Ein Brückenbauer in Geschichte und Kultur

Nachruf auf den verdienstvollen Grazer Historiker und Ausstellungsmacher Gerhard Dienes (1953-2020)

Von Albrecht Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Götz von Olenhusen

Gerhard Michael Dienes, der Grazer Historiker und Ausstellungsgestalter, verstarb für alle überraschend im Februar 2020 in Graz, nur zwei Wochen vor der Eröffnung einer von ihm kuratierten Ausstellung des Grazer Universalmuseums Johanneum, an dem er seit 2005 tätig war. Zuvor hatte er als Leiter des Grazer Stadtmuseums (1990-2005) für großartige Ausstellungen, die weithin, lokal wie überregional und international beachtet wurden, und für bedeutsame historische und kunsthistorische Publikationen mit Vorbildcharakter gesorgt. Beim Universalmuseum Joanneum war er für Auslandsprojekte zuständig. Seine inhaltlich überzeugend konzipierten Ausstellungen galten in den letzten Jahren wichtigen Themen zu Schnittstellen in London, Rijeka, Triest, Istanbul, im Iran, in Frankfurt an der Oder und im Goethehaus in Frankfurt am Main.

Das Universalmuseum Joanneum hat Gerhard Dienes als einen großen Historiker gewürdigt, der in seinen Arbeiten wie kaum ein anderer verstand, Geschichte und Literatur zu verbinden und mit seinen Themen Brücken zu schlagen. Bereits in seinem Wirken am Grazer Stadtmuseum, das unter ihm zu einem modernen Museum hervorwuchs, zeigte er, dass es möglich ist, die bedeutende Grazer Stadt-, Kultur-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte in einen europäischen Zusammenhang zu stellen. Diese Ausstrahlungen weit über Graz hinaus mit seinen großangelegten, dauerhaften Projekten sind, wie mir scheint, nicht allenthalben hinreichend so anerkannt worden, wie sie es verdient hätten. Für den externen Beobachter seiner professionellen Wirksamkeit wurde stets die gradlinige, offenherzige und vorbehaltlose Vertretung seiner Standpunkte und Haltungen deutlich.

Als Gerhard Dienes in einem eindrucksvollen Vortrag über „Lager als Orte des Ausnahmezustands“ sprach, benannte er – 2016 anlässlich einer Tagung der Lübecker Erich Mühsam-Gesellschaft und der Internationalen Otto Gross-Gesellschaft – eben gerade die heutigen Flüchtlingslager als ein dominantes Thema: „Die Lager werden ein Thema in und nicht nur in Europa bleiben. Die Geschichte der Orte des Ausnahmezustands wird weiter geschrieben“ (Gerhard Dienes: Lager, in: Rassismus, Antisemitismus, politische Gewalt und Verfolgung. Hg. EMG, Lübeck, Red. J-W.Goette, A.Peters-Hirt, Lübeck 2017, 25-45).

Geschichte war für Gerhard, den politischen Denker, auch immer lebendige, von ihm sehr empathisch wahrgenommene Zeitgeschichte und eine Aufforderung zur Reflexion wie zum aktiven Handeln für Vertriebene, Verfolgte, Diskriminierte und gegen Antisemitismus und Rassismus in der Gegenwart. Mit welchem Engagement und mit welcher profunden Sachkenntnis Gerhard Dienes seine historische und ausstellerische Arbeit anging, konnte ich erstmals erleben, als er mit seinem Team im Grazer Stadtmuseum die große Ausstellung „Die Gesetze des Vaters. Hans Gross. Otto Gross. Sigmund Freud. Franz Kafka“ vorbereitete. Hinter dem Untertitel „Problematische Identitätsansprüche“ verbargen sich optische und wissenschaftliche Darstellungen über die literarischen, persönlichen und prozessualen Konflikte von Hans und Otto Gross als europäische Affaire, über Recht und Strafe, Revolte und Widerstand, Gesetz und Konflikt. Mit dieser weit über Graz und Österreich hinaus ausstrahlenden, noch heute als ein höchst bedeutsames Markzeichen und als konzeptionell und inhaltlich vorbildlich geltenden Ausstellung als ein Gesamt-Kunst-Werk in dem Jahr, in welchem Graz europäische Kulturhauptstadt war, trat Dienes gewissermaßen die genuine Nachfolge des großen Schweizer Ausstellungskünstlers Harry Szeemann an. Sie zeigte in effigie und symbolisch einflussreiche Akteure, die sich mit der Figur des Vaters politisch und privat beschäftigten und an der Schwelle zum Jahrhundert sich mit radikalen Veränderungen in Politik, Kunst und Gesellschaft aus zum Teil sehr divergierenden Richtungen befassten. Für Dienes stand dabei stets eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit solchen und anderen zentralen Themen im Beziehungsgeflecht von Literatur und Politik, Psychoanalyse und Kriminologie, Emanzipation und historisch wie aktueller Rechtsentwicklung im Vordergrund (vgl. Gerhard Dienes/ Ralf Rother, Hg.: Die Gesetze des Vaters. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003).

Der glücklichen, von Gerhard Dienes initierten Kooperation mit der Internationalen Otto Gross-Gesellschaft und der Karl Franzens-Universität Graz war es zu verdanken, dass anlässlich seiner Ausstellung auch der 4. Internationale Otto Gross-Kongress in Graz vom 24.-26.10.2003 mit einer Riege internationaler Forscher die jüngsten Ergebnisse der Wissenschaft zu Hans Gross, dem großen Grazer Kriminologen, und Otto Gross, seinem umstrittenen Sohn und Psychoanalytiker, mit allen ihren divergierenden Thesen und Themen vorstellen konnte (siehe dazu Gerhard Dienes: Der Mann Moses und die Folter der Maschine. Konzeptionelle Gedanken zur Ausstellung. In: Götz von Olenhusen/ Gottfried Heuer, Hg.: Die Gesetze des Vaters. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2005, 151-164).

Es folgten in diesem und anderem Kontext noch eine Fülle weiterer Projekte, Vorträge, Ausstellungen, an denen Gerhard Dienes maßgeblich beteiligt war. In Erinnerung ist z.B. auch sein Vortrag „Über Otto Gross, die Kunst und ihre Zentren“ bei dem vor allem von Werner Felber 2008 in Dresden organisierten Gross-Kongress „Psychoanalyse und Expressionismus“ (erschienen in dem von Werner Felber u.a. herausgegebene Tagungsband „Psychoanalyse & Expressionismus. 7. Internationaler Otto Gross Kongress“, Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2010, 238 ff.). Gerhard Dienes gehörte auch zu denen, die im Interesse der Stadt Graz und seiner Institutionen die Verbindungen aufrecht erhielten zu anderen Einrichtungen wie etwa der von Hans Gross begründeten, jetzt von Stefan Pollak in Freiburg edierten Zeitschrift „Archiv für Kriminologie“ und zum Gross’schen Kriminalmuseum, jetzt geleitet von Christian Bachhiesl, Universität Graz, und zu den rechtshistorischen und kriminologischen Arbeiten zu Hans Gross und seinem Umfeld von Thomas Mühlbacher, Graz.

So wie eine große Ausstellung im Freud-Museum in London zu Hans und Otto Gross sein Werk war, so wurde sein Projekt unter dem schönen Titel „Sherlock’s Onkel“ in Frankfurt (Oder) ein überregional und international hoch beachtetes Ereignis. Diese von ihm kuratierte Ausstellung des Universalmuseums Joanneum, des Hans-Gross-Kriminalmuseums Graz unter Mitwirkung von Gernot Kocher und des Rostocker Kleistmuseums visualisierte das Leben von Hans und Otto Gross im Kontext einer kritischen Betrachtung von Kriminalwissenschaften, Rassenkunde und der zeitgenössischen Wissenschaft über „abweichendes Verhalten“ zwischen Liquidierung, Deportation oder dauerhafter Verwahrung. Mit Texten, Bildern, Fotos, Archivalien und eindrucksvollen Darstellungen der Lebensläufe von Protagonisten wurden hier auch die weltweiten künstlerischen und literarischen Ausstrahlungen der Werke von Hans Gross lebendig. Was Hans Gross an Criminalia bis 1915 in Graz sammelte, erarbeitete, erforschte, wurde zu Vorlagen und Inspirationen für Conan Doyle, Franz Kafka oder Simenon, und es war Gerhard Dienes zu verdanken, dass er zudem den verblüffenden Einfluss von Otto Gross auf zahlreiche bedeutende Literaten, Dichter und Künstler des Expressionismus von Kafka über Franz Jung, Karl Otten, J.R. Becher, Leonhard Frank bis Franz Werfel aufzeigte. Mit dieser zusammen mit Gerhard Kuebel gestalteten Exposition knüpfte Dienes an seine vorangegangenen Ausstellungen zu ähnlichen oder vergleichbaren Themen in Graz, Rijeka und London an. Er hatte die unvergleichliche Begabung, an „verborgene Tradition“ (Hannah Arendt) zu erinnern, Bestände der Forschung, der Kunst, der Literatur produktiv aufzugreifen und sie mit österreichischer, deutscher und europäischer Geschichte zu verbinden.

Es kann in diesem Nachruf nicht die Fülle seiner glänzenden Publikationen zur Kunst-, Literatur-. Kultur- und allgemeinen Geschichte vorgestellt oder auch nur in Teilen gewürdigt werden. Sie ist wie seine Persönlichkeit Teil der Grazer Stadtgeschichte, aber auch der internationalen Geschichts-, Kultur- und Kunstwissenschaft in ihrer besten Tradition. Seine Publikationen und Ausstellungen wurden zu Vorbildern, als neuartige Produktionen und innovative Konzepte inspirierend und oftmals nachgeahmt.

Aus der sehr engen, vertrauensvollen und intensiven Zusammenarbeit im Interesse von Tagungen und Ausstellungen u.a. in Graz, Zürich, London, Wien, Dresden, Frankfurt, Malente und bei der Kooperation für Publikationen wurde uns allen, den Freunden von Gerhard Dienes, die ich durch ihn in mehr als zwanzig Jahren kennenlernte, und mir immer offenbar, mit welcher uneigennütziger Leidenschaft und mit welchem Einsatz er die für Graz, die Steiermark und für die österreichische Geschichte wichtigen Projekte im In- und Ausland zu vertreten und zu gestalten wusste. Dabei verband sich seine produktive Unruhe und sachlich-freundschaftliche Teamfähigkeit mit der ganz unaufdringlichen, im Hintergrund stets deutlichen tiefen Kenntnis der unterschiedlichsten Materien und zudem mit einem sehr menschlichen, zutiefst humanistischen Geist und Verständnis für handelnde Persönlichkeiten, ihren historischen Background und Kontext.

Gerhard Dienes‘ subtiler Witz und hintergründiger Humor, der sich, wenn ich das vielleicht richtig empfunden haben, immer auch mit Anflügen von Melancholie und der Tendenz zur Gelassenheit selbst in schwierigen Konfliktlagen, aber auch mit leidenschaftlichen Überzeugungen und präzisen Stellungnahmen in Diskussionen oder in Konflikten verknüpfte, machten ihm vieles leichter, waren aber auch die Basis für die vielen Freundschaften, die er im Laufe seines allzu früh beendeten Lebens begründete.

Als Forscher, Ausstellungsmacher, als liebenswerte, stets für neue Projekte und Pläne mit Fantasie und phänomenalen Ideen und Konzeptionen bereite Persönlichkeit, als hoch begabter Musiker und Ausstellungskünstler, als musischer Mensch par excellence wird er allen, die ihn über viele Jahre hinweg erleben durften, unauslöschlich im Gedächtnis bleiben.