Post-kafkaeske Posse

In seinem Roman „Die Verwandelten“ führt Thomas Brussig vor, wie ein Waschbär medial inszeniert wird

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichten, die eine Metamorphose vom Menschen zum Tier beinhalten, gibt es zuhauf. Lässt man jene aus Mythen, Märchen, Fantasy und Sciencefiction außer Acht, so fällt der Blick schnell auf zwei Erzählungen und einen Roman aus dem 20. Jahrhundert, alle mit traditionell Todorovscher Grundstruktur des Fantastischen. Ein zumindest leicht degressives Deutungspotenzial ist ihnen zu bescheinigen: Während sich an Kafkas Verwandlung Generationen von LiteraturwissenschaftlerInnen und AbiturientInnen abarbeiten, sie sich dabei an Bekanntes erinnern und Neues entdecken, tendieren Ionescos Nashörner zu allererst in die Richtung der Kritik an der Massenhysterie der NS-Zeit. Marie Darrieussecqs Roman Schweinerei, eindeutig auf Kafka und Ionesco Bezug nehmend, kombiniert beides, unterlegt eine umstrittene feministische Aussage und bleibt stilistisch um Klassen weniger brillant als seine Vorgänger. Thomas Brussig wiederum vereint all diese Prätexte zu einem synkretistischen Ganzen; er bietet ein bisschen von allem und dann wieder nichts davon, wobei diese Aussage schon fast einem Resümee des Inhalts der Verwandelten gleichkommt.

An einem schönen Sonntagnachmittag im August 2023 gehen die beiden Jugendlichen Fibi und Aram in eine Waschanlage im mecklenburgischen Örtchen Seenot und kommen als Waschbären daraus hervor. Die beiden, zuvor ambitioniert im Drehen von recht absurden Lifehack-Videos, folgen einer Anleitung aus dem Internet, nach der ein Fünf-Beeren-Mix in Bärlauchblätter eingerollt sie zu Waschbären mutieren lassen könne. Während Fibi auch nach der Verwandlung noch des Sprechens mächtig ist und mit ihren Eltern, Hilmar und Wiebke Hüveland, er Bürgermeister der Gemeinde Bräsenfelde, sie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ausführlich kommuniziert, zieht sich Aram zu Hause an seinen Computer zurück und spricht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur während seiner nächtlichen Ausflüge mit Fibi. Holger Stein, Arams Vater, fährt dennoch mit seinem Trans-Spezies-Sohn in der Tasche zum Probespiel einer hochrangigen Jugend-Fußballmannschaft. Aram selbst ist sich da schon sicher, dass er sich niemals in einen Menschen zurückverwandeln wird. Fibis Vater, der seine Tochter eigentlich als Apfelkönigin von Bräsenfelde küren lassen wollte, fragt zwei Anwälte um Rat, um dem Urheber der Internet-Anleitung auf die Schliche zu kommen. Ebenso konsultiert er seinen Schwager Dr. Putensen, Arzt am Uni-Klinikum Greifswald. Bei einer Untersuchung lässt sich am Körper des Waschbärenmädchens nichts Menschliches mehr finden. Vom Verhalten her jedoch ist Fibi meistens Mensch. Sie benimmt sich wie ein Tier, wenn sie sich langweilt. Wenn ein Gespräch allzu fad wird, dann verwüstet und verschmutzt sie die Wohnung.

Als Fibi mit ihrer Mutter in Greifswald ist, wird eine Journalistin auf sie aufmerksam. Der erste Bericht über die sprechende Waschbärin in der Online-Ausgabe des Ostseekuriers ruft Fernsehsender auf den Plan. Hilmar Hüveland, juristisch beraten und nicht abgeneigt, ordentlich Reibach, insgesamt 10 Millionen Euro, mit seiner verwandelten Tochter zu machen, unterschreibt einen Knebelvertrag, der eine Phalanx von Kleinkameras und ebenso viele Fernsehleute in und um sein Haus bringt. Fibi und Bräsenfelde werden berühmt und was mit einem Gespräch mit Henning May von AnnenMayKantereit, von dem Fibi schon lange Fan ist, beginnt, endet damit, dass Fibi mit Ed Sheeran, ebenfalls Gast in Bräsenfelde, recht spontan nach London zieht. Von dort aus sollen fortan ihre Fernsehauftritte organisiert werden. Doch als der Hype um Waschbären die ganze Welt erobert hat, kippt er schnell ins Gegenteil. Dort wo das Amphitheater „Waschbärenbau“ entstehen sollte, ernten Wiebke und Hilmar kaum zu identifizierendes Grünzeug, mit dem sie einen Salat bereiten.

Thomas Brussig lässt seinen Roman vom 13. August 2023 bis Ende September 2026 spielen und dividiert ihn in drei Teile – vor, während, nach der „Waschbär-Mania“, so könnte man sagen. Zentral ist der zweite Teil, in dem die erzählte Zeit auf zehn Tage konzentriert und damit die Raffungsintensität relativ gering ist. Jedes Kapitel folgt der Perspektive einer anderen Figur. In diesem Potpourri mit wechselnd fokalisierendem, traditionell auktorialem Erzähler geben sich eine Reihe von stereotypisierten Charakteren ein Stelldichein. Allesamt laden sie zum Schmunzeln ein, obwohl sie jeder Differenzierung und Dimensionierung den Garaus machen. Die meisten dieser AkteurInnen tragen zudem derart blumige Namen, dass eine Anagrammatisierung und somit hermetisierte Onomastik unterstellt werden darf. Da ist Hilmar Hüveland, der nicht nur Bräsenfelde, sondern auch Nockau, Mühlbach, Heinerloh und Kudorf vorsteht, was mecklenburgische Provinz impliziert, die ohnehin manche Seitenhiebe abbekommt. Es nimmt nicht wunder, dass sich Hilmar in Berlin, wohin ihn die Suche nach dem Urheber der Internet-Anleitung verschlägt, nicht wohlfühlt, er mit dem „anglizistischen Dauerfeuer“ nicht klarkommt und die Stadt als Ansammlung von „Weltgesellschaftsfrondienstlern“ und „Rudersklaven auf der Globalisierungsgaleere“ disqualifiziert. Als „Waschbaerdaddy“ auf der Plattform „Gutefrage.net“ ärgert sich Hilmar über Userposts, die ihn als Wahnpatienten abstempeln.

Arams Vater Holger Stein ist erst recht ein schlichtes Gemüt. Er gefällt sich in Verbalinjurien der übelsten Sorte und verwechselt Netbreko schon einmal mit einer Moskauer Rolltreppe. Dr. Sören Putensen, der an der Uni Greifswald mit Dr. Andreas Panenka, Kreator der „Panenka-Diät“, um einen Lehrstuhl konkurriert, lässt es sich nicht nehmen, Fibi als Erster zu begutachten. Er möchte eine neuartige Anomalie beschreiben, die man vielleicht als „Human-procyon metamorphosis totale, kurz HPMT“ klassifizieren könne, besser aber noch „Putensen-Syndrom“ taufen solle. In Putensens Praxis verkehrt Marleen Pawloweit, die adipöse Carla Columna des Ostseekuriers, erfolglos auf Tinder, nun ihre Story witternd. Später wird sie mit dem pensionierten Juristen und digitalen Legastheniker Dr. Hagen Ahlert die Schaltzentrale des Bräsenfelder Waschbär-Imperiums managen.

Zur hochgradig invasiven Macht avanciert die Medienwelt mit der blonden und hübschen Heidi Walissa, deren Talent darin besteht „totgesagten Formaten neues Leben einzuhauchen“ und mit der „Walissa-Methode“ Fernsehsendungen „auf technisch höherem Niveau bei gleichzeitiger Absenkung des inhaltlichen Niveaus“ zu produzieren. Auf diese Weise sollen die Hüvelands eine normale und nette Fernsehfamilie werden, die eben nur einen sprechenden Waschbären als Familienmitglied habe. Die recht lange Anfahrt, die Heidi Walissa nach Bräsenfelde hat, lässt es vermuten, die Textbausteine aus den Dschungel-Camp-Verträgen bringen die Gewissheit darüber, für welchen Sender sie als Intendantin arbeitet.

All diesen knapp, aber treffsicher und trotz ihrer Plattheit scharfsinnig umrissenen Charakteren ist gemeinsam, dass sie nicht die verwandelten Individuen sehen, deren Tragik im Roman zu einem kaum vernehmbaren Basso continuo verkommt, sondern diese als Mittel zum Zweck, als Diener ihres eigenen Opportunismus heranziehen. Nur die beiden Mütter wünschen sich eine Rückverwandlung und sind empathisch, Wiebke nicht allein von Berufs wegen. Als ihre Tochter schon in London wohnt, versucht sie, sich als Therapeutin um Aram zu kümmern. Dieser jedoch lässt sich nicht auf die Behandlung ein. Lydia Stein ist neben den beiden Verwandelten die tragischste Figur, denn sie wird von Schuldgefühlen zernagt, weil Aram ein uneheliches Kind ist.

In kompositorischer und sprachlich-stilistischer Hinsicht versteht sich Thomas Brussig vor allem darauf, Situationen mit sprachlicher Komik und oftmals bitterem Nachgeschmack zu gestalten. Vor der Transformation bereits fällt auf, dass Aram ständig das Adjektiv „rabiat“ meistens als Adverb benutzt, er hat etwas „rabiat nicht gewollt“ oder „die Lösung ist rabiat einfach“. Solche Wendungen weisen ihn einerseits als typischen Jugendlichen aus, der aber andererseits keine gängige Sprache seiner Peer Group, sondern idiosynkratischen Slang verwendet. Aram bleibt in sich gekehrt und trifft sich, als Fibi weggezogen ist, nur mit anderen Waschbären.

Eine ähnliche Tragik, die einen in der situativen Komik hinterrücks überfällt, offenbart sich überdeutlich beim ziemlich abgehalfterten Humoristen Thomas Diederich. Hilmar Hüveland und seinen Anwalt empfängt er zuerst schwäbelnd als potenzielle Käufer seines Hauses, dann missinterpretiert er sie als Vertreter der Sendung „Verstehen Sie Spaß“. Vor dem Hintergrund dieser Annahme gibt er seine beiden Computer heraus und wartet danach vergeblich auf Guido Cantz. Dass diese Szene sich arg in die Länge zieht und mehr als andere isoliert vom Gesamtduktus des Romans dasteht, stört die Melange des Tragikomischen kaum.

Im Gegensatz zu Aram und seiner Familie überfällt Fibi, ihre Eltern und ihren achtjährigen Bruder eine außerordentliche Berühmtheit, die genauso schnell vergeht, wie sie gekommen ist. Die Velozität medialer Viralität hebt sie auf ein Podest, das ihnen die notwendige Höhe vor ihrem Fall verleiht. Fibi sinkt nicht nur metaphorisch, sondern auch in Ed Sheerans neuer Show, wo sie als „flying racoon“ von einem Stadiondach nach unten schwebt. Aber diese Tricks ziehen nicht mehr. Die Animosität der Familie aus Kafkas Verwandlung, so lässt sich unterstellen, wird in Die Verwandelten ersetzt durch die Gleichgültigkeit ehemaliger Fans, die kein Interesse mehr zeigen, wenn die Sensation nachlässt und das Besondere in das Alltägliche eingeht. Vor dem Verkauf der Trans-Spezies-Sensation an den Privatsender schärft Hagen Ahlert Fibis Eltern ein, dass sie im Kontakt mit den Medien nur einen Satz sagen dürften: „Am Abend des dreizehnten August, als unsere Tochter von einem ihrer sommerlichen Streifzüge zurückkehrte, hatte sie sich in einen Waschbären verwandelt“.

Die unübersehbare Parodie des Kafka-Inzipits stellt die Frage nach der Modalität der Bezugnahme. Nähe zu Kafka stellt sich auch insofern ein, als der Prozess der Verwandlung keine Rolle spielt. Gregor Samsa erwacht als Käfer, Fibi und Arams Verwandlung bildet ein zeitliches Vakuum von wenigen Sekunden auf dem Videofilm der Überwachungskamera. Sowohl Ungeziefer als auch Waschbären sind sich ihrer neuen Gestalt bewusst. Anders als Gregor Samsa fühlt sich Fibi, mehr als Aram, wohl damit, obgleich auch sie geistig und psychisch ein Mensch bleibt. Am Ende der Metamorphose ist eine fluide Kreatur zu sehen, die in Tiergestalt in eine kontinuierliche Prozesshaftigkeit eingeht. Fibi changiert weitestgehend nicht intentional vom Menschen zum Tier, womit sie die Kommunikationssituationen, in denen sie wechselt, als besonders platt identifiziert.

Die Verwandlung als Kick-Off des Fantastischen zerstört das Gewohnte, sie bildet den berühmten Todorovschen Riss in der Wirklichkeit. Fibi und Aram purzeln in das Waschbärendasein wie Harry Potter durch die Wand hin zum Gleis neundreiviertel, gehen in dieses ein wie die Kinder im Wandschrank bei C.S. Lewis. Ihr „magisches Messer“ (Ph. Pullman) ist der Beerenmix. So manifestiert sich auch eine große Nähe zu diesen Klassikern der Fantasy, obwohl in ihnen Gestaltwandlungen nicht zentral sind. Brussigs Paralleluniversum ist identisch mit der Zauberwelt der absoluten medialen Durchinszenierung, von der Mecklenburg zuvor verschont geblieben ist.

Nachdem sie von der Verwandlung eines Mädchens erfahren hat, spricht Heidi Walissa von „Factasy“. Damit liefert der Roman auch gleich das Rezept für die Konstruktion seiner fiktionalen Wirklichkeit. Brussig kreiert einen Fantasy-Ansatz, in dem letztendlich das Postfaktische gewinnt bzw. eine Gemengelage aus Fantasy und Postfaktischem. Diese persifliert mediale Inszenierung und das, was sie anrichten kann, woraus sich eine Parabel für eine post-post-moderne Gesellschaft ergibt, in der, egal wo man hinschaut, egal welches Mikro-, Meso- oder Makrosystem man gerade fokussiert, Gestalt immer über Gehalt triumphiert. Darüber hinaus parodiert Brussig einige Prätexte, ohne sie zu verballhornen. Eventuell kommt hier auch noch ein bisschen Pastiche ins Spiel, eine Stilübung in der Nachfolge von Kafka und Ionesco. In erster Linie jedoch ist der Roman ein großer Spaß mit ernster Grundierung, was insbesondere sein Ende unterstreicht.

Titelbild

Thomas Brussig: Die Verwandelten. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
328 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835336056

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