Literarische Landnahme

Jochen Schimmang erzählt von seiner Liebe zu Ostende

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie viele andere haben auch Dichter ihre Sehnsuchtsorte, die sie immer wieder aufsuchen, bisweilen auch als Zufluchten nutzen und überhaupt als Quelle ihrer künstlerischen Inspiration. Für Rilke war es Duino, für Böll wohl Köln. Meistens aber sind die Orte, die sie imaginieren, in ihrer Eigenheit längst vergangen, Sehnsuchtsorte eben. Für Jochen Schimmang ist es Ostende. Mein Ostende, das Possessivpronomen des Titels signalisiert einerseits die innige Beziehung, andererseits aber auch eine Distanz zum heutigen, dem realen Ostende. Warum geht es Schimmang also gerade um jene Stadt an der belgischen Atlantikküste, die für architektonische Ödnis und Massentourismus steht?

Die Zuneigung zu Ostende, die wie jede Liebe in hohem Maße subjektiv ist, begründet Schimmang auf vielfache Weise. Zuerst einmal natürlich durch persönliche Erlebnisse vor Ort, die bis ins Jahr 1966 zurückreichen. Dabei war die Hafenstadt für den damals 18jährigen zunächst nur der Transithafen nach England, vor allem ins Swinging London. Erst in die frühen Achtziger fällt dann das Initiationserlebnis. Spät am Abend aus England ankommend, erfährt Schimmang in einem Hafenrestaurant eine ausnehmend herzliche Bewirtung. Die unerwartete Aufnahme vermittelt ihm das Gefühl eines „plötzlichen Geborgenseins“ und öffnet ihm die Augen für die Besonderheiten der Stadt. Diese wird ihm zum beinahe mystischen Ort „an der Grenze zwischen Land und Meer, einer Grenze, die die beiden Elemente ebenso sehr trennt wie verbindet und äußerst beweglich ist.“ Fortan lädt ihn die Stadt, die überdies 1945 durch das Feuer alliierter Bomben fast gänzlich vernichtet wurde, immer wieder zu „kleinen Fluchten“ ein.

Diese führen den Autor weit zurück in die Geschichte. Die Schichten, die er dabei wie ein Archäologe freilegt, entzünden seine Phantasie, die sich bevorzugt in Randlagen aufhält. Er erklärt die Merkwürdigkeiten des Namens der Stadt an der belgischen Westgrenze und die Eigenarten ihres Wappens, das er mit ganz persönlichen Zutaten, etwa Muscheln, bereichert. Er lässt uns teilhaben an seinen kulturhistorischen Lesefrüchten, etwa über die Entdeckung der Küsten diesseits und jenseits des Ärmelkanals. Besonders fasziniert ihn aber die Vergangenheit als Seebad der Reichen und Schönen während der Belle Époque, von der allerdings heute nur noch Straßennamen und einige wenige Bauwerke zeugen. Die immer noch ausgedehnten Promenaden verführen den Flaneur zu nostalgischen Spaziergängen und zu eleganten und anregenden Plaudereien über Möwen, Sand, das Paradies und deutsche Okkupationen (zwei im 20. Jahrhundert). Außerdem entpuppt sich der Autor als ein Liebhaber des besonderen Augenblicks. Im Sommer bevorzugten auch die belgischen Könige den Küstenort und machten Ostende zur „Königin der Seebäder“. Der Gegensatz zwischen dem ersten König Leopold, dem düsteren „Schlächter des Kongo“, und dem strahlenden Nachfolger und volksnahen Antipoden Albert I. bietet die Gelegenheit zu Reflexionen über politische Zustände, äußere und innere Grenzen und die Welt im Allgemeinen. Aber auch Albert wandelte zeitlebens nahe am Abgrund. Er starb, wie Schimmang hervorhebt, 1934 „bei einem Bergunfall in den Ardennen“. Dort allerdings gibt es im eigentlichen Sinne keine Berge, auf denen man verunglücken könnte; wohl aber wuchtige Felsen, an denen Albert dem Klettersport frönte und gelegentlich gar alleine unterwegs war. Bei diesem für Könige eher ungewöhnlichen Vergnügen stürzte er dann zu Tode.

Dass Ostende in den dreißiger Jahren auch zum Zufluchtsort für viele Emigranten wurde, wie Irmgard Keun oder Joseph Roth, ist dem ansonsten so anekdotenreichen Buch nicht zu entnehmen. Dies ist umso erstaunlicher, weil uns Schimmang, und das wäre eine weitere Begründung seiner Liebe, das Interesse für diesen Ort über Künstler und Literaten vermittelt, die hier geboren wurden oder gelebt haben. So erinnert er in liebevollen Miniaturen an den Maler James Ensor, den Filmemacher Henri Storck und an George Simenon, der in Ostende „zum ersten Mal in seinem Leben die See“ erblickte. Aber auch das eigene Werk spitzt hin und wieder hervor. So lässt er z. B. seinen aus dem Roman Das Beste, was wir hatten bekannten Protagonisten Gregor Korff als Schriftsteller auftreten, der hier Anregungen für eine kleine Kriminalgeschichte findet, die in mehreren Fortsetzungen um einen geheimnisvollen Mann und Mörder aus London kreist.

Am Ende bleibt jedoch in der Schwebe, warum Schimmang in Ostende so oft von einer „massiven Melancholie“ befallen wird. Geschieht dies angesichts der Vergänglichkeit jener Anmut und Schönheit, die der Ort einst repräsentierte, oder angesichts der Hässlichkeit, die von der brutalen, aber immerhin gläsernen Bunkerarchitektur und einem über 104 Meter hohen Wohnturm ausgeht, mit der heute die Masse der Badetouristen ans Meer gelockt werden soll?

Titelbild

Jochen Schimmang: Mein Ostende.
Mare Verlag, Hamburg 2020.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482982

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