Minimal kryptischer Krimi um Krypto
Mit „Der USB-Stick“ lotet Jean-Philippe Toussaint unter anderem die ganz realen Gefahren virtueller Technologie aus
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJean-Philippe Toussaint, Altmeister des „nouveau nouveau roman“, reaktivierte im Jahre 1985 mit seinem Roman-Erstling Das Badezimmer einen Gedanken von Blaise Pascal, der im Mai 2020 vielleicht aktueller sein dürfte als je zuvor: Das ganze Unglück der Menschen rühre „aus einem einzigen Umstand“ her, „nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können“ (Blaise Pascal: Gedanken). In seinem neuen Roman, 2019 im französischen Original erschienen, widmet sich Toussaint Blockchains und Kryptowährungen, deren oftmals nerdige Anhänger die Abgeschiedenheit ihrer Computerklausen großstädtischem Treiben vorziehen dürften, es sei denn, sie sind – so wie Jean Detrez, der Ich-Erzähler – als strategische Zukunftsforscher international unterwegs.
Nachdem Detrez, der bei der Europäischen Kommission in Brüssel arbeitet, ebendort den Vortrag „Is blockchain technology our future“ gehalten hat, treten zwei Männer an ihn heran und fragen, ob er Interesse daran habe, für BTPool Corporation, ihre Beratungsgesellschaft, tätig zu werden. Danach trifft er die beiden in regelmäßigen Abständen, sieht ab und an eine rätselhafte junge Frau in ihrer Begleitung und geht davon aus, dass BTPool Corporation vor allem eine juristische Beratung bei der Anschaffung von Mining-Maschinen benötigt. Denn zwischen China, einem außereuropäischen Lieferanten, und Bulgarien soll ein Geschäft angekurbelt werden. Bei einem Treffen in der Bar eines Brüsseler Hotels bitten die beiden Lobbyisten Detrez, ob er für ihr Unternehmen nach China reisen könne. Danach bemerkt er, dass die beiden einen USB-Stick verloren haben. Beim Blick auf die Dateien erregt insbesondere eine seine Neugierde, denn es scheint sich um den Quelltext für eine Mining-Maschine mit Backdoor zu handeln. So entscheidet sich Detrez dafür, auf dem Flug nach Tokio, wo er auf einem Futurologen-Kongress einen Vortrag halten soll, einen Zwischenstopp in China einzulegen.
In Dalian wird er zu einer Serverfarm gebracht, die 24/7 läuft, dabei aberwitzige Mengen an Strom verbraucht und dem Schürfen von Bitcoins dient. Nach einem offiziellen Abendessen nimmt Detrez allein ein Taxi zur Farm, lässt sich von einem jungen Angestellten die geheimnisvolle neue Mining-Maschine vorführen und zeigen, wie man qua Backdoor illegal Bitcoins abzweigt. Am nächsten Morgen wird Detrez‘ Macbook entwendet, auf dem sich nicht nur ein Gedächtnisprotokoll der Bitcoin-Aktivitäten, sondern auch der Vortrag für den Kongress befinden. In Tokio angekommen, notiert Detrez einige Stichpunkte, die er während seines Kongress-Beitrags stockend abliest. Niemand spricht ihn auf diese Blamage an, er selbst definiert sie als Teil einer dräuenden Katastrophe. Aus E-Mails von Mutter und Bruder erfährt er, dass es seinem Vater, schon lange Jahre an Krebs erkrankt, sehr schlecht geht. Daher bricht Detrez seinen Aufenthalt in Tokio ab. Er kommt in Brüssel an, als sein Vater bereits seit einigen Stunden verstorben ist.
Zumindest auf den ersten Blick scheint sich Jean-Philippe Toussaint in Der USB-Stick, so wie auch in den anderen Romanen der 2000er und 2010er Jahre, von seinen oftmals experimentellen Narrationen der 1980er und 1990er Jahre abgewandt zu haben. Stilistisch leuchten diese sehr spärlich mit Figuren der Reihung auf, so etwa, wenn der Protagonist rückblickend von der Hochzeit eines indischen Freundes berichtet und der Satz „Das waren sie also die Eurokraten“ als Dauer-Anapher wiederholt wird. Dabei entsteht der Eindruck, dass sich Toussaint mit leichten Ermüdungserscheinungen selbst zitiert.
Sehr frisch und innovativ hingegen wirkt sein Sujet, nämlich die „Domäne des Prospektiven“, wenn man ziemlich wörtlich übersetzt, was Toussaint in einem Interview im November 2019 äußert. Das Thema strategische Zukunftsforschung sei für ihn völlig neu gewesen, er habe sich für seinen Roman damit vertraut gemacht und dabei festgestellt, dass die Dimension der Blockchain sehr aktuell und noch geheimnisumwoben sei, so wie auch die Entstehung des Bitcoins im Jahre 2008.
Es ist nicht verwunderlich, dass sich die ersten Seiten des Romans wie eine kurze Einführung in die Futurologie lesen, garniert mit ein bisschen Namedropping, so etwa Gaston Berger, Peter Atkins oder Pierre Wack, bevor mit den Lobbyisten John Stavropoulos und Dragan Kucka „das Romaneske“ in seinen Text Einzug halte, wie Toussaint nicht nur im Interview sagt, sondern auch im Roman selbst. Stavropoulos besitze eine „romanhafte Gegenwart“, er sei einer „von denen, die im wirklichen Leben den Eindruck vermitteln, sich in einem Universum der Fiktion zu bewegen“. Mit dem expositorischen Touch auf den ersten Seiten seines fiktionalen Universums nähert sich Toussaint in erster Linie seinem zweiten Roman, Monsieur (1987), in dem Erwin Schrödingers Katzenexperiment und damit der Quantenmechanik eine zentrale Rolle zukommt. Physik und Philosophie, gleichermaßen Angelpunkte des gesamten Romanwerks, konstituieren ein zwar extrem weitläufiges, aber alles andere als beliebiges Themenreservoir, aus dem sich Toussaint sachkundig und gerne bedient.
Ob Jean Detrez autobiografische Züge trägt, ist an sich irrelevant. Es fällt jedoch auf, dass sich Toussaints Protagonisten mit zunehmendem Alter ihres Schöpfers zu entwickeln scheinen, sie schlichtweg erwachsen werden. In Der USB-Stick agiert ein gutsituierter, großbürgerlicher Protagonist. Aus seiner ersten Ehe hat er einen volljährigen Sohn, aus der zweiten ein neunjähriges Zwillingspaar. Von Diane, der Mutter der Zwillinge, die er wohl nie geliebt habe, wie er vor seiner Flugreise mutmaßt, ist er ebenfalls getrennt. Nun wohnt er allein in einem kleinen Appartement, wirkt sehr zielstrebig, sehr erfolgreich, sogar in sich ruhend, bis seine Welt Risse bekommt und in Dalian aus den Angeln gehoben wird. Er weiß, dass er sich auf ein rätselhaftes Unternehmen, kriminelle Machenschaften gar, eingelassen hat, von denen niemand erfahren soll.
Doch das, was als Kriminalgeschichte beginnt und eine Klimax mit dem nächtlichen Treffen rund ums Bitcoin-Schürfen erreicht, destilliert sich dann wieder ganz toussaint-typisch zur Fixierung auf den Protagonisten und auf seine Innenwelt. Die Ontologie des Romans gerät in Schieflage, als das Macbook gestohlen wird und Mining-Maschinen sowie Backdoors in den Hintergrund treten. Durch ein Schlupfloch, quasi eine Backdoor im Text, wird Jean Detrez zurückgeworfen auf seine Existenz. Er referiert nur unzureichend über den Bitcoin, die „dunkle Seite der Blockchain“, fühlt sich währenddessen vollkommen leer, kann seine Notizen nicht lesen, kann sich selbst nicht lesen. Er schaut sich dabei zu, wie er sich aus seiner gewohnten Welt hinauskatapultiert, wie er isoliert und „der allgemeinen Gleichgültigkeit“ ausgesetzt wird.
Mit Detrez‘ inneren Monologen, mit Unsicherheit und Ängsten, die sich in diesen spiegeln, bewegt sich Toussaint hin zu Monsieur und dem namenlosen Helden dieses Romans. Als er am Totenbett seines Vaters steht, erreicht die innere Spannung ihren Höhepunkt. Detrez ist sich Subjekt und Objekt in einem, denn er nimmt auf intellektueller Ebene die Gefühle wahr, die in der „ergreifenden Situation“ vorhanden sind. Er identifiziert sie, fühlt sie aber nicht, „und in dieser Nuance, in dieser winzigen Unterscheidung, erkannte ich eine Konstante meines Wesens, eine Steifheit, eine Ungerührtheit und eine Schwierigkeit, meine Gefühle auszudrücken, die ich schon immer hatte“. So endet der Roman und es ist offensichtlich, dass Stavropoulos und Konsorten genauso fallen gelassen wurden wie der USB-Stick. Zum Schluss dominiert „inquiétude“, nur sehr unvollkommen mit „Unruhe“ zu übersetzen und ein zentraler Begriff auch bei Pascal. Alle inneren Spannungszustände lassen sich mit diesem Terminus subsumieren. Es handelt sich um jene Unruhe, die Menschen auch dann erfasst, wenn sie nicht in einem Zimmer bleiben können.
„Inquiétude“ sei omnipräsent in seinem neuen Roman, so Toussaint selbst im erwähnten Interview. Sie begleitet das Thema der Kryptowährung, mit dem sich der Autor, so wie auch schon in früheren Büchern, in virtuelle Welten hineinbegibt, in Täuschungen, die unsere Alltagswirklichkeit eskortieren, und sei es nur in der fotografischen Abbildung, die Wirklichkeit ambivalent, als Spiegel und als Verzerrung in Einem erfasst. Der Photoapparat und Fernsehen führen Protagonisten vor, die in die Enge getrieben werden, destabilisiert so wie Detrez, dessen These, dass der Bitcoin ein gefährliches Produkt der Blockchain-Technologie sei, durchweg glaubwürdig vorgebracht wird. Dass Der USB-Stick in hohem Maße zu Toussaints eigenen Prätexten anschlussfähig ist, konkretisiert sich auch in der Vorliebe für geschlossene Räume – im ersten Roman das Badezimmer, in Der Photoapparat eine Telefonzelle. Mit dem Raub des Macbooks aus der Abgeschiedenheit einer Toilette heraus wird das Motiv des geschlossenen Raums auf eine Eskalationsstufe getrieben und gleichzeitig ad absurdum geführt.
Zu konstatieren bleibt abschließend die Dreidimensionalität der „inquiétude“: Als Macht, die den Protagonisten umtreibt, stellt sie existenzielle Fragen, unruhestiftend ist ebenso die Kriminalgeschichte über Kryptowährung, die schon allein deshalb kryptisch bleibt, weil sie nicht zu Ende geführt wird, was wiederum mit der generellen inquiétude, einem Unwohlsein rund um die zukünftigen Entwicklungen von Blockchain und Krypto korrespondiert.
Dass Der USB-Stick „packend wie ein Thriller“ und ein Buch sei, „das man bis zum Ende nicht mehr weglegen“ könne (Klappentext, Zitat aus EAN, Journal de la littérature), lässt sich wahrlich nicht bestätigen. Dass man aber in dem Text, gewohnt hervorragend übersetzt von Joachim Unseld, zum einen Basis-Informationen zu Bitcoin und Co erhält, zum anderen auf gewohnt gutem Toussaint-Niveau unterhalten wird, das lässt sich nicht bestreiten.
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