Vorhang auf! für neue Stücke

Dreißig Wiederentdeckungen für das Theater in dem Buch „Spielplanänderung“, herausgeben von Simon Strauß

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch plädiert, wie im Titel programmatisch angekündigt, für neue Stücke auf den deutschen Bühnen. Dazu macht es überraschende und interessante Vorschläge mit Texten jüngerer und älterer Stückeschreiber*innen. Sie werden – der eigentliche Clou des Buches – von verschiedenen, zum Teil namhaften Theaterleuten, Autor*innen und Kritiker*innen knapp – meist auf etwa vier Seiten – vorgestellt.

Enzensberger, Kehlmann und Dietmar Dath sind darunter, die Schriftstellerin Nino Haratischwili, Schauspieler*innen wie Dörte Lyssewski und Johanna Wokalek, Fabian Hinrichs und Burghart Klaußner, Dramaturgen wie Carl Hegemann und Bernd Stegemann sowie natürlich Redakteur*innen, Wissenschaftler*innen und andere, deren Metier das Theater ist. Diese Namen allein machen neugierig auf das, was den Theatern empfohlen wird.

Und in der Tat: Viele der Vorschläge überraschen. Wer außer den Experten hätte je von einer Dramatikerin wie Aphra Behn, die als erste „Berufsschriftstellerin überhaupt“ bereits im 17. Jahrhundert vom Stückeschreiben leben konnte, gehört? Und wer kennt Dagny Juel, Anna Gmeyner oder Dramatiker wie Max Herrmann-Neiße und Gustav Wied? Natürlich werden auch bekanntere Namen vorgestellt. Aber wer hätte je Inszenierungen von Jakob Michael Reinhold Lenz‘ Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi gesehen oder George Sands Gabriel, Die rote Mühle von Ferenc Molnár oder Der arme Bitos oder Das Diner der Köpfe von Jean Anouilh?

Das Buch Spielplanänderung begnügt sich nicht mit einigen Korrekturen am Theaterbetrieb, sondern stellt mit seinem ganz anderen Spielplan die Aufführungspraxis der Theater grundsätzlich in Frage. Beim Alten soll, so der Grundtenor des Buchs, nur wenig bleiben oder – besser noch – fast nichts.

Und noch etwas überrascht: Die Theaterleute empfehlen Werke, die zum großen Teil im 19. Jahrhundert und früher entstanden sind. Dreizehn Texte stammen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nur drei Dramen entstanden nach 1950. Modernere Werke oder gar zeitgenössische Texte fehlen bei den Vorschlägen ganz. Könnte es sein, dass darin so etwas wie „kleine Fluchten“ in vergangene, überschaubarere Zeiten zum Ausdruck kommt? Liegt darin vielleicht eine weitgehende Ablehnung zeitgenössischer Dramatik überhaupt? Ist das Misstrauen der Autor*innen des Buches gegenüber den Spielplänen so groß, dass sie in dem, was in den letzten siebzig Jahren für die Bühne geschrieben wurde, in keiner Weise fündig werden? Wollen sie wirklich ein ganz anderes Theater als das, was landauf und landab in jedem Jahr Tausende in die Vorstellungen zieht und immer wieder auch von den Kritikern gelobt wird?

Auf solche Fragen und andere geht der Herausgeber des Buches, Simon Strauß, Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in seinem Vorwort ein. Er fährt dort ziemlich schwere Geschütze gegen den Theaterbetrieb in Deutschland auf. Mit scharfen Worten beklagt er die gängige „Einfallslosigkeit“ bei der Auswahl der Stücke. Man scheint sich, so schreibt er, „in den Dramaturgien unserer Stadt- und Staatstheater darauf geeinigt zu haben, lieber die altbekannten Klassiker zu spielen und hin und wieder ein paar neue Dramatisierungen von allgemein beliebten Stoffen dazwischenzuschieben. Aufregende Programmgestaltung sieht anders aus.“ Und er redet abwertend von den „‚Altprogrammen‘ mit ihren Woyzecks, Macbeths und Handlungsreisenden“ und plädiert beredt für einen Gegenkanon: „Diese Anthologie präsentiert dreißig Stücke, die das Theater heute braucht.“

Die Vorwürfe, die Simon Strauß vorbringt, sind nicht neu, recht klischeehaft und spiegeln nur in Einzelfällen, nicht insgesamt die Kunstform Theater wider, wie sie auf den deutschen Bühnen in jeder Spielzeit häufig genug zu bestaunen ist. Das gilt für die bekannten Theater in den großen Städten, aber ebenso für die in den mittleren und kleinen Orten. Nicht nur in Berlin und München wird gutes Theater geboten, auch in der sogenannten Provinz kann man hervorragende Aufführungen erleben. Und die tausendste Inszenierung von Macbeth oder Hamlet kann, wie bei der Auswahl zum Theatertreffen 2020 demonstriert wurde, aufregend neu sein und für die Besucher zu einem Theatererlebnis werden.

Botho Strauß hat übrigens im Schlussteil des Buches, überschrieben mit „Zugabe“, gespürt, dass nicht alles Herkömmliche von den Bühnen verschwinden darf, sondern eher neu entdeckt werden müsse. Er macht neugierig auf drei tragisch-dramatische Stücke von Shakespeare um Liebe und Machtgelüste, von denen mindestens eins nicht ganz selten inszeniert wird: Othello, „der furchtbar Gehorsame, der Verhängnishörige“, wie Strauß schreibt.

Die dreißig Stücke, die das Buch vorschlägt, können das Theater nicht gänzlich neu erfinden. Aber – und das ist das Verdienst der Veröffentlichung –  unter den Empfehlungen sind Texte, die eine echte Neuentdeckung darstellen und jeden Spielplan in der Tat vielfältiger, entdeckungsfreudiger und spannender gestalten würden. So wirbt der Autor und Redakteur Paul Ingendaay für den Text Fuente Ovejuna aus dem Jahr 1619 des spanischen Vielschreibers Lope de Vega (1562 – 1635). Sein Stück handelt von einem Dorf, das geschlossen gegen die Obrigkeit, von der es unterdrückt und geknechtet wird, rebelliert und einen der Unterdrücker tötet. Den Richtern gelingt es bei der Untersuchung des unerhörten Vorfalls nicht, die Tat einzelnen Dorfbewohnern anzulasten. Auch unter Folter bleiben diese solidarisch und wiederholen immer den vorher abgesprochenen Satz: „Fuente Ovejuna hat es getan.“ Dem König bleibt am Ende nur die Möglichkeit, alle freizusprechen.

Brecht hätte das Stück wahrscheinlich für bühnentauglich gehalten. Rainer Werner Fassbinder hat es 1970 in Bremen als 68er-Drama inszeniert. „Man würde das Drama heute“, so schließt Ingendaay sein überzeugendes Plädoyer für Lope de Vegas vierhundert Jahre alten Text, „gern offener vorgeführt bekommen, provozierender, undogmatischer, dann könnte Fuente Ovejuna viel mehr sein: eine Reflexion über Gewalt, politisches Kalkül und Mitläufertum, über bürgerliches Engagement in vorbürgerlichen Zeiten und die Schranken der Macht.“

Das jüngste Stück, das in Spielplanänderung vorgestellt wird, ist Terrence McNallys Frankie und Johnny. Es wurde 1987, in den beginnenden „Aids-Jahren“, in denen Sex und Tod eine ängstigende Verbindung eingingen, in New York uraufgeführt. Nach anfänglichen Erfolgsjahren verschwand das Stück wieder von den amerikanischen und europäischen Bühnen. Die Autorin und Redakteurin Verena Lueken weist darauf hin, dass es vor kurzem eine Inszenierung in New York erlebte und sich auf der Bühne, so ihr Eindruck, als „erstaunlich unverstaubt“ erwies. Zwei Menschen verbringen eine Nacht miteinander. Am anderen Morgen möchte der Mann die Frau, eine Zufallsbekanntschaft, nicht einfach gehen lassen. Er spürt, dass sie vielleicht die Liebe seines Lebens sein könnte. Sie dagegen will ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben. So entwickelt sich auf der Bühne ein spannungsgeladenes Gespräch über Liebe, Freiheit und das Leben überhaupt. Es geht im Grunde um die Frage, „ob die miesesten Erfahrungen eines Lebens mit Versprechen, für die nur die richtigen Wörter gefunden werden müssen, überschrieben werden können. Ob wenigstens der Versuch dazu gewagt wird. Ob Wörter eine Zukunft evozieren können, von deren Möglichkeit ein Mensch, eine Frau in diesem Fall, zu überzeugen ist.“

Frankie und Johnny ist „eine Mischung aus romantischer Komödie und pathetischer Vergeblichkeitsparabel, wie geschaffen für eine Zeit allgemeiner Verunsicherung und Neuverhandlung von Geschlechterrollen.“ Diesem Wortstreit um die Liebe „für eine Weile zuzuschauen, zuzuhören“, so schließt Lueken ihre Darlegung, „das wäre was. Schauspieler und Schauspielerinnen, die das spielen, die das auf Deutsch sprechen können, gibt es genug.“

Zwischen diesen beiden Stücken, die fast vierhundert Jahre trennt, die aber dennoch beide für unsere Welt im 21. Jahrhundert geschrieben sein könnten und uns – dessen sind sich diejenigen, von denen die Empfehlungen stammen, sicher – ansprechen und berühren können, gibt es in Spielplanänderung andere aufregend neue Texte zu entdecken.

Da ist zum Beispiel Pablo Picassos Groteske Wie man Wünsche beim Schwanz packt. Sie führt zurück in die Zeit der deutschen Besatzung von Paris in den 1940er Jahren und weist mit ihrer überbordenden Phantasie und einer Vielzahl „verrückter“ Einfälle voraus auf die Theaterstücke und Filme der 1950er und 1960er Jahre, die mit Mitteln des Absurden und Surrealen, des Überraschenden, des scheinbar Zusammenhanglosen und Unbegreiflichen arbeiteten.

Hubert Spiegel, Literaturwissenschaftler und Redakteur, setzt sich für dieses Stück ein und macht mit zwei Hinweisen neugierig auf Picasso als Dichter. Da das Stück im besetzten Paris nicht gezeigt werden durfte, fand am 14. Mai 1944 eine Lesung in einer privaten Wohnung in Paris statt. Leserollen übernahmen unter anderem Jean Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Dora Maar, Picassos langjährige Gefährtin, und Raymond Queneau. Regie führte der große Widerständler, Romanschriftsteller, Dramatiker und Philosoph Albert Camus. Und ein weiteres Detail ist in Spiegels Anmerkungen höchst interessant. Der den Text ins Deutsche übertragen hat, war kein geringerer als Paul Celan. Sein Name allein verbürgt bereits die literarische Qualität des Stücks.

Alles, was mit dem Text verknüpft ist, so schließt Spiegel seine Empfehlung, gehört „auf die eine oder andere Weise zu dem Panorama, das wir, wenn wir wollen, in diesem kleinen Drama, diesem irrlichternden kleinen Splitter der Theatergeschichte, erkennen können“. Könnte es eine bessere Werbung für eine Aufführung des Stücks geben als die Namen, die dem Stück eine besondere Aura geben und es dadurch adeln?

Mehrere unkonventionell lebende und längst vergessene Dramatiker*innen werden in Spielplanänderung den Dramaturg*innen ans Herz gelegt. Dazu gehört zum Beispiel die Norwegerin Dagny Juel, die sich mit dem Stück Der Stärkere (1896) radikal gegen die bürgerlichen Konventionen, die bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein das Verhältnis zwischen Mann und Frau regelten, zur Wehr setzt. Alles in ihrem Werk dreht sich „um die nicht zu bändigende Macht der Liebe“. Drei Tage vor ihrem 34. Geburtstag wird sie erschossen. Ihr liebloser Mann kommentierte ihren dramatischen Tod mit den Worten, er sei froh, sie endlich losgeworden zu sein. Auch in Der Stärkere geht es um Lieblosigkeit und Sterben, um starke Frauen und gefühlsarme Männer, die der Macht der Liebe nicht gewachsen sind.

Die erfolgreiche Schriftstellerin und Theaterschaffende Nino Haratischwili macht sich für das Stück Medea von Hans Henny Jahnn aus dem Jahr 1926 stark. Für sie sticht seine Dramatisierung des antiken Stoffes aus den vielen vorliegenden Bearbeitungen heraus. Sie ist verstörender, uneindeutiger, „will abstoßen, aufwühlen, irritieren.“ Jahnns Medea, so fasst Haratischwili ihre Empfehlung zusammen, „ist [ein] Abgrund und zwingt uns, in das Gesicht der Barbaren zu blicken, nämlich in unser eigenes.“ Das Stück wurde in den 1920er Jahren wegen seiner „Wildheit“ abgesetzt. Könnten wir heute das Stück ertragen? Was würde die bürgerliche Presse darüber schreiben?

Und es gibt in dem Buch Weiteres zu entdecken: Stücke von Gryphius, von Kotzebue, dem heute weitgehend unbekannten Dramatiker, von Byron, für dessen Text Sardanapal der Schauspieler Fabian Hinrichs in einem langen, aber nicht zu langen Text mit guten Argumenten wirbt; auch von George Sand zum Beispiel oder von George Bernard Shaw, von Leonore Carrington und Marieluise Fleißner, die seinerzeit von Brecht gefeiert wurde, von Jean Anouilh, der immer nur mit seiner Antigone auf der Bühne vorkommt, und von Else Lasker-Schüler, für deren Wupper die Schauspielerin Johanna Wokalek einfühlsame und ausdrucksstarke Worte findet.

Das Theater wird man mit diesen Stücken und den anderen, die Strauss’ Buch präsentiert, nicht neu erfinden können. Das ist auch nicht notwendig. Das Theater lebt, auch wenn ein erfahrener Dramaturg wie Carl Hegemann oder die Schriftstellerin Nino Haratischwili in ihren Beiträgen viel Kritisches über das Verhältnis zwischen Theater und Publikum schreiben. Das Buch kann und will eigentlich etwas anderes: Es bietet interessante Ergänzungen zu den gängigen Spielplänen und müsste deshalb von vielen Theatermachern als Ideenbörse begrüßt werden. Neues auf den Bühnen kann nicht schaden. In Spielplanänderung können viele Theaterschaffende Aufregendes, Anregendes und Spannendes für ihre Arbeit entdecken. „Lust auf ein ausgefallen literarisches Theater“ und auf neue, ungespielte Stücke macht das Buch in jedem Fall.

Titelbild

Simon Strauß: Spielplan-Änderung! 30 Stücke, die das Theater heute braucht.
Tropen Verlag, Stuttgart 2020.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608504576

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