Lesen, lesen, lesen!

Ein Gespräch mit Linus Guggenberger, Lektor im Verlag Klaus Wagenbach, über die neuesten Entwicklungen der Literatur in Lateinamerika

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Linus Guggenberger (*1987) hat Deutsche Philologie und Politikwissenschaft in Berlin und Rom studiert. Schon während des Studiums begann er für den Wagenbach Verlag in Berlin zu arbeiten. Seit 2017 ist er dort Lektor, zunächst mit Schwerpunkt auf spanischsprachiger Literatur, seit vergangenem Jahr auch für die italienische zuständig. Zu den von ihm betreuten spanischsprachigen Autor*innen gehören unter anderem Martín Caparrós, Fernanda Melchor, Sara Mesa, Pola Oloixarac, Lucía Puenzo sowie moderne Klassiker wie Roberto Arlt und Sara Gallardo.

 

Welche Rolle spielt das lateinamerikanische Programm bei Wagenbach?

Eine sehr wichtige Rolle, und ich würde sagen, auch eine wachsende Rolle. Sie wissen ja wahrscheinlich, dass Heinrich von Berenberg als Erster hier angefangen hat mit spanischsprachiger Literatur, und seither wurde das stetig weitergeführt.

Neben Italienisch – dem Schwerpunkt unseres literarischen Programms – ist Spanisch wahrscheinlich die Sprache, in der wir gerne mithalten möchten, was die wichtigsten Neuerscheinungen angeht. Für Englisch und Französisch gibt es selbstredend viele Verlage und Lektor*innen, die Texte im Original lesen können; bei Italienisch und Spanisch sind es bereits deutlich weniger. Wir versuchen uns auch durchaus darauf zu konzentrieren: Italienische Literatur ist schon sehr lange ein Schwerpunkt, Spanisch aber ebenfalls seit etwa 30 Jahren. Man kann es nicht gut beziffern, weil es stets variiert, aber ich würde sagen, wir haben eigentlich immer einen bis drei spanischsprachige Titel pro Halbjahr im Programm. 

Das ist jetzt eine etwas schwierige Frage, weil so viele Faktoren eine Rolle spielen: Wie wählen Sie denn die Texte und Autoren aus? Wie kann man sich das vorstellen, gerade bei einem kleineren Verlag wie Wagenbach?

Lesen, lesen, lesen. (lacht)

Wir arbeiten, anders als größere Verlage, nicht mit Scouts und auch selten mit Begutachtenden und sind dann natürlich auf den eigenen Leseeindruck angewiesen. Dafür sprechen wir innerhalb des Lektorats viel und ausführlich über das, was wir gelesen haben. Ich stehe in laufendem Kontakt mit Verlagen und Agenturen, die sich um den spanischsprachigen Raum kümmern. Es kommt auch immer häufiger vor, dass ich Autor*innen direkt frage, was sie gelesen haben, um zu erfahren, was sie gut fanden. Dazu kommen noch Tipps von Übersetzer*innen, manchmal durchaus auch von befreundeten Lektor*innen aus dem Ausland – also aus den USA, Frankreich oder Italien –, mit denen man nicht in direkter Konkurrenz steht und sich dann ganz gerne mal über Leseeindrücke austauscht.

Und dann lesen Sie die Sachen, denken ‚Das könnte vielleicht was sein‘ und schauen schließlich, ob man das bekommen kann?

(lacht) Wenn man es herunterbricht, ja. Dabei spielt bis zu einem gewissen Grad natürlich auch immer der subjektive Geschmack eine Rolle, aber trotzdem haben wir ja einen bestimmten Programmfokus, ein bestimmtes Verlagsprofil. Wir suchen nicht unbedingt Genre-Literatur. Wir suchen Literatur mit Anspruch, durchaus auch mit einem politischen Blick oder einer politischen oder historischen Perspektive auf die einzelnen Länder oder auf bestimmte gesellschaftliche Themen. Denkt man zum Beispiel an Fernanda Melchor mit Saison der Wirbelstürme, ist es dort vor allem die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen, die ich als unheimlich einprägsam empfand, neben der Sprachgewalt, die dieses Buch natürlich auch auszeichnet.

In anderen Fällen ist das ähnlich: María Gainza hat mit ihrem Buch Lidschlag zwar nicht unbedingt einen politischen Zugriff, aber es ist fantastisch erzählt und passte auf diese Weise für mich gut in unsere SALTO-Reihe, in der wir einige exzentrische Erzählerinnen haben.

Oder Pola Oloixaracs Kryptozän: Das ist der erste Hacker-Roman oder, besser gesagt, der erste Bildungsroman eines Hackers. Hier war dann wieder das Thema ausschlaggebend und weniger der lateinamerikanische Hintergrund. Aber im Grunde genommen geht es um den literarischen Anspruch, um die sprachliche und erzählerische Originalität – und dann eben auch darum, ob wir es kriegen können. Ein verhältnismäßig kleiner Verlag wie Wagenbach bekommt natürlich auch nicht alles, was er haben möchte…

Das kann ich mir vorstellen. Gibt es dabei bestimmte Länderpräferenzen?

Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich persönlich kein großes Interesse an Argentinien habe. Das ist aber auch biografisch begründet, weil ich häufig dort war. Aber ich versuche natürlich, literarisch auch andere Länder zu erschließen, insbesondere auch solche, aus denen man hier wenig bis gar keine Texte kennt. Rita Indiana aus der Dominikanischen Republik zum Beispiel ist, glaube ich, eine von ganz wenigen Autor*innen, die aus diesem Land übersetzt wurden. Gerade die Karibik ist immer noch extrem unterrepräsentiert. Der Unionsverlag und Litradukt haben ein paar karibische Autor*innen im Programm, aber sonst gibt es da wenig.

In letzter Zeit lese ich viel aus Kolumbien, was auch daran liegt, dass es dort eine sehr lebhafte unabhängige Verlagsszene gibt. In den lateinamerikanischen Ländern ist es so: Es gibt die zwei großen Verlage – Planeta und Penguin Random House –, die sich im Grunde nach und nach alles einverleibt haben, was mit der Zeit ein bisschen größer wurde, und ein paar größere spanische Verlage mit eigenem Vertrieb in Lateinamerika. Jenseits dessen gibt es aber auch unheimlich viele interessante Neugründungen in den letzten Jahren, die ein tolles Programm machen. In Argentinien sowieso, aber auch in Chile und Kolumbien. Da gucke ich dann schon genauer hin, was unabhängige Verlage anderswo machen.

Wie sieht es denn aus, wenn sie es dann bekommen können? Zum einen: Wie sieht die Konkurrenzsituation mit anderen Verlagen aus? Und zum anderen: Es wird ja nicht mehr so viel veröffentlicht wie vielleicht noch vor zehn bis 15 Jahren, von den ganz großen Nummern abgesehen – wie sieht denn die Konkurrenzsituation gerade in diesem Kontext aus?

Das ist komplex. Ich würde sagen, dass das Interesse wieder zunimmt, was auch ein bisschen damit zusammenhängt, dass vor allem das Interesse im englischsprachigen Raum zusehends wächst. Wenn man die aktuellen Nominierten für den International Booker Prize anschaut, finden sich da drei Lateinamerikanerinnen auf der Longlist und jetzt immer noch zwei auf der Shortlist. Ich glaube, letztes Jahr waren auch bereits zwei auf der Shortlist. Fernanda Melchor hat 2019 den Internationalen Literaturpreis vom HKW gewonnen. Der beschworene weibliche Boom der letzten Jahre spielt da mit Sicherheit auch eine Rolle.

Nun ist es so, dass – das ist eine Schätzung, genau weiß ich das nicht –, man auf ein bisschen mehr als ein Dutzend Verlage im deutschsprachigen Raum kommt, wo die einkaufenden Lektorinnen und Lektoren wirklich gut Spanisch im Original lesen. Das sind diejenigen, die den lateinamerikanischen Markt auch in seinen Nischen dauerhaft im Blick haben. Außerdem gibt es natürlich bestimmte Bücher, die von Scouts, Agenturen oder größeren Verlagen angeboten werden, bei denen dann plötzlich alle mit dabei sind, weil sie die Möglichkeit erkennen, dass das ein Bestseller werden könnte. Aber Suhrkamp, Hanser, Rowohlt, Klett-Cotta, Luchterhand, Ullstein haben alle Lektor*innen, die Spanisch lesen. Und dann gibt es eben noch die Kleineren, wie uns, Kunstmann, Berenberg, Unionsverlag, die das auch im Blick haben oder einen Schwerpunkt darauf setzen.

Unabhängig davon denke ich auch, es kommt jetzt einfach wieder mehr. Man hatte bei Hanser Aura Xilonen mit dem Gringo Champ; bei Aufbau kommt eine Kolumbianerin – Pilar Quintana. Suhrkamp macht ja laufend lateinamerikanisches Programm, wir machen das, Berenberg auch, Rowohlt hat auch immer ein Auge darauf. Mariana Enríquez, eine Argentinierin, kommt mit einem großen Roman bei Tropen. Das Interesse ist schon da. Es gab auch eine Lektor*innenreise vergangenen Winter anlässlich des geplanten Buchmessen-Schwerpunkts zu Spanien 2021, und da wurde deutlich, dass auch die großen Verlage genau beobachten, was in Sachen spanischsprachiger Literatur passiert. 

Sie haben schon erwähnt, dass die neue Literatur von Frauen eine große Rolle in Lateinamerika spielt. Sehen Sie auch andere Trends in der lateinamerikanischen Literatur?

Ich tue mich immer ein bisschen schwer mit Trends, aber ich würde zum erwähnten weiblichen Boom noch eine Sache sagen. Das eigentlich Interessante daran ist ja, dass es sich um eine Generation von Schriftstellerinnen handelt, die, sagen wir mal, ab Mitte der 70er bis Mitte der 80er geboren sind, und einen fast historisierenden bzw. spielerischen Umgang mit der Boom-Literatur, die ja sehr männlich geprägt war, pflegen. Da wird mitunter auch versucht, aus den Leerstellen, die diese männlich dominierte Literatur hinterlassen hat, heraus zu erzählen. Da gibt es keine Totalablehnung mehr wie bei der Post-Boom-Generation. Bei Rita Indiana ist es fast eine Art Sampling des magischen Realismus. Pola Oloixarac baut ganz selbstverständlich Borges-Referenzen ein, ohne dass sie sich daran total abarbeiten muss. Fernanda Melchor nennt den Herbst des Patriarchen von García Márquez sogar als Vorbild, das wäre vor zehn, zwanzig Jahren unmöglich gewesen. Es gibt einen freien Umgang mit dieser literarischen Tradition, ohne sich auf sie festnageln zu lassen.

Ansonsten denke ich, dass es auch vermehrt Titel gibt, die mit diesen folkloristischen und Narco-Klischees ein wenig aufräumen wollen. Wir hatten einen Fall, eben bei Fernanda Melchor, die sehr glücklich war, dass auf ihrem Buch kein Totenkopf zu sehen ist, weil ja eigentlich alle Bücher von mexikanischen Autor*innen, wenn sie in Deutschland veröffentlicht werden, vorne einen Totenkopf drauf haben.

Was gibt es noch für Trends? Das hängt natürlich auch vom jeweiligen Land ab. Ich habe den Eindruck, dass es auch häufig amerikanische Vorbilder gibt. Ich weiß nicht, ob man da jetzt schon mit Serien-Erzählweisen anfangen kann, aber es gibt auf jeden Fall einige Autor*innen, die nebenher auch für Netflix schreiben. 

Darauf wollte ich auch hinaus, weil ich in der letzten Zeit doch einige Sachen gelesen habe, die tatsächlich sehr in diese Richtung gingen. Sehr amerikanische Schreibweise, die beeinflusst ist von Film- oder von Serienästhetik. Etwa Der Wilde von Guillermo Arriaga oder Das geschwärzte Notizbuch von Nicolás Giacobone, beides ja berühmte Drehbuchautoren. Und Eichborn hat gerade die Krimis von dem argentinischen Mathematiker Guillermo Martínez veröffentlicht. Ich wollte darauf hinaus, wie populär diese Genres mittlerweile in Lateinamerika zu sein scheinen…

Mit dieser Genre-Literatur kenne ich mich tatsächlich zu wenig aus, muss ich gestehen. Ich habe den Eindruck, dass es in dem Bereich sehr viele Lateinamerikaner*innen gibt. Ob das jetzt Action-Krimis sind oder eben diese ganzen Narco-Geschichten oder auch klassischere Kriminalromane – da gibt es viel. Aber das schaue ich mir als Lektor nicht im Detail an, weil es nicht das ist, was uns bei Wagenbach interessiert. Gerade haben wir allerdings einen literarischen Krimi im Programm, Väterland von Martín Caparrós – das ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Journalisten Lateinamerikas, der auch Romane schreibt, und jetzt mit deutlich lesbarem Vergnügen einen Krimi à la Andrea Camilleri geschrieben hat. Eigentlich ist das Buch natürlich aber eine satirische Abrechnung mit dem Argentinien der 30er Jahre.

Ja, auch das haben wir in unserer Sonderausgabe besprochen

Das ist nicht im engeren Sinne Genre-Literatur und auch nicht der Versuch, bestimmten Trends nachzugehen. Ich würde sagen, dass es sich bei vielen Texten um eine Auseinandersetzung mit den literarischen Traditionen aus Lateinamerika selbst handelt. Es gibt beispielsweise einen Fall, ein Roman von Gabriela Cabezón Cámara: Las Aventuras de la China Iron – ich bezweifle aber, dass er ins Deutsche übersetzt werden wird, ich halte ihn für schwer vermittelbar. Der ganze Witz des Buches erschließt sich überhaupt nicht für jemanden, der sich mit argentinischer Mythologie nicht auskennt. Die englische Ausgabe ist jetzt für den Booker Prize nominiert. Die Autorin greift sich eine in wenigen Versen abgehandelte Frauenfigur aus dem Martín Fierro, dem argentinischen Gaucho-Nationalepos, und erzählt deren Geschichte, erzählt damit aber zugleich auch eine alternative Gründungsgeschichte Argentiniens, eine Art queer-feministische Aneignung dieses Nationalmythos. Die Provokation dieses Buchs versteht aber, glaube ich, kein Mensch, der den Martín Fierro nicht wirklich gut kennt.

Ich denke auch, dass die Vermittelbarkeit von argentinischer Literatur in Deutschland eine gewisse Problematik mit sich bringt. Gerade in den Nullerjahren hat man ja sehr sehr viele von diesen historischen Themen gehabt, die sich mit der Militärdiktatur beschäftigten. Das sind natürlich Sachen, die auch zum Teil übersetzt worden sind. Die man aber gleichzeitig gar nicht verstehen kann, ohne den ganzen Hintergrund zu kennen. Ich meine, im Vergleich dazu liest sich eine mexikanische Drogenmafiageschichte, auch wenn da sehr viele Anspielungen drin sind, viel viel leichter. Mit einer Adaption des Martín Fierro als Gründungsepos kann man hierzulande wahrscheinlich gar nichts anfangen.

Nein, überhaupt nicht.

Obwohl der Roman – ich kenne ihn nicht – auf anderen Ebenen sicherlich auch funktioniert. Das ist dann vielleicht schon ein Problem, jetzt wo der Exotismus weggefallen ist, den wir in den 80ern vielleicht und in den 70ern noch in Bezug auf die Vermittlung lateinamerikanischer Literatur gespürt haben, oder?

Bis zu einem gewissen Grad würde ich dem zustimmen. Auf der anderen Seite steht die Frage, auf welche Regionen der Welt das nicht unbedingt so zutrifft, jenseits vielleicht der USA. Ich denke, man hat mit afrikanischer Literatur ein ähnliches Problem, wahrscheinlich mit südostasiatischer auch. Da erscheint auch nicht wirklich richtig viel auf den deutschen Markt, und wenn, dann hauptsächlich aus englischsprachigen Ländern wie Nigeria oder Ghana. Es spielt mit Sicherheit eine Rolle bei der Auswahl dessen, was dann gelesen wird. Insbesondere in Bezug auch auf das Beispiel Argentinien – Sie kennen sich ja wahrscheinlich ein bisschen aus in der Verlagswelt von Buenos Aires?

Nein, eigentlich überhaupt nicht.

Unzählige umtriebige Kleinverlage und wunderschöne Buchhandlungen. Lokal werden da natürlich ganz andere Namen gehandelt. Aber das sind Sachen, die überhaupt nicht vermittelbar sind, weil sie zu lokal, zu speziell sind. Es macht Spaß das zu lesen, wenn man sich ein bisschen in Buenos Aires auskennt, aber jenseits davon funktioniert es einfach nicht. Mit Sicherheit gucken wir trotzdem darauf, ob es sich übersetzen lässt – auch auf der sprachlichen Ebene. Fernanda Melchors Roman war so ein Fall, das ist wirklich an der Grenze. Das Vokabular ist unheimlich mexikanisch, aber Angelica Ammar hat das fantastisch übersetzt und verdientermaßen einen Preis dafür bekommen. Doch da trägt zudem noch der Plot, der ist universell verständlich.

Natürlich stellt sich bei der Übersetzung von Literatur immer die Frage: Lässt sich das im erweiterten Sinne in einen anderen Kulturraum via Übersetzung übertragen? Wichtig wäre mir dabei nur, dass wir so etwas Folkloristisch-Exotistisches nicht machen. Es widerstrebt mir, bzw. uns hier insgesamt im Verlag, dass wir folkloristische Klischees perpetuieren und zum hunderttausendsten Mal magischer Realismus sagen, obwohl lateinamerikanische Literatur, wie Sie wissen, weit darüber hinaus geht.

Ja und das ist – und da werden Sie mir mit Sicherheit zustimmen – sicherlich eine Problematik, die auch die Auswahl betrifft. Sie sagten jetzt selbst, Sie kennen sich gut in Argentinien aus und Sie können für sich selbst viele Romane auch lesen und verstehen, aber da ist natürlich auch immer dieser Gedanke: Kann ich das dem deutschen Publikum – zumuten will ich jetzt nicht sagen – aber zutrauen? Auch in Übersetzung muss es ja noch immer ein vernünftiger, rezipierbarer Roman sein…

Mit Sicherheit – aber ein bisschen literarische Überforderung schadet auch nie. Es gibt natürlich Fälle, bei denen ich sagen würde: Der Roman ist auch verständlich für Menschen, die sich in dem jeweiligen Land oder Kulturraum nicht auskennen, und dann gibt es als Surplus für die Kenner*innen noch ganz viele Referenzen. Im Fall von Caparrós’ Väterland macht das natürlich wahnsinnig viel Spaß, wenn man sich in Argentinien ein bisschen auskennt, aber man kann ihn auch so als literarische Krimi-Unterhaltung lesen. Niemand würde nach der Lektüre das Buch zuklappen und sagen: „Ich habe nichts kapiert“. Und das ist bei anderen Büchern leider schon der Fall.

Da muss man eigentlich nur bei diesem Autor bleiben. Er schreibt ja unglaublich umfangreiche Reportagen und unter diesen findet sich zum Beispiel ein Text über Hunger, der sogar bei Suhrkamp erschien. Dann ist da dieses andere Mammutwerk El interior, das von der argentinischen Provinz handelt. Das wurde natürlich nicht übersetzt, weil es in Deutschland niemanden interessiert. So ist er schon ein, in gewissen Kontexten, bekannter argentinischer Autor hier in Deutschland, aber es wird eben längst nicht alles von ihm übersetzt, weil einiges funktioniert und anderes nicht. Oder sehen Sie das anders?

Ich glaube, da muss man unterscheiden: Handelt es sich um Verlage, die insgesamt auf lateinamerikanische Literatur und dann vielleicht auch auf bestimmte Autor*innen setzen, oder ist es einer, der dieses eine Buch macht. Ich glaube, bei Caparrós war es so, dass er mit den drei übersetzten Romanen, Wir haben uns geirrt, Die Ewigen und Valfierno den Premio Herralde oder andere große Preise gewonnen hat. Das war womöglich der Anlass für die Verlage, sich mit dem Buch oder mit dem Autor zu beschäftigen.

Wir versuchen immer Bücher zu veröffentlichen, von denen wir denken, dass sie nicht die einzigen von der Autorin oder dem Autor bleiben werden. Da geht es eher darum, Autor*innen aufzubauen und auch eventuell deren Gesamtwerk lieferbar zu machen. Zum Beispiel Fernanda Melchor – da habe ich das erste Buch gelesen und gedacht: Ja, das ist toll. Die schreibt super. Aber das ist nicht das Buch, mit dem ich die Autorin hier präsentieren kann, und dann kam das nächste und es war klar: Ja, mein erster Leseeindruck hat sich bestätigt. Und jetzt kommt irgendwann ein weiteres. So denken die Lektor*innen in vielen anderen Verlagen allerdings auch: Sie versuchen Autor*innen zu präsentieren und nicht nur einzelne Bücher.