Gefahren an den Grenzen der Wissenschaft

Benjamin Labatuts Roman „Das blinde Licht“ handelt von bahnbrechenden und zugleich zerstörerischen Erkenntnissen

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis zu welcher Grenze reicht der menschliche Verstand? Und was passiert mit denjenigen, die sich an den Erkenntnisgrenzen der Wissenschaft bewegen, sie gar überschreiten und verändern? Benjamin Labatuts neuer Roman Das blinde Licht handelt von Mathematikern, Astronomen, Physikern und Chemikern, die die Welt veränderten. Vier zwischen Essay und Erzählung changierende Texte widmen sich insbesondere dem Wirken von Fritz Haber, Karl Schwarzschild, Werner Karl Heisenberg und Alexander Grothendieck – und der Frage, was ihre Reisen zu den Extremen von Raum, Zeit und Energie für unsere Wirklichkeit bedeuten.

Denn ihre Erkenntnisse waren bahnbrechend und zerstörerisch zugleich. Grothendieck fand ein „Herz im Herzen“, eine „Entität im Zentrum des mathematischen Universums, von der wir nichts kennen außer ihrem mattesten Abglanz“. Heisenberg verstand, welchen Regeln die Vorgänge im Atom gehorchten. Schwarzschilds Singularität ließ Einstein staunen, weil in ihr „die Mathematik der allgemeinen Relativität ihre Gültigkeit“ verlöre.

Doch Schwarzschild musste auch „die Flugbahn von fünfundzwanzigtausend mit Senfgas gefüllten Granaten berechnen“. Fritz Habers Experimente führten zur Entwicklung von Giftgas als Massenvernichtungswaffe. Heisenbergs Gleichungen ermöglichten den Bau der Atombombe. Alexander Grothendieck wiederum stellte die Auswirkungen der Wissenschaft wieder und wieder infrage und zerstörte seine mathematischen Formeln, um die Welt vor ihnen zu schützen.

Die zerstörerische Kraft der alles hinterfragenden Erkenntnisse verändert stets auch den Geist ihrer Entdecker. Schwarzschild veröffentlichte „hundertzwölf Aufsätze“ und suchte manisch „nach einem Ausweg, einem Fehler in seiner Argumentation“. Grothendieck war plötzlich der festen Überzeugung, „dass die Umwelt ein eigenes Bewusstsein habe, das zu schützen er berufen sei“; er begab sich auf einen spirituellen Weg, der ihn weit vom Menschenverstand entfernte. Heisenbergs Geist stellte im Fiebertraum „seltsame Verbindungen her, mit denen er ohne irgendeinen Zwischenschritt zu Ergebnissen gelangte“. Er arbeitete auf Helgoland tage- und nächtelang durch, bis die Wirtin ihn aus dem Zimmer hinauskomplementierte, weil es schon nach Tod rieche.

Es ist aber völlig unerheblich, ob hier impulsive und obsessive Genies oder verwirrte Geister am Wirken waren. Während die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn verschwimmt, wird der Blick auf einen Raum eröffnet, den normale Menschen nicht sehen können, darauf, was ein „unendlich dichter Punkt“ ist oder wie die Bewegung eines Elektrons in einem Atom zu fassen sein könnte. Der Leser ahnt, was es bedeutet, sich schlingernd zwischen Erleuchtung und Paranoia „an beiden Enden der Zeit“ zu befinden.

Die Wissenschaftler in Benjamin Labatuts Roman fragen sich, wie sie etwas erdenken können, das sie selbst kaum oder auch gar nicht verstehen. Heisenbergs Ideen und Formeln waren „so verdammt komplex, dass nur eine Handvoll Physiker etwas mit ihnen anzufangen wusste“. Und so lässt der Autor beispielsweise Niels Bohr und Werner Heisenberg im Winter 1926/27 in Kopenhagen gemeinsam über die Gleichungen nachdenken. Nach Heisenbergs Kalkulationen machte die Quantentheorie nur Sinn, wenn man auf die exakten, festen Bahnen der klassischen Physik verzichtete. Heisenberg und Bohr diskutieren im Roman, während sie durch den Schnee laufen, Relationen von Materieteilchen. Sie erklären, dass man mit unscharfen Spuren arbeiten muss und dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Sie erörtern die Folgen dieser Entdeckung, die heute als Unbestimmtheitsrelation bekannt ist.

Das Zusammentreffen der Wissenschaftler im Kopenhagener Winter ist historisch belegt. Wie sich Bohr grübelnd in den Schnee setzt und Heisenberg ausfragt, ist jedoch Fiktion. Über die Erzählung wird ein Zugang dazu ermöglicht, wie zwei Ansätze der Quantenmechanik unsere moderne Welt geformt haben. Der fiktionale Zugang schafft eine besondere und den Leser fesselnde Nähe, ist dabei jedoch keineswegs nur ästhetischer Selbstzweck. Er erlaubt einen Erkenntnisgewinn über Forschungswege und gesellschaftliche Lebenswirklichkeiten. Es entsteht somit eine neue Bedeutungsebene. Benjamin Labatut macht sich Gedanken um die Bedingungen, unter denen wissenschaftlicher Fortschritt entsteht. Fakten bilden nie die gesamte Geschichte ab, sagte er in einem Interview mit dem Suhrkamp Verlag, das auf Youtube veröffentlicht ist. Er ist augenscheinlich fasziniert von der Kreation, dem unbegreiflichen Prinzip, nach dem der Verstand Gleichungen „dem Nichts entreißen“ kann. Deswegen lässt er die Fakten in seinem Roman Das blinde Licht lebendig werden. Der Roman ist ein Spiel mit dem Unfassbaren.

Labatuts Bewunderung für die Wissenschaft, sein positives Deutschlandbild und die Idealisierung Österreichs, die sich im Roman finden, wird dabei durch die Kritik an den schrecklichen Konsequenzen der Forschungen überschattet. Vielleicht ist es Zufall, dass Schwarzschild während der Jahre an der Universität Göttingen lehrte, in denen auch Carlos Grandjot dort geprägt wurde, der hernach nach Chile ging und sich dort um den Ausbau der exakten Wissenschaften verdient machte. Benjamin Labatut, der mit seiner Familie in Santiago de Chile lebt, weiß um den Einfluss der interdisziplinären Göttinger Arbeitsweise auf die dortige Entwicklung der Wissenschaften seit den 1920er Jahren, in denen das Land begann, ausländische Gelehrte anzuwerben. Bis heute besteht eine enge Verbindung zwischen deutschen und chilenischen Universitäten, mit einem besonderen Fokus auf Mathematik. Chile ist das lateinamerikanische Land mit der im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zweithöchsten Anzahl von Studierenden an deutschen Universitäten, was sich auch mit einem selbst in Lateinamerika außergewöhnlich positiven Deutschlandbild erklären lässt.

In Chile steht heute das produktivste bodengebundene Observatorium der Welt. Das sichtbare Licht im Universum wird dort unter besonders günstigen Bedingungen beobachtet und erforscht. Was im Unbekannten noch gefunden wird und was die Menschheit daraus macht, das liegt noch im Dunkeln. Der Anteil Chiles daran könnte jedenfalls bedeutsam sein. In Das blinde Licht wird ein faszinierender „Fächer an Möglichkeiten“ für die Zukunft der Wissenschaften vorhergesagt.

Labatuts Erzählungen entwickeln daher eine starke Sogwirkung. Wie im Rausch muss das Buch geradezu verschlungen werden. Dass auch der japanische Mathematiker Shinichi Mochizuki – wie im Roman zu lesen ist – völlig verstört war und stammelte, als er nach Grothendiecks Tod 2014 dessen Gedankengänge nachvollzog, beruhigt den Leser dabei kaum. Er ist verdammt dazu, die Physiker beim Sortieren ihrer Gedanken zu beobachten und muss erkennen, dass die Hoffnung, Genies mögen verantwortungsvoll mit ihrer Forschung umgehen, vermutlich ein frommer Wunsch bleiben wird.

Titelbild

Benjamin Labatut: Das blinde Licht. Irrfahrten der Wissenschaft.
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
187 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429228

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