geben versuchen.

So kann sich auch im neuen Roman der Hamburger Hans nicht dem Zwiespalt zwischen politischer Korrektheit und liberaler Herablassung entziehen. Allein schon die Vorstellung, allein eine Nacht im gespenstisch stillen Kilimandscharo-Krater zu verbringen, ist eine plumpe Illusion. Schließlich bezahlt er einheimische Helfer dafür, dass sie ihn beim Unternehmen begleiten. Für diese Begleiter ist die Nacht im Krater kein Abenteuer, sondern eine Begegnung mit ihren zornigen Göttern.

Das kann uns keiner nehmen beschreibt einen fundamentalen kulturellen Clash vor dem Hintegrund einer innigen Verbrüderung von zwei Deutschen: der eine der krachredende Tscharli aus dem oberbayrischen Miesbach, der andere der feingeistige Schriftsteller Hans, der sehr auf politische Korrektheit hält und sich gleich vorneweg verbietet, dass Tscharli das Wort „Neger“ in den Mund nimmt. Während Broschkus (in Der Herr der Hörner) und Kaufner (in Samarkand, Samarkand) allein unterwegs sind, bilden Tscharli und Hans ein ungleiches Duo, das die gegenseitige Abneigung auf einem fünftägigen Trip durch die tansanische Hauptstadt Dar es Salaam und die Insel Sansibar allmählich überwindet und zu einer ungewöhnlichen Männerfreundschaft findet. Ihr Vertrauen beweisen sie einander, indem sie sich gegenseitig eine unglückliche Liebesgeschichte erzählen, die mit Afrika zu tun hat und erklärt, warum sie überhaupt hier sind. Beide haben noch eine Rechnung mit dem Kontinent offen. Während Tscharli einer verpassten Sansibar-Reise mit Kiki nachtrauert, die kläglich an Krebs verstarb, sucht Hans seine Niederlage am Kilimandscharo auszubügeln, die er vor zwanzig Jahren erlitt, als er mit seiner Freundin Mara durch Ostafrika reiste und dabei schwer erkrankte.

Aus dieser Konstellation erhellt sich, was Matthias Politycki im Sinn hat. Auf den ersten Blick mag die Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Leben oberflächlich anmuten, ja vielleicht sogar anmaßend. Tscharli äußert rassistische Sprüche in einem kindischen Spaßsuaheli, während das „Hornbrillenwürschtl“ Hans mit steifem Ernst politische Korrektheit und gutes Englisch einfordert. Allein, mit seinem Humor und seiner Offenheit gewinnt Tscharli die Herzen seiner afrikanischen Begleiter. Es ist dieser Dreh, der Polityckis Roman auszeichnet. Die kolonialistische Herablassung ist nicht da, wo wir sie vermuten: bei Tscharli. Vielmehr erweist sich die Rechtschaffenheit des gutmeinenden liberalen Europäers als ein falsches Korsett, solange es nicht von Empathie erfüllt ist. Genau dafür aber sind Moses, Solomon, King Charles empfänglich, deshalb lassen sie nichts auf Tscharli kommen, wie einer von ihnen bekräftigt: „Er gehört zur Familie“.

Der Ritt auf dem Motorrad durch Sansibar wird zur rite de passage. Sie führt bei Hans zur Einsicht, dass er sich lockern muss, wenn er verstanden und anerkannt sein will. Etiketten taugen im Grunde nichts. Und so ist es für Hans einerlei, ob Tscharli fortan „Afrikaner“ anstatt „Neger“ sagt, vielmehr zählt, dass er seinen Begleiter „ein paar Lockerungsübungen“ lehrt. Dieser reagiert seine Verlegenheit mit einer rituellen Geste ab, indem er die Brille in die Stirn schiebt und sich die Augenhöhlen massiert, „bis sie schmerzten“. Die Wirklichkeit ist so, wie er sie sich vorstellt, zugleich ganz anders.

Tscharli weiß, dass reden immer hilft, selbst in prekären Situationen. Wer kommuniziert, setzt sich auseinander – doch „wenn es still wird in Afrika, wird’s‘ gefährlich“. Dieser Moment des Innehaltens, bevor etwas losbricht, erinnert an ein anderes Buch von Politycki. Im Band Das Schweigen am andern Ende des Rüssels (2001) hält jede der 19 Reisegeschichten auf einmal den Atem an und für einen Moment wird alles „sehr still“.  So auch in der längsten Erzählung „Tag eines Schriftstellers“, als nachts um 3 Uhr 04 das Herz des Vaters zu schlagen aufhört und Stille eintritt – eine entsetzliche Stille, die für den Erzähler das Fundament all seiner Erzählungen erschüttert. Darauf spielt auch dieser Roman an, in solchen Momenten wird auch Tscharli leise.

So schwankt Polityckis Prosa beständig hin und her zwischen kolonialistischen Vorurteilen und postkolonialistischer Abgrenzung, um nach und nach eine andere Wahrheit zu zeigen: die Freundschaft, das Lachen, in dem sich eine lebenslustige Form des Respekts manifestiert. Wo liegt die Wahrheit? Politycki enttarnt einen Kolonialismus der Gerechtigkeit, der Respekt vor Empathie setzt. Bei aller Lustigkeit seines Protagonisten Tscharli macht er immer deutlich, dass hier einer schreibt, der diese Metaebene nie aus dem Blick verliert. Afrika ist die Folie für eine Auseinandersetzung mit europäischen Gewissheiten und Verhaltensweisen dem Fremden gegenüber. Der korrekte Hans bleibt distanziert respektvoll, wogegen sich der quirlige Schwafler Tscharli nur allzu gern auf ein lustvolles Palaver mit den Einheimischen einlässt. Doch, auch darüber lässt Politycki keinen Zweifel, die Sache ist hochgradig ambivalent und brisant.

Der kranke Tscharli will von Europa nichts mehr wissen, weil er da weder eine Bleibe noch Freunde hat und bloß an erlittene Demütigungen erinnert wird. Hans dagegen sucht in Ostafrika die Tilgung einer Schuld. Die Reise mit Mara quer durch Ostafrika war von Beginn an ein Irrsinn. Zum einen war der europäische Reiseveranstalter heillos überfordert, zum anderen geriet der Trip in Burundi in die grausamen Wirren zwischen Hutu und Tutsi. Hans verletzte sich am Knie und benötigte ärztliche Hilfe, die es kaum geben konnte. In einem der wenigen Spitäler hielt er sich lieber an einen weißen Arzt, obwohl gerade der ihn mit einem gefährlichen Infekt wieder entließ. Vertrauen in einen schwarzen Arzt hätte ihn gerettet. So aber war es Mara, die ihn aus dieser Hölle heil nach Europa zurückbrachte, wo er nach europäischen Standards gesund gepflegt wurde. Doch die Beziehung brach auseinander. Mit der Besteigung des Kilimandscharo will er diese Schmach tilgen, um erst allmählich zu gewahren, dass seine Rettung damals in den chaotischen Wirren nur möglich war, weil er als Weißer Privilegien genossen hatte.

Darum geht es. Matthias Politiycki führt keine postkolonialistische Debatte, sondern veranschaulicht literarisch die Tücken unserer eigenen Sicht auf Afrika, das durch oberflächliches Wohlwollen nicht verstehbar wird. Tscharli macht es ihm vor, wie sich einer mit Haut und Haar auf diese Kultur einlassen kann, obwohl er ein Fremder ist. Während Hans sich beständig die Augen reibt, sagt ihm Tscharli, der sich auf den Tod krank glaubt, worum es geht: „Wenn’s drauf ankommt, sind sie alle da“. Das ist Afrika, denkt sich Hans dazu, auch das.

Das kann uns keiner nehmen ist aber auch ein wunderbar erzähltes Buch, das einen großen Stilisten verrät. Es ist akkurat komponiert, souverän und mit sprachlich hoher Präzision erzählt. Politycki beschreibt mal zuspitzend, mal auslandend, aber immer mit Empathie, Witz und einer feinen Selbstironie. Selbst die kleinen Manierismen („Das ist Afrika“) haben darin zwingend ihre Rolle. So gelingt ihm der Spagat zwischen einer deutschen Männerfreundschaft und der afrikanischen Szenerie, in der sie spielt. Polityckis Sprache hält das aus. Er unterläuft die ausgestreuten Klischees und verortet sie in einer europäischen Optik auf den „schwarzen“ Kontinent, der hier Farbe gewinnt und Lebhaftigkeit. Tscharli erhält als Vermittler mitunter doppelbödig schwejksche Züge. „Wer nicht stolpert, gehe falsch“, tut er kund. Dem zuweilen lauten carpe diem schwingt jedoch stets ein melancholisches memento mori mit. Leben und Sterben trennt nur eine schmale Linie. Umso wichtiger sind Solidarität und Gemeinschaftssinn. Politycki beobachtet es genau und mit Respekt, nie anbiedernd, stets den europäischen Blick hervorhebend. Genau in diesem Sinn bietet der Roman ein gehäuftes Maß an Nachdenklichkeit.

Das kann uns keiner nehmen hält die Widersprüche aus. „Es war so leicht, einen Tscharli abzulehnen“, blickt Hans zurück. Seine engsten Freunde zeigten sich von diesem Tscharli derart angewidert, dass sie im Namen der Toleranz „so intolerant wie möglich“ wurden. Auch darum geht es hier. Die Perspektive des Romans bleibt dazu eine erklärtermaßen europäische, die in erster Linie die eigene Haltung kritisch reflektiert. Es ist genau das, was Matthias Politycki als europäischer Autor leisten kann.

 

PS: Zusammen mit dem Philosophen Urs Andreas Sommer hat Politycki unlängst ein Gespräch mit dem Titel Haltung finden (J.B. Metzler Verlag) herausgegeben. Darin besinnen sich zwei an Nietzsche geschulte Geister „aufs weltanschaulich ungebundene Fragen“ und beleben den „alten moralischen Imperativ“ Haltung finden wieder, indem sie ihre unterschiedlichen Standpunkte nicht glattreden, sondern ausdifferenzieren.

Titelbild

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
304 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455009248

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