Der fast Unvergessene

Der Tagungsband „Die ‚Utopie des Alltäglichen‘“ – eine dankenswerte Würdigung von Nicolas Borns (1937–1979) Leben und Werk

Von Dorothée LeidigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothée Leidig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 1970er Jahren gehörte Nicolas Born zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren seiner Generation. Als er 1979 mit nur 41 Jahren einem schweren Krebsleiden erlag, hinterließ er neben seiner Ehefrau Ingrid Born und drei Kindern ein vielseitiges literarisches Werk. In seiner kurzen Schaffenszeit hat Born drei Romane, vier Gedichtbände, ein Kinderbuch und eine große Menge Essays, Radiosendungen und Rezensionen vorgelegt. Dazu kommen Übersetzungen, Herausgeberschaften und nicht zuletzt seine Tätigkeit beim Rowohlt-Verlag als Mitherausgeber des einflussreichen Literaturmagazins.

Born wurde 1937 in Duisburg geboren, lernte den Beruf des Chemigrafen, lebte und arbeitete später in Essen – und war froh, als ihm 1965 ein Stipendium des Literarischen Colloquiums den Umzug nach Berlin ermöglichte. Er hat das Ruhrgebiet „nie verstanden“, wie er von sich selber sagte. Umgekehrt hat das Ruhrgebiet offenbar auch ihn nicht verstanden, ja, nicht einmal seine große Bedeutung für die Literatur wahrgenommen. Anders als im Wendland finden sich im Ruhrgebiet kaum Spuren einer Erinnerungskultur an Nicolas Born. Die posthume Verleihung des Literaturpreises Ruhr im Jahr 2007 ist eine der wenigen Ehrungen, die Born in seiner Heimatregion zuteilwurden. Im viel kleineren Wendland, wo er sich 1973 mit seiner Familie niederließ und sich neben seiner schriftstellerischen Arbeit gegen das geplante Atommüllendlager in Gorleben engagierte, gibt es dagegen eine Nicolas-Born-Stiftung und zwei Nicolas-Born-Preise, außerdem sind eine Schule und eine Bibliothek nach ihm benannt.

Dank des Engagements einer Handvoll LiteraturkennerInnen des Ruhrgebiets wie etwa Gerd Herholz (langjähriger Leiter des Literaturbüros Ruhr), Jan-Pieter Barbian (Direktor der Stadtbibliothek Duisburg) oder Erhart Schütz (Professor für Neuere Deutsche Literatur) fand im April 2019, in Borns 40. Todesjahr, die Tagung Die Utopie des Alltäglichen. Nachdenken über Nicolas Born in Duisburg statt. Der Einladungstext umreißt das Ziel der Veranstaltung: „Die schönste Erinnerung an Nicolas Born ist die Beschäftigung mit seiner Literatur im Kontext der 1960er und 1970er Jahre. Die Tagung möchte den hinterlassenen Spuren nachgehen, indem sie zum einen zusammenträgt, was bislang an Erkenntnissen zum lyrischen, erzählenden und essayistischen Werk Nicolas Borns vorliegt, zum anderen neue Fragen an dieses Werk und seinen Autor vor dem Hintergrund einer bewegten Zeit stellt.“

Noch im gleichen Jahr 2019 erschien der Band Die ‚Utopie des Alltäglichen‘ mit sämtlichen Tagungsbeiträgen sowie drei ergänzenden Aufsätzen. Auf gut 300 Seiten werden Leben und Werk Nicolas Borns unter verschiedenen Gesichtspunkten äußerst gehaltvoll beleuchtet. Grob kann man die Beiträge in vier Gruppen einteilen: Auseinandersetzung mit einzelnen Werken, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, Borns Freundschaften und Auseinandersetzungen mit SchriftstellerkollegInnen sowie der Nachlass seines Werkes.

Den Anfang des Reigens macht – nach J.-P. Barbians Einführung – Werner Jung mit dem Aufsatz Wellershoff, Born und die Kölner Schule. Jung zeigt die Situation der jungen Literaturszene in der „Normalität im Windschatten der Geschichte“ Anfang der 1960er Jahre auf. Die jungen Autoren – Frauen tauchen als Literatinnen in diesen Kreisen fast nicht auf – sind unzufrieden mit der etablierten Literatur der Gruppe 47 und suchen neue Orientierungen. Sie fordern, die Literatur müsse sich dem Alltag stellen und gesellschaftliche wie politische Entwicklungen widerspiegeln. Daraus entsteht ein radikaler Subjektivismus, wie ihn etwa Born und Rolf Dieter Brinkmann vertreten. Jungs Aufsatz gewährt einen tiefen Einblick in das literarische Geflecht dieser Zeit und schafft damit eine ausgezeichnete Grundlage für das Verständnis und die Einordnung der nachfolgenden Aufsätze.

Borns großes Thema „Utopie und Realität“ wird aus verschiedenen Blickwinkeln intensiv beleuchtet. So beschäftigt sich beispielsweise Erhard Schütz mit Utopie und Science Fiction in der Erzählung Oton und Iton, Christian Sieg geht Borns Realismus-Kritik und dem utopischen Schreibprogramm des Literaturmagazins nach und Jan-Pieter Barbian widmet sich der Utopie in Nicolas Borns Nachdenken.

Zwischenmenschliche Beziehungen spielten für Born, der sich nie von einer politischen Strömung oder Ideologie vereinnahmen ließ, eine überaus wichtige Rolle. Und so ziehen sich auch Borns Freundschaften und Auseinandersetzungen mit SchriftstellerkollegInnen durch viele Beiträge. Sehr bedeutend war die tiefe Freundschaft, die Born und seine Familie mit Günter und Marianne Kunert von ihrer ersten Begegnung an verband. Auch die Freundschaft zu Peter Handke bestand bis zu Borns Tod, wogegen die Freundschaft mit Rolf Dieter Brinkmann von vielen Aufs und Abs und längeren Sendepausen gekennzeichnet war. Diese Einblicke bringen uns den Menschen Nicolas Born sehr nahe. Das Gefühl der Nähe wird noch einmal vertieft, wenn in den letzten beiden Beiträgen des Bandes Katharina Born aus der Perspektive der Tochter den Weg beschreibt, den der Nachlass genommen hat, bis er schließlich im Archiv der Berliner Akademie der Künste eine gute Heimat fand. Die Archivarin Maren Horn vermittelt schließlich einen lebendigen Einblick in den Nachlass, der dort als Nicolas-Born-Archiv geführt wird und zugänglich ist.

Es wäre schön gewesen, wenn auch Nicolas Borns Lyrik einen ihr gebührenden Raum hätte bekommen können. Diese Lücke ist wohl den Bedingungen einer Tagung zu einem so speziellen Thema geschuldet. Wenn es eine zweite Auflage gibt – was dem Buch sehr zu wünschen wäre –, könnte ein solcher Beitrag vielleicht noch nachgereicht werden. Und als Sahnehäubchen wäre ein Namensindex eine sehr nützliche Bereicherung.

Der sehr sorgfältig und sinnvoll zusammengestellte Tagungsband ist eine höchst ertragreiche Lektüre für alle, die sich mit Nicolas Born und der deutschsprachigen Literatur der 1960er und 1970er Jahre beschäftigen oder die sich dieses Thema erschließen wollen. Mit einem festen Einband, Lesebändchen und vielen Abbildungen – Fotografien, Faksimiles von handschriftlichen Notizen und Manuskripten, Zeichnungen u.a. – ist der Band zudem hervorragend ausgestattet.

Titelbild

Erhard Schütz / Jan-Pieter Barbian (Hg.): Die »Utopie des Alltäglichen«. Nachdenken über Nicolas Born (1937–1979).
Wehrhahn Verlag, Hannover 2019.
320 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783865257369

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