Im Rhythmus des Brunnens

Michael Krügers „Mein Europa“ begleitet den Autor auf seinen lyrischen Reisen

Von Jenny SchonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jenny Schon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist das Jahr, in dem das offizielle Europa den Verstand verloren hat. Der ganze Osten, von Deutschland über Polen, Ungarn, und Rumänien bis nach Russland versinkt in einem rechten autoritären Sumpf; in Spanien wächst der Hass zwischen Barcelona und Madrid; Italien wird von einer Koalition regiert, deren einzige gemeinsame Basis die Fremdenfeindlichkeit ist; auf dem Balkan hört der Streit nicht auf. Von Großbritannien und der englischsprachigen Welt will ich gar nicht reden. Es gibt in Europa Politiker, die das Ertrinken von Menschen in Kauf nehmen, solange sie nur nicht über die Landesgrenze kommen, und es gibt eine Reihe von Islamisten, die sich diese moralische Schwäche Europas zunutze machen.

So schreibt Michael Krüger im Nachwort zu seiner Sammlung Gedichte aus dem Tagebuch, die zwischen Ende 2017 und Anfang 2019 in Form eines Notizbuches entstand. Die Struktur des Bandes geben die Jahreszeiten vor – und Krügers Reise durch Europa. Von Zagreb über Bayern nach Odessa, das streunenden Katzen und der Madonna gehört. Es ist ein Europa der kleinen, stillen Orte, die ihn anziehen und die er oft frühmorgens aufsucht.

Schon das erste Gedicht mit dem Titel „Soglio“, nimmt dabei das Motiv des Brunnens aufdas immer wieder auftaucht – der Brunnen als ein Spiegel, ein Symbol des Hineinschauens, sich mit dem Licht des Tages verändernd.

Also soll das Buch sich
von selber schreiben,
im Rhythmus des Brunnens,
bis der Tag, müde geworden,
im Gras die Rede Gottes nachliest,
das aufmüpfige Gebet der Steine.

Es ist Herbst, und die Schatten sind lang, und einer sammelt die Schatten, und bewahrt sie für den Sommer, wo Schatten rar sind und überlebensnotwendig. Brunnen und Schatten sind Symbole des Südens, die Krüger beiseitelegt, für die Zeit, in der er seine Heimat in Alpennähe besucht, wo die Steine überwiegen.

Selbst die Steine am Donauufer
Dem Kitsch der leeren Stadt gegenüber,
haben zu viel Bedeutung, aber nachts,
im Gespräch mit dem eiskalten Wasser,
sind sie keiner höheren Ordnung untertan,
dann sind sie bloß Steine, wie wir.

Die uralten Steine, die Dolmen von Carnac besucht er mehrmals, und „Die Wolken, meine heimlichen Brüder, / hinterlassen einen flüchtigen Schatten / auf der Fassade des Hotels.“

Den Winter verbringt Krüger in der Schweiz, in den Bergen, zwischendurch in England und in Polen. Und immer wieder treibt es ihn nach München. Das Frühjahr naht.

Ich sah den Hirten, einen Tagverflucher,
dessen Schafe die ersten Blüten dieses Frühjahrs opferten.
Den Himmel sah ich wie ein unbeschriebenes Blatt.

Aber es gibt auch Niemandsland in Europa, wo man denkt, jeder Stein gehöre einem. Das ist das Land der Kinder, sie „spielen Verstecken / hinter den letzten Grabsteinen, / wo das Niemandsland beginnt“:

Hier liegt ein an Irrtümern
reiches Leben, ohne Stein.
Man muss sich begnügen
mit einem Grab, sagt die Frau,
dann reicht es für alle.
Sie trägt einen grauen Kittel,
einen Talar aus Asche,
der bis zu den Füßen reicht.

Immer wieder ist ein melancholischer Zwischenton zu vernehmen.

Ich habe nichts verbraucht.
Ich werde nichts zurücklassen,
es ist Zeit zu gehn.

Dieser verdichtet sich in der zweiten Hälfte des Bandes. So will das lyrische Ich in dem mit „Soglio“ beginnenden ersten Kapitel der Sonne noch sagen, sie solle stillstehen, um in aller Ruhe dem Sommer nachsehen zu können, dort oben in tausend Meter Höhe und höher noch. Im vorletzten Teil „Sommer“ kommt wieder „Soglio“ vor; die Sonne wird vom Mond vertrieben, der wie eine Schnecke eine Schleimspur zieht, und der Granit erzählt seine Geschichte der Ewigkeit, aber dann kommen die schrecklichen Geräusche der Säge.

Die Sonnenuhr schlug zwölf,
da war es Zeit, das Unglück zu erkennen, 
das am Abend auf mich warten würde,
wenn des Mondes Schneckengang begann.

Gleich im nächsten Gedicht „Nymphenburg“, da der Sommer erstarrt, folgt ein weiteres Unglück:

Lange war ich fast blind
auf dem rechten Auge,
so konnte der Tod sich anschleichen
wie die Natter im trockenen Gras.

Und in „München“ schließlich kommt es zum Zusammenbruch Europas. In „Lech am Arlberg“ ‚macht es dicht‘:

Am Fuß der Berge,
wo sich das Staunen spaltet,
kauern die Worte, zu keiner Erklärung bereit:
Europa macht dicht,
die Grillen warten auf Nebel.
Eine Frau aus Japan, zu klein
Für die riesige Landschaft,
hat ihren Hut abgenommen
und sammelt Sterne und Steine,
bevor die Nacht sie zernagt.

Der Band endet mit dem Herbst, mit dem er auch begann, der Kreislauf der Zeiten setzt sich spiralförmig fort – wie das Leben.

Als das Buch 2019 erscheint, ist Großbritannien dabei, das gemeinsame Europa zu verlassen, und wenige Monate später beginnt nun Europa – beginnt die Welt – sich noch grundlegender zu ändern. Die Menschen müssen wohl oder übel zusammenrücken, auch wenn das Coronavirus Abstand verlangt. Doch das gemeinsame Schicksal verbindet. Es könnte eine Hoffnung sein, vielleicht eine, die die Missstände, die Michael Krüger in seinem Nachwort anprangert, abschaffen hilft. 

Noch hat Europa bei Krüger nicht ganz dicht gemacht; für die kleine Japanerin ist in seinem Gedicht „Lech am Arlberg“ noch Platz. Die kleinen persönlichen Mosaiksteinchen, die er in dem vorliegenden Band zusammenträgt, in den Fugen voller Melancholie, formen sich trotz alledem zu einem Kontinent großer Kulturen: Europa. Und für diesen Kontinent gilt, wie es im letzten Gedicht heißt: „Wir wissen, dass wir Glück gehabt haben.“

Titelbild

Michael Krüger: Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch.
Haymon Verlag, Innsbruck 2019.
248 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783709934708

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